Unsere traditionelle
Auffassung vom Leibe leidet unter der dualistischen Vorstellung eines seelenlosen
Körpers, dem eine körperlose Seele gegenübersteht, mit der
er in rätselhafter Weise verbunden ist. Im Hinblick auf den Menschen,
so wie wir ihm begegnen und täglich mit ihm „umgehen“, ihn lieben
oder fürchten, ist diese Trennung nicht aufrechtzuerhalten. Wer hat
jemals einen seelenlosen Körper laufen sehen oder eine körperlose
Seele! Ist die Leiche noch der Mensch?
Fragt man jemanden,
zu dem man spricht, wen er eigentlich höre, den Körper oder die
Seele (ein Drittes gibt es in der traditionellen Auffassung ja nicht),
dann wird man vielleicht die Antwort erhalten: „Die Stimme, die ich höre,
ist etwas Körperliches. Das, was ich höre, ist aber etwas Seelisch-Geistiges,
also höre ich eine Einheit von Körper und Geist bzw. von Seele
und Leib.“ Eine solche Antwort ist ein Krampf, in dem deutlich wird, daß
das unmittelbar Gegebene außer Sicht geriet. Die schlichte Antwort
auf die Frage: „Wen hören Sie?“ muß doch einfach lauten: „Ich
höre Sie!“ Man hört mich, diesen bestimmten jemand, der als solcher
jenseits ist des Gegensatzes von Körper und Seele. Wenn man diesen
jemand in der Wissenschaft vom Menschen so ernst zu nehmen lernte, wie
wir ihn im täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen ernst nehmen,
so begänne in der Geschichte der Erkenntnis, aber auch der Erziehung,
der therapeutischen Behandlung und der geistlichen Führung des Menschen
ein neues Kapitel! Wir sind heute im Begriff, dieses Kapitel zu beginnen.
Wir fangen an, den Menschen ernst zu nehmen als den Jemand, das heißt,
als die leibhaftig uns begegnende Person, die jenseits ist des Gegensatzes
von Leib und Seele oder von Körper und Geist. Dies aber bedeutet auch
eine Wende in der Auffassung des Leibes.
Es ist eine eigentümliche
Tatsache, daß für den Fernen Osten, für dessen Weltanschauung
„Inkarnation“ das Grundübel ist, der Leib als Medium transzendentaler
Transparenz eine maßgebende Rolle gespielt hat, während der
christliche Westen, für den die Inkarnation, die Fleischwerdung des
Geistes, in der Mitte steht, den Leib immer wieder als Widersacher, Hindernis
und Störung auf dem Weg zum Heil empfunden und verurteilt hat. Bestenfalls
hat er eine nur säkulare und pragmatische Bedeutung, Der Leib als
solcher scheint fern von aller geistigen Wirklichkeit. So ist es auch kein
Wunder, daß altöstliche Leibesübungen, wenn sie, wie etwa
das Hatha-Yoga, ihren Einzug im Westen halten, vornehmlich als eine Art
Gymnastik des Körpers gelehrt und geübt werden. Werden sie aber
so verübt, dann ist ihr wahrer, das heißt, ihr initiatischer
Sinn: „Anjochen an das Absolute“, vertan.
Ganz einseitig wird
bei uns der Leib als Instrument verstanden, mit dem man in der Welt bestehen,
sich durchsetzen und etwas leisten muß. So wird er „geübt“,
das heißt trainiert und behandelt wie ein Apparat, der in Ordnung,
haltbar, elastisch und „gut geölt“ sein muß, um leistungsstark
und reibungslos zu funktionieren. Solche „Behandlung“ trifft aber nur den
Körper, den man „hat“. Sein Funktionieren hat, wie große Sportskanonen
oft genug beweisen, meist sehr wenig mit der inneren Reife oder gar dem
initiatischen Weg zu tun. Etwas ganz anderes geschieht, wenn man den Leib,
statt ihn nur auf Funktionstüchtigkeit und Leistungskraft zu trainieren,
in den Dienst der inneren Verwandlung zu stellen versucht. Dann freilich
handelt es sich nicht um den Körper, den man hat, sondern um den Leib,
der man ist. Dies ist eine Unterscheidung, die schon für alle personale,
das heißt den Menschen, nicht nur den Körper meinende Therapie
entscheidend ist. Nicht weniger wichtig wird sie, wo es um die Führung
auf dem inneren Weg geht; denn wie schon zum weltgemäßen Verhalten
des natürlichen Menschen die physische Gesundheit des Körpers
nicht zureicht, so genügt die Beherrschung der „Umgangsformen“ noch
nicht zur leibhaften Be-zeugung des Unbedingten im Raum des Bedingten.
