Karlfried Graf Dürkheim: 
Vom doppelten Ursprung des Menschen. 
Freiburg 1973, S. 169-172

 
Der Leib, der man ist

 
Unsere traditionelle Auffassung vom Leibe leidet unter der dualistischen Vorstellung eines seelenlosen Körpers, dem eine körperlose Seele gegenübersteht, mit der er in rätselhafter Weise verbunden ist. Im Hinblick auf den Menschen, so wie wir ihm begegnen und täglich mit ihm „umgehen“, ihn lieben oder fürchten, ist diese Trennung nicht aufrechtzuerhalten. Wer hat jemals einen seelenlosen Körper laufen sehen oder eine körperlose Seele! Ist die Leiche noch der Mensch?

Fragt man jemanden, zu dem man spricht, wen er eigentlich höre, den Körper oder die Seele (ein Drittes gibt es in der traditionellen Auffassung ja nicht), dann wird man vielleicht die Antwort erhalten: „Die Stimme, die ich höre, ist etwas Körperliches. Das, was ich höre, ist aber etwas Seelisch-Geistiges, also höre ich eine Einheit von Körper und Geist bzw. von Seele und Leib.“ Eine solche Antwort ist ein Krampf, in dem deutlich wird, daß das unmittelbar Gegebene außer Sicht geriet. Die schlichte Antwort auf die Frage: „Wen hören Sie?“ muß doch einfach lauten: „Ich höre Sie!“ Man hört mich, diesen bestimmten jemand, der als solcher jenseits ist des Gegensatzes von Körper und Seele. Wenn man diesen jemand in der Wissenschaft vom Menschen so ernst zu nehmen lernte, wie wir ihn im täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen ernst nehmen, so begänne in der Geschichte der Erkenntnis, aber auch der Erziehung, der therapeutischen Behandlung und der geistlichen Führung des Menschen ein neues Kapitel! Wir sind heute im Begriff, dieses Kapitel zu beginnen. Wir fangen an, den Menschen ernst zu nehmen als den Jemand, das heißt, als die leibhaftig uns begegnende Person, die jenseits ist des Gegensatzes von Leib und Seele oder von Körper und Geist. Dies aber bedeutet auch eine Wende in der Auffassung des Leibes.

Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß für den Fernen Osten, für dessen Weltanschauung „Inkarnation“ das Grundübel ist, der Leib als Medium transzendentaler Transparenz eine maßgebende Rolle gespielt hat, während der christliche Westen, für den die Inkarnation, die Fleischwerdung des Geistes, in der Mitte steht, den Leib immer wieder als Widersacher, Hindernis und Störung auf dem Weg zum Heil empfunden und verurteilt hat. Bestenfalls hat er eine nur säkulare und pragmatische Bedeutung, Der Leib als solcher scheint fern von aller geistigen Wirklichkeit. So ist es auch kein Wunder, daß altöstliche Leibesübungen, wenn sie, wie etwa das Hatha-Yoga, ihren Einzug im Westen halten, vornehmlich als eine Art Gymnastik des Körpers gelehrt und geübt werden. Werden sie aber so verübt, dann ist ihr wahrer, das heißt, ihr initiatischer Sinn: „Anjochen an das Absolute“, vertan.

Ganz einseitig wird bei uns der Leib als Instrument verstanden, mit dem man in der Welt bestehen, sich durchsetzen und etwas leisten muß. So wird er „geübt“, das heißt trainiert und behandelt wie ein Apparat, der in Ordnung, haltbar, elastisch und „gut geölt“ sein muß, um leistungsstark und reibungslos zu funktionieren. Solche „Behandlung“ trifft aber nur den Körper, den man „hat“. Sein Funktionieren hat, wie große Sportskanonen oft genug beweisen, meist sehr wenig mit der inneren Reife oder gar dem initiatischen Weg zu tun. Etwas ganz anderes geschieht, wenn man den Leib, statt ihn nur auf Funktionstüchtigkeit und Leistungskraft zu trainieren, in den Dienst der inneren Verwandlung zu stellen versucht. Dann freilich handelt es sich nicht um den Körper, den man hat, sondern um den Leib, der man ist. Dies ist eine Unterscheidung, die schon für alle personale, das heißt den Menschen, nicht nur den Körper meinende Therapie entscheidend ist. Nicht weniger wichtig wird sie, wo es um die Führung auf dem inneren Weg geht; denn wie schon zum weltgemäßen Verhalten des natürlichen Menschen die physische Gesundheit des Körpers nicht zureicht, so genügt die Beherrschung der „Umgangsformen“ noch nicht zur leibhaften Be-zeugung des Unbedingten im Raum des Bedingten. Die im Zeichen des Absoluten geforderte Durchlässigkeit der Form des Leibes ist etwas anderes und meint mehr als die einer Gemeinschaft oder einem Werk angepaßte leibhafte Verhaltensform.

Was meint das: Der Leib, der man ist? Es meint den Menschen, den ganzen Menschen als Person in der Weise, in der er sich nicht nur erlebt, sondern darlebt, das heißt dar-leibt. Man kann den Leib nicht nur in gegenständlichem Abstand als den Körper wahrnehmen, den man hat, dessen man sich wie einer Sache bewußt werden oder wie eines Instrumentes bedienen kann zu weltlicher, vielleicht sogar meßbarer Leistung. Man kann und soll vielmehr sich dessen, was man den Körper nennt, auch inne werden als des Leibes, der man ist. Das ist der Leib als sinnlich greifbare Gestalt, in welcher ich als Person in der Welt da bin, von meinen Mitmenschen leibhaftig wahrgenommen werde und den anderen wahrnehme.

So verstanden ist der Leib das Ganze der Gestimmtheiten und Gebärden, in denen der Mensch sich selbst als die ihrer selbst bewußte und zugleich die Welt erlebende und in ihr handelnde Person fühlt, ausdrückt und darstellt, in Raum und Zeit besteht oder untergeht, sich zum wahren Selbst hin verwirklicht oder verfehlt. 

Nicht etwa nur „innerlich“, sondern im Leibe als der Weise, in der man als Person in der Welt sichtbar und greifbar da ist, ist man auf dem rechten Weg oder nicht, ist man der Situation gewachsen oder nicht, ist stark oder schwach, im Gleichgewicht oder labil, dem Leben gegenüber offen oder verschlossen, im Kontakt oder in Abwehr, angepaßt oder im Wider-spruch, hell oder dunkel, mit oder ohne „Strahlung“, freundlich oder feindlich – und in alledem in Einklang mit seinem Wesen oder nicht! Im Leibe auch erkennt man sich selbst als richtig oder falsch „da“, was auch immer im Augenblick die innere oder äußere Forderung sein mag. Richtig ist man da, wenn man als Leib durchlässig ist für sein Wesen, das heißt für die Weise, in der das Leben in unserer Individualität Gestalt gewinnen und sich manifestieren möchte hier und jetzt, in diesem Augenblick. Falsch ist man da in dem Maße, als man als Leib jetzt und hier das Werden und Sichbezeugen der wesensgemäßen Gestalt verhindert.

Ist einem einmal die Möglichkeit und die Aufgabe bewußt geworden, sich auch als Leib seinsgemäß zu verwandeln, dann beginnt ein neues Leben, denn diese Aufgabe wird zum Begleiter in allen Situationen des Lebens (V, IX, XVI).
Der Leib, der man ist, reflektiert in Spruch und Widerspruch den himmlischen und den irdischen Ursprung des Menschen. So gibt es die Weise, als Leib da zu sein, die mit ihrer füllehaltigen und warmen Aura und auch im Glanz ihrer wesensgemäß durchlässigen Form in beglückendem Ausmaß vom himmlischen Ursprung des Menschen zeugt. Und es gibt jene andere, durch Verkrampfung und Auflösung im Wechsel bestimmte Weise, da zu sein, die den vom eigen-sinnigen Ich bestimmten irdischen Ursprung des Menschen widerspiegelt. Aber nur, wer das Gesetz seines Lebens vom himmlischen Ursprung bezieht, wird das Wechselspiel zwischen ichzentrierter Verspannung und haltloser Aufgelöstheit nicht als bloße Folge widriger Umstände erklären und entschuldigen wollen, sondern als mitverschuldeten Verstoß gegen die ihm vom Wesen her verheißene und auferlegte Bestimmung empfinden.