„Alles
ist euer Leben. Tag und Nacht, was immer euch begegnet, ist euer Leben;
daher sollt ihr euer Leben der Situation anpassen, die euch im Augenblick
begegnet. Verwendet eure Lebenskraft dazu, aus den Umständen, die
auf euch zukommen, eine Einheit mit eurem Leben zu gestalten und die
Dinge an ihren richtigen Platz zu setzen.“
Zen-Meister
Dogen (1200-1253)
Zen
als Lebensweg
Das Wort „Zen“ kommt
vom indischen dhyana und heißt ursprünglich „Meditation“.
Die Chinesen schrieben es mit einem Schriftzeichen, das „ch'an“ ausgesprochen
wird und bereits im Taoismus in Gebrauch war. Das Zeichen ist aus den
Elementen „Gott“ und „ein“ oder „einfach“ zusammengesetzt, bedeutet
also „eins mit Gott“. Im Laufe der Zeit bekam das Wort „Zen“ einen weiteren
Sinn und schließt heute alles mit ein, was mit der Art der Meditation
irgendwie zusammenhängt. Dazu gehört z.B. die bekannte Teezeremonie,
ebenso die Kunst des Bogenschießens (Kyudo, d.h. Weg des Bogens).
Das gleiche gilt vom Fechten, Judo, Karate, Pinselschreiben und Blumenstecken
(Ikebana). All das sind nicht nur Sportarten oder Künste, sondern
Wege, Lebenswege. Sie atmen sozusagen den Geist des Zen, das heißt,
sie enthalten die geistige Lebenseinstellung, die dem Zen eigen ist.
Sie sind im weiteren Sinne religiös und betreffen nicht nur einen
Teil des Menschen, sondern den Menschen als Ganzes, seine ganze Person.
Diesen Eindruck hat man auch heute noch bei den echten Meistern dieser
Künste. Sie gleichen den eigentlichen Zenmeistern. Auch das Verhältnis
von Meister und Schüler ist dasselbe. Alle diese Zen-Wege sind
heute mehr oder weniger im Westen bekannt und werden dort von vielen
Menschen geübt. Alle haben ihre eigenen Regeln, spezielle Bedeutung
und Wirkungen. Auf alle einzugehen würde zu weit führen. Der
gründlichste und wirksamste dieser Wege ist und bleibt das Zazen
oder die Zen-Meditation.
Zazen
Zazen heißt
„Sitz-Meditation“, was schon andeutet, daß das Sitzen dabei ein
wichtige Rolle spielt. Wir wollen uns zunächst klarmachen, worin
die Zen-Meditation besteht, wie sie vollzogen wird und was dazugehört.
Zum Vollzug der Zen-Meditation gehören drei Dinge: Körperhaltung,
Atmung und innere Haltung.
1. Körperhaltung
Man sitzt auf einem
etwa fünf Zentimeter dicken Kissen, das unmittelbar auf dem Boden
oder einer Decke liegt. Dabei wird der rechte Fuß auf den linken
Oberschenkel und der linke Fuß auf den rechten Oberschenkel gelegt.
Der Oberkörper soll einschließlich des Kopfes kerzengerade
aufgerichtet, aber vollkommen entspannt sein. Die Arme hängen gelöst
herunter. Die Hände liegen mit dem Handrücken nach unten gekehrt
flach aufeinander, wobei sich die Daumen leicht berühren. Die Augen
sind halb geöffnet und auf einen etwa einen Meter entfernten Punkt
am Boden gerichtet. Dieser Sitz wird „Lotussitz“ genannt. Legt man nur
den einen Fuß auf den gegenüberliegenden Oberschenkel, während
der andere Fuß am Boden liegenbleibt, nennt man diese Haltung
„halber Lotussitz“. Der Lotussitz ist fast unverändert vom Yoga
übernommen. Bei diesem wird jedoch kein Kissen als Unterlage benutzt.
Man sitzt flach am Boden, was übrigens auch im Zen bisweilen geschieht.
Das im Zen gebräuchliche Kissen erleichtert den Lotussitz.
2. Atmung
Die Atmung geschieht
grundsätzlich durch die Nase und sollte Tiefatmung oder Zwerchfellatmung
sein. Brustatmung ist für den Zen weniger günstig. Das Atmen
soll tief und ruhig sein. Zwischen Ein- und Ausatmen soll keine längere
Pause gemacht werden. Der Atem wird nicht angehalten. Die beschriebene
Haltung und Atmung fördert den Blutkreislauf und beruhigt die Nerven.
Nachdem der Körper zur Ruhe gekommen ist, ist es leichter, auch
seelisch in einen Zustand der Ruhe zu kommen, wie es für die Meditation
notwendig ist.
3. Innere Haltung
Sie ist das wichtigste
und der unmittelbare Zweck der Körperhaltung und Atmung. Sie ist
schwieriger zu beschreiben als die beiden anderen Elemente des Zazen.
Meister Dogen (1200 bis 1253), der Gründer der japanischen Soto-Schule
(Sekte), sagte: „Denke das Nicht-Denken.“ Es ist ein Nichtdenken, das
nicht gleichbedeutend ist mit einem Zustand des Dösens. Eine andere
gebräuchliche Ausdrucksweise ist: „Ohne Begriffe und ohne Gedanken“
(munen-muso). Zazen ist eine Meditation ohne Gegenstand oder Thema.
Im christlichen Raum sind wir gewohnt, uns auf eine Glaubenswahrheit
oder eine Schriftstelle zu konzentrieren, wenn wir eine Betrachtung
oder Meditation machen. Im Zen ist dies anders. Dort wird nicht über
etwas nachgedacht, auch nicht über die buddhistische Lehre. Der
chinesische Altmeister Rinzai sagt: „Räume jedes Hindernis aus
dem Wege ... Wenn dir der Buddha auf dem Wege begegnet, so töte
den Buddha! Wenn du deine Ahnen triffst, töte die Ahnen! Wenn du
Vater und Mutter triffst, tote Vater und Mutter! Wenn du Buddhas Jünger
triffst, töte Buddhas Jünger! Wenn du deine Verwandten triffst,
töte die Verwandten! Nur so wirst du die Erlösung erlangen,
nur so den Netzen entfliehen und frei werden.“ Dies heißt: Wenn
dir während des Zazen der Gedanke an Buddha kommt, so weise diesen
Gedanken ab, etc. Daß der Zustand des Nichtdenkens nicht ein Verhalten
ist, in dem keinerlei geistige Tätigkeit stattfindet, konnte neuerdings
durch die Beobachtung der Gehirnwellen und Hautreflexe während
der Zeit der Meditation bestätigt werden. Bei Menschen, die im
Zen fortgeschritten sind, z. B. den Zenmönchen, treten bald Alphawellen,
später Thetawellen auf.
Anders ausgedrückt:
Während der inneren Haltung des Zazen kommt es darauf an, daß
jede ich-gelenkte Tätigkeit eingestellt wird. Das Ich muß
passiv werden bzw. rezeptiv oder geöffnet. Es geht hier nicht um
das Reden, sondern um die Haltung des Hörens, freilich nicht in
dem Sinne, daß man etwas hören möchte; das wäre
wieder eine ich-gelenkte Tätigkeit in der Form eines Wunsches.
Tauchen trotzdem spontan Gedanken auf, schadet das dem Zen nicht, solange
man nicht darauf eingeht. Mit anderen Worten: Man muß in die tiefere
Bewußtseinsschicht eindringen. Das kann man jedoch nicht erzwingen,
sondern muß es geschehen lassen.
Verwirklichung
der inneren Haltung
Beim Zazen gibt
es drei verschiedene Verhaltensweisen:
1. Man konzentriert
sich auf den Atem.
2. Man beschäftigt
sich mit einem sogenannten Koan.
3. Man sitzt einfach
da, ohne irgendwelche Hilfsmittel zu gebrauchen.
1. Konzentration
auf den Atem
Sie kann in verschiedener
Weise geschehen. Gewöhnlich beginnt man damit, den Atem zu zählen,
und zwar von eins bis zehn, dann wieder von eins anfangend. Man zählt
dabei das Einatmen auf die ungeraden Zahlen und das Ausatmen auf die
geraden. Das Atmen selbst geschieht ruhig und tief, jedoch ohne sich
dabei Gewalt anzutun. Eine andere Art, sich auf den Atem zu konzentrieren,
besteht darin, dem Atem im Geiste zu folgen, ohne zu zählen. Die
Konzentration auf den Atem hilft, das Auftauchen von Gedanken einzuschränken.
Sie hindert das Eindringen in tiefere Schichten des Bewußtseins
nicht, weil sie eine sehr einfache Tätigkeit ist. Manchmal zählt
man nur das Einatmen oder nur das Ausatmen. Das erstere hilft, die Zerstreuungen
zu vermindern, das letztere, die Schläfrigkeit zu überwinden.
Die Methode, sich
auf den Atem zu konzentrieren, ist nicht vom Zen erfunden worden. Sie
geht auf die vorbuddhistische Zeit zurück. Buddha hat sie übernommen.
Ursprünglich war sie nicht nur technische Hilfe, sondern hatte
einen tieferen Sinn. Atem ist Leben. Der Mensch kann langes Fasten aushalten,
ohne zu sterben. Wenn er jedoch nur wenige Minuten ohne Atem ist, stirbt
er. Der primitive Mensch hatte das Gefühl, daß der Atem dem
Geistigen nahesteht. Für beides brauchte er dasselbe Wort. Darum
heißt es wohl im biblischen Schöpfungsbericht, daß
Gott dem Menschen den Odem des Lebens ins Angesicht hauchte, nachdem
er den Leib aus Erde geformt hatte (Gen. 2,7). Die Seele, das heißt
das, was den Menschen zum Menschen macht, ist gewissermaßen ein
Anteil am Geiste Gottes. Über den tieferen Sinn des Atems soll
beim Zazen nicht nachgedacht werden. Aber das Wissen um diese Zusammenhänge
kann das Zählen des Atems sympathischer machen. Jedenfalls ist
es anzuraten, im Anfang beim Zazen das Atemzählen zu benutzen.
Früher oder später sollte man dazu übergehen, dem Atem
im Geiste zu folgen, ohne zu zählen. Dabei denkt man beim Einatmen
nur an das Einatmen und beim Ausatmen nur an das Ausatmen.
2. Konzentration
auf ein Koan
Koan ist ein chinesisches
Wort und heißt nach dem Sinn der dafür verwandten Schriftzeichen
„öffentliche Bekanntmachung“. In Wirklichkeit hat es jedoch einen
anderen Sinn. Im Zen gibt es eintausendsiebenhundert Koan. Zum großen
Teil sind es Gespräche zwischen Meister und Schüler, „mondo“
(Frage und Antwort) genannt. Der eigentliche Text des Koan ist meist
kurz und enthält einen Widerspruch oder ein Paradox, auf das der
Verstand keine Antwort weiß. Freilich wird dazu eine Erklärung
gegeben. Auch diese ist jedoch nicht ohne weiteres verständlich,
wenn man nicht schon tieferen Einblick in das Zen gewonnen hat.
Dazu einige Beispiele:
Meister Chaochou
wurde einst von einem Mönch gefragt, ob auch in einem Hündlein
die Buddhanatur sei. Chaochou antwortete: „Mu“ (Nichts). Oder: Ein Mönch
bat Chaochou: „Meister, ich bin noch ein Neuling, zeige mir den Weg.“
Chaochou sprach: „Hast du schon dein Frühstück beendet?“ Der
Mönch sagte: „Ich habe mein Frühstück beendet.“
Chaochou antwortete: „Geh und wasch die Eßschalen!“ Da kam
der Mönch zur Einsicht.
Der japanische Meister
Hakuin klatschte in die Hände, dann erhob er die eine Hand und
sagte: „Höre den Ton der einen Hand!“
Viele sind mit Hilfe
des Koan zur Erleuchtung gekommen. Den Prozeß vom Koan zur Erleuchtung
kann man sich in folgender Weise vorstellen. Der Schüler sucht
zunächst eine logische Lösung zu finden. Nach einiger Zeit
wird es ihm klar, daß es auf diesem Wege keine Lösung gibt.
Nun gibt er das logische Denken auf. Inzwischen hat er sich jedoch so
in das Problem hineingearbeitet, daß er es nicht mehr los wird.
Dazu kommt, daß er immer wieder, vom Meister gerufen und zu einer
Antwort gedrängt wird. Er ist in einem Zustand wie einer, der eine
glühende Kugel verschluckt hat und sie ausspeien möchte, es
jedoch nicht kann. Das ist der Zustand des „großen Zweifels“,
von dem im Zen oft die Rede ist. Wo der Übende geht und steht,
verfolgt ihn das Koan. Beständig hat er es im Sinn. Tag und Nacht
ist er mit dem Koan beschäftigt. Eines Tages oder Nachts hat er
plötzlich das Gefühl, er sei selbst das Problem geworden.
Er ist selbst das Nichts des Chaochou oder die eine Hand, von der Hakuin
sprach. Das eigene Ich ist spurlos verschwunden. Übt er nun unermüdlich
weiter, dann verschwindet das Koan plötzlich aus seinem Bewußtsein.
Damit ist die vollkommene Leere des Bewußtseins hergestellt und
die Voraussetzung für die Erleuchtung erfüllt. Es bedarf meist
nur einer unbedeutenden sinnlichen Wahrnehmung, z.B. eines Schlags der
Tempelglocke oder des kaum hörbaren Fallens eines Blattes von einem
in der Nähe stehenden Baum, und der Geist öffnet sich. Das
große Erlebnis ist da.
Trotz der guten
Erfahrungen, die man mit dem Koan gemacht hat, ist es nur ein Mittel,
nicht das Wesen des Zen. Seine Anwendung ist nach Zen-Schulen oder Sekten
und nach einzelnen Meistern verschieden. Von den beiden großen
Sekten Soto und Rinzai benutzt erstere das Koan grundsätzlich nicht,
während Rinzai es ausführlich tut. Wer dort Zenmeister werden
will, muß alle Koan lösen, was natürlich viele Jahre
in Anspruch nimmt. Auf diese Weise wird die Erleuchtung immer mehr vertieft.
3. Das „Nur-Sitzen“
(shikantaza)
Man spricht vom
„Nur-Sitzen“, weil man sitzt und atmet, wie es vorgeschrieben ist, aber
keinerlei Hilfsmittel - weder Konzentration auf den Atem noch ein Koan
- benutzt. Kommen Gedanken, geht man ihnen weder nach, noch vertreibt
man sie. Ein Meister der neueren Zeit, Sogaku Harada, stellte das in
folgender Weise dar:
„Es ist wie der
am Ostmeer majestätisch emporragende Fuji-Berg. Doch ist dieser
Vergleich noch zu schwach. Eigentlich sollte man sagen: Das Zazen ist
ein Gefühl, so massiv, als wäre das Sitzkissen zum Erdball
geworden und das Weltall füllte den Unterleib aus. Stattdessen
zu dösen, hieße Kuhmist kneten. Es wäre ein gänzlich
totes Zen und überhaupt kein Zazen mehr. Wenn man es lieber anders
ausdrücken will, kann man auch sagen: ,Unbeweglich stehen die grünen
Berge. - Die weißen Wolken kommen und gehen.‘ - Oder mit den Worten
Tesshu Yamaokas: ,Ob der Himmel klar ist oder bewölkt, in jedem
Fall ist es recht. Der Berg ist immer derselbe, und seine ursprüngliche
Gestalt ändert sich nicht.' Das ist der Zen-Gesang, der Gesang
der Wahrheit, wirklich unser Gesang. Im Zen-Merkbuch (Zazengi) ist das
ausgedrückt durch das Wort ,Hishiryo' (Nicht-Denken). Um es ausführlich
zu sagen: ‚Denke das Nicht-Denken', das ist der Schlüssel zum Zazen,
das ist sein Lebensnerv.“
(Daiun Sogaku Harada,
1870-1961 war in den 50er Jahren mein Zen-Meister; er vereinigte auf
geniale Weise die beiden Schulungen des Zen von Rinzai und Soto zu einer
neuen Form. Er ließ mich in seinem Kloster die Eucharistie feiern
und hatte einen tiefen Respekt vor der Dimension der christlichen Mystik.
Die Nachfolger von Harada Roshi waren die bekannten Zen-Meister Hakuun
Ryoko Yasutani und Yamada Koun.)
Bei allen drei Verhaltensweisen
gibt es kein Thema, über das nachgedacht wird, wie das bei der
christlichen Betrachtung gewöhnlich geschieht. Das ist am Anfang
schwierig. Entweder treten viele Gedanken auf, oder man wird schläfrig.
Kommen dann noch wegen des ungewohnten Sitzens erhebliche Schmerzen
in den Beinen dazu, braucht man viel Geduld, die vorgeschriebene Zeit
durchzuhalten. Bei Anfängern sind die Schmerzen oft so stark, daß
ihnen das Denken schon dadurch unmöglich wird. Aber das ist noch
nicht das Nicht-Denken, das hier gemeint ist. Das bemerkt man erst,
sobald die Schmerzen einigermaßen erträglich werden oder
ganz aufhören. Denn nun drängen sich die Gedanken in Schwärmen
auf.
4. Der Warnungsstab
Dieser soll den
Zen-Schülern eine Hilfe bieten in ihrem Bemühen. Es ist ein
zwei bis drei Fuß langer Stab, aus Holz gemacht, der am äußeren
Ende flach ist. Damit wird von einem Mönch von Zeit zu Zeit auf
die Schultern der Zen-Schüler geschlagen. Normalerweise geschieht
das aber nur während des Zazen. Dieser Warnungsstab gehört
seit Jahrhunderten zum eisernen Bestand der japanischen Zenhallen. Es
wird bald mehr oder weniger, fester oder sanfter geschlagen. Ein Europäer,
der das zum ersten Male mitmacht, ist vielleicht ungehalten darüber
und meint, solche Methoden paßten nicht in die heutige Zeit. Aber
er bemerkt bald, daß ein Schlag mit dem Stab eine lockernde Wirkung
bei Verspannung hat. Der versteifte Körper wird aufgefrischt und
der Schlaf vertrieben. Daß das Schlagen keine Züchtigung
ist, sondern ein Dienst am Mitmenschen, kommt schon durch das dabei
beobachtete Zeremoniell zum Ausdruck. Der Mönch holt den Stab vom
Buddha-Altar (auf dem er gewöhnlich liegt), nachdem er sich tief
verneigt hat. Bevor er einen der Übenden schlägt, verneigt
er sich tief vor ihm, während jener die Hände zusammenlegt
wie beim Gebet. Dann erst schlägt er ihn ein- oder mehrmals auf
die Schultern. Dann geschehen dieselben rituellen Handlungen wie zuvor,
und der Mönch geht weiter zum nächsten, wo dasselbe Zeremoniell
wiederholt wird. Ehe die Sitzung endet, wird der Stab wieder feierlich
an seinen Ort auf dem Buddha-Altar gelegt.
5. Der Zenmeister
Hier kommen wir
zu einem wichtigen Punkt: der persönlichen Leitung durch den Zenmeister.
Denn nach Auffassung des Zen kann Zen, besonders die Erleuchtung, nicht
durch theoretische Unterweisungen, sondern nur durch Initiation weitergegeben
werden. Zen ist mehr als eine Technik oder Methode. Es ist etwas Geistiges
darin, was übertragen oder weitergegeben werden soll, nämlich
eine Erfahrung von höchster Bedeutung. Daher gilt die Leitung durch
den Zenmeister von jeher als Wesensbestandteil des Zen. Eine Technik
kann man zur Not auch durch eine ausführliche schriftliche Anweisung
erlernen. Aber das ist nur der Anfang. Die Führung des Meisters
ist weder Magie noch Hypnose. Auch hier kommt der tiefe Sinn der Sache
durch ein Zeremoniell zum Ausdruck, das bei der Einzelleitung beobachtet
wird. Der Zenmeister ist dann nicht irgendein Lehrer, sondern Buddha
selbst. Der Schüler nähert sich ihm mit dreimaliger oder sogar
neunmaliger Verbeugung bis zum Boden auf beiden Knien und rutscht nach
der letzten Verneigung bis auf zwanzig Zentimeter an den Meister heran.
Während dieser Begegnung, die in einem eigens für diesen Zweck
bestimmten Zimmer stattfindet, wird über nichts anderes gesprochen
als über das Zazen, und zwar praktisch, nicht theoretisch. Der
Schüler berichtet von seiner Erfahrung oder von seinen Schwierigkeiten
beim Zazen. Der Meister stellt ihm Fragen. Im allgemeinen ist das Gespräch
kurz. Oft dauert es nur eine Minute oder noch weniger. Das genügt
für den Meister, um zu sehen, wo der Schüler steht. Der Meister
hat ein kleine Schelle neben sich stehen, die er läutet zum Zeichen,
daß das Gespräch zu Ende ist. Sofort zieht sich der Schüler
in der gleichen Weise zurück, in der er gekommen ist. Er geht in
die Zenhalle zurück, wo er die Meditation fortsetzt. Während
der strengen Übungen, die meistens eine Woche dauern, geht der
Schüler mehrmals am Tage zum Meister.
Trotz der starken
Betonung der Einzelleitung hält es die Soto-Schule anders als die
Rinzai-Schule. Soto drängt weder auf Erleuchtung, noch benutzt
sie das Koan. Sie betont die Einzelleitung längst nicht so stark
wie Rinzai. Um das zu verstehen, muß man bei Soto die Interpretation
des Zen in ihrer Gesamtheit sehen. Der Sotomönch tritt mit dem
Mönchwerden in das Buddhaleben ein. Das aber erschöpft sich
nicht im Zazen, sondern umfaßt das ganze tägliche Leben,
Tag und Nacht. Dieses Buddhaleben ist für ihn schon die Erleuchtung.
Diese Erklärung ist vielleicht zu einfach, um die einschlägigen
Fragen vollkommen zu beantworten. Aber es gibt verschiedene Auffassungen
im Zen. Oft wird es sich nach der Veranlagung des einzelnen richten,
welche er vorzieht. Praktisch entscheidet sich die Wahl automatisch.
Die Schulen sind ja gleichzeitig religiöse Gemeinschaften (Sekten).
Je nachdem einer der einen oder anderen angehört, wird er die Wahl
treffen, wenn er Mönch wird. Wenn oben gesagt wurde, daß
Soto nicht auf die Erleuchtung dränge, so heißt das nicht,
daß es dort keine Erleuchtungserlebnisse gibt. Es gibt sie auch
dort. Findet die Erleuchtung statt, ist das Privatsache und wird nicht
als äußere Norm gewertet, z.B. als Qualifikation für
einen Zenmeister wie im Rinzai.
Wie gesagt, geschieht
die Einzelleitung im Zen während der Meditationszeiten, damit der
Meister den inneren Zustand des Schülers kennenlernt. Weil der
Schüler während dieser Zeit tiefer in Versenkung ist, kann
der Meister ihn leichter leiten als in der Zeit zwischen den Meditationen.
Zu anderer Zeit könnte der Schüler nur berichten, was war.
Dann ist keine unmittelbare Prüfung mehr möglich.
Die Wahl des Zenmeisters
steht jedem frei. Hat man die Wahl getroffen und ist vom Meister als
Schüler angenommen, so gilt als Regel, daß man den Meister
nicht wechselt. Bedeutende Meister lassen Bittende oft lange warten,
lehnen sie manchmal mit harten Worten ab, um zu sehen, ob es dem Schüler
wirklich ernst ist mit seinem Entschluß. Sollte man aus schwerwiegenden
Gründen den Meister trotzdem wechseln, dann tritt eine andere Regel
in Kraft: Man muß alles vergessen, was man vom vorhergehenden
Meister gesagt bekommen hat. Das heißt, man muß sich nun
vorbehaltlos vom neuen Meister leiten lassen.
Ziel,
Zweck und Wirkung
Man könnte
zwei Fragen stellen:
- Was ist der
eigentliche Zweck dieser Meditation?
- Was bedeutet
sie für den Menschen als solchen, d. h. unabhängig davon,
ob er Buddhist oder Christ, Asiate oder Europäer ist?
1. Ziel: Bewußtwerden
des Selbst und der Transzendenz
Das Ziel des Zazen
ist von seinem buddhistischen Ursprung her eindeutig bestimmt, nämlich:
das Bewußtwerden der Buddhanatur. Nach buddhistischer Lehre hat
jeder Mensch die Buddhanatur. Es ist daher nicht so, daß er etwas
werden soll, was er nicht war, sondern daß er sich dessen bewußt
werden soll, was er schon immer war. Mit der Buddhanatur ist im Grunde
nicht etwas gemeint, das nur den Buddhisten angeht. Der Mensch hat ein
doppeltes Leben oder Sein. Das eine ist jenes Leben oder Sein, dessen
er sich bewußt wird in dem Augenblick, in dem er zum Bewußtsein
kommt. Das ist jedoch nicht alles. Er hat auch teil an dem einen ungeteilten
und absoluten Sein, von dem unabhängig nichts existiert. Nach buddhistischer
Lehre genügt es nicht, das nur zu sein, sondern man muß sich
dessen auch bewußt werden; daher die Bezeichnung „Selbstverwirklichung“.
Das eigentliche, tiefste Selbst muß bewußt werden. In dem
Augenblick, in dem das geschieht, erfährt der Mensch: Das, was
er bisher für sein Ich gehalten hat, ist nicht im vollen Sinne
er selbst. In der Erleuchtung wird er sich dieses anderen „überweltlichen
Seins“ bewußt.
Damit hat allerdings
die Zen-Meditation ihren Zweck noch nicht erfüllt und muß
daher, auch nach Erlangen der Erleuchtung (satori), fortgesetzt werden.
Die Erleuchtung ist nur ein Aufleuchten oder ein kleines Licht im Innersten
der Seele, das stärker und stärker werden muß, bis es
alles überflutet und alle Gedanken, Worte und Werke unmittelbar
von ihm ausgehen. Dann geschieht, was Paulus sagt: „Ich lebe, aber nicht
ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Dieses Wort ist auch
den Zenmeistern bekannt, und sie führen es bisweilen an, um ver-ständlich
zu machen, was das letzte Ziel des Zazen ist.
Um die zweite Frage
zu beantworten - was die Zen-Meditation für den Menschen als solchen
bedeutet -, dürfen wir uns nicht auf das Endziel, die Erleuchtung,
beschränken. Schon auf dem Wege dorthin geschieht vieles, das nicht
nur für einen Buddhisten, sondern für jeden von hohem Wert
ist, gerade für den Menschen der Gegenwart. Über diese Wirkungen
der Zen-Meditation möchten wir nun einiges sagen.
2. Wirkungen
Die Wirkungen, die
schon vor Erlangen der Erleuchtung auftreten und nach der Erleuchtung
beständig verstärkt werden, lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen:
a) Geistige Kräfte:
Sie wachsen dem Übenden durch die Übung des Zazen zu (joriki).
b) Einsicht (chie)
oder intuitive Erkenntniskraft.
a) Geistige Kräfte
Die erstgenannten
Kräfte können physisch-somatisch oder geistiger Art sein.
Sie gehören nach heutigem Sprachgebrauch der Parapsychologie an.
Wir müssen uns auf die geistigen Kräfte beschränken,
die durch das Zazen geweckt oder freigelegt werden. Auch das Zen strebt
heute nur die geistigen Kräfte an. Was versteht man darunter? Es
handelt sich um die Fähigkeit, die Zerstreuungen des Geistes abzustellen
und seelisches Gleichgewicht und Ruhe zu erlangen.
Was bedeutet dies
konkret? Zunächst wird der Mensch Herr über seine Gefühle.
Er wird ruhiger und innerlich freier. Seine Gefühle gehen nicht
mit ihm durch. Er wird zugänglicher für seine Mitmenschen.
Kommt er trotzdem einmal aus dem Gleichgewicht, dann gewinnt er es schnell
zurück. Dies bedeutet nicht passive Gleichgültigkeit oder
Verlust an Energie oder Emotionalität. Es gab und gibt auch heute
Menschen aus allen Berufen, selbst Staatsmänner und Großindustrielle,
die Zazen praktizieren. Die Fähigkeit, die Zerstreuungen des Geistes
zu überwinden, fördert zugleich die Konzentration. Wer regelmäßig
Zazen übt, wird auch in seinem Beruf tüchtiger. Er wird fähig,
sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, auch wenn äußere
und innere Hindernisse im Wege stehen. Das Gleichgewicht zwischen Emotionalität
und Ruhe läßt sich vielleicht durch eine Erklärung von
Prof. Schultz, dem Erfinder des autogenen Trainings, verstehen. Er sagt,
man müsse dafür sorgen, daß die Reize, denen wir beständig
ausgesetzt sind, sich nicht im Vegetativen festsetzen. Sie werden dann
ganz natürlich aufgenommen und empfunden, klingen aber schnell
wieder ab. Gehen sie jedoch in den Körper, setzen sie sich dort
fest wie mit einem Widerhaken. Der „Film“ läuft immer wieder von
neuem ab. „Ärger, Heftigkeit, Angst, kurz die störenden Gemütsbewegungen
sind nur deswegen so mächtig, weil sie den ganzen Organismus erschüttern.“
Dies erklärt auch, daß emotionelle Menschen, wie es die Japaner
von Haus aus sind, in schwierigen Situationen die Ruhe bewahren. Selbstverständlich
bringen es nicht alle so weit. In letzter Zeit hat sich da manches geändert.
Aber bei solchen, die Zazen üben, ist es selbstverständlich.
Eine andere Weise,
die hier besprochene Wirkung des Zen zu erklären, ist folgende:
Im Zen spricht man oft von der Tätigkeit an der Vorderseite und
an der Rückseite des Geistes (oder des Herzens). Das ist in etwa
dieselbe Unterscheidung wie zwischen bewußter und unbewußter
Tätigkeit. Die Tätigkeit an der Vorderseite kennen wir und
haben sie einigermaßen in der Hand. Anders ist es mit der Rückseite.
Viele Menschen wissen gar nicht, was dort bei ihnen geschieht. Sie meinen
vielleicht, daß sie in ihren Entscheidungen frei und objektiv
sind, werden aber weit mehr von ihrem Unbewußten geleitet, als
sie ahnen. Durch das Zazen lernt man auch die Rückseite des eigenen
Geistes kennen. Es ist wie bei einer Selbst-Psychoanalyse. „Man versteht
den wahren Zustand seines Geistes“, sagte einmal jemand von der Erleuchtung.
Dies alles wirkt
sich auch auf das Religiöse aus. Die erhöhte Konzentrationsfähigkeit
erleichtert die Aufmerksamkeit bei Gebet und liturgischen Handlungen.
Selbstbeherrschung und innere Freiheit geben dem Menschen größere
Möglichkeiten, andern behilflich zu sein. Dazu kommt die ethische
Vervollkommnung: Das Negative und Abwegige wird allmählich aufgelöst,
weg-meditiert. Neid, Haß und Mißgunst ... verschwinden oder
werden gegenstandslos. Der Mensch wird frei und echter Liebe fähig.
b) Einsicht
Sie ist die zweite
Wirkung des Zazen. Was damit gemeint ist, können wir uns auf zweierlei
Weise klarmachen. Die erste geht von der Voraussetzung aus, daß
die menschliche Erkenntnisfähigkeit sich auf zweifache Weise betätigen
kann: diskursiv und intuitiv. Dazwischen liegen zahllose Kombinationen.
Die diskursive Weise geht von einer Wahrheit zur anderen. Die intuitive
dagegen erkennt die Wahrheit unmittelbar. Die erstere ist ihrer Eigenart
nach auf die Einzeldinge oder das Seiende gerichtet. Letztere ist besonders
auf das eine ungeteilte, absolute Sein, auf Gott, gerichtet. Dementsprechend
gibt es auch zwei verschiedene Arten von Meditation: die diskursive,
Betrachtung genannt, und die intuitive, die im eigentlichen Sinne Meditation
ist.
Zwischen beiden
besteht jedoch eine enge Beziehung. Das diskursive Denken wird durch
das intuitive vervollkommnet. Bezeichnend sagt Thomas Merton: „Die ‚Unwissenheit'
des wahren Mystikers bedeutet nicht Unvernunft. Zuweilen scheint die
Beschauung das spekulative Denken zu verwerfen, in Wirklichkeit aber
ist sie dessen Erfüllung. Jede Philosophie und Theologie, die sich
über die Bedeutung der wahren