Die im Zeichen des Absoluten geforderte Durchlässigkeit der Form des
Leibes ist etwas anderes und meint mehr als die einer Gemeinschaft oder
einem Werk angepaßte leibhafte Verhaltensform.
Was meint das: Der
Leib, der man ist? Es meint den Menschen, den ganzen Menschen als Person
in der Weise, in der er sich nicht nur erlebt, sondern darlebt, das heißt
dar-leibt. Man kann den Leib nicht nur in gegenständlichem Abstand
als den Körper wahrnehmen, den man hat, dessen man sich wie einer
Sache bewußt werden oder wie eines Instrumentes bedienen kann zu
weltlicher, vielleicht sogar meßbarer Leistung. Man kann und soll
vielmehr sich dessen, was man den Körper nennt, auch inne werden als
des Leibes, der man ist. Das ist der Leib als sinnlich greifbare Gestalt,
in welcher ich als Person in der Welt da bin, von meinen Mitmenschen leibhaftig
wahrgenommen werde und den anderen wahrnehme.
So verstanden ist
der Leib das Ganze der Gestimmtheiten und Gebärden, in denen der Mensch
sich selbst als die ihrer selbst bewußte und zugleich die Welt erlebende
und in ihr handelnde Person fühlt, ausdrückt und darstellt, in
Raum und Zeit besteht oder untergeht, sich zum wahren Selbst hin verwirklicht
oder verfehlt.
Nicht etwa nur „innerlich“,
sondern im Leibe als der Weise, in der man als Person in der Welt sichtbar
und greifbar da ist, ist man auf dem rechten Weg oder nicht, ist man der
Situation gewachsen oder nicht, ist stark oder schwach, im Gleichgewicht
oder labil, dem Leben gegenüber offen oder verschlossen, im Kontakt
oder in Abwehr, angepaßt oder im Wider-spruch, hell oder dunkel,
mit oder ohne „Strahlung“, freundlich oder feindlich – und in alledem in
Einklang mit seinem Wesen oder nicht! Im Leibe auch erkennt man sich selbst
als richtig oder falsch „da“, was auch immer im Augenblick die innere oder
äußere Forderung sein mag. Richtig ist man da, wenn man als
Leib durchlässig ist für sein Wesen, das heißt für
die Weise, in der das Leben in unserer Individualität Gestalt gewinnen
und sich manifestieren möchte hier und jetzt, in diesem Augenblick.
Falsch ist man da in dem Maße, als man als Leib jetzt und hier das
Werden und Sichbezeugen der wesensgemäßen Gestalt verhindert.
Ist einem einmal
die Möglichkeit und die Aufgabe bewußt geworden, sich auch als
Leib seinsgemäß zu verwandeln, dann beginnt ein neues Leben,
denn diese Aufgabe wird zum Begleiter in allen Situationen des Lebens (V,
IX, XVI).
Der Leib, der man
ist, reflektiert in Spruch und Widerspruch den himmlischen und den irdischen
Ursprung des Menschen. So gibt es die Weise, als Leib da zu sein, die mit
ihrer füllehaltigen und warmen Aura und auch im Glanz ihrer wesensgemäß
durchlässigen Form in beglückendem Ausmaß vom himmlischen
Ursprung des Menschen zeugt. Und es gibt jene andere, durch Verkrampfung
und Auflösung im Wechsel bestimmte Weise, da zu sein, die den vom
eigen-sinnigen Ich bestimmten irdischen Ursprung des Menschen widerspiegelt.
Aber nur, wer das Gesetz seines Lebens vom himmlischen Ursprung bezieht,
wird das Wechselspiel zwischen ichzentrierter Verspannung und haltloser
Aufgelöstheit nicht als bloße Folge widriger Umstände erklären
und entschuldigen wollen, sondern als mitverschuldeten Verstoß gegen
die ihm vom Wesen her verheißene und auferlegte Bestimmung empfinden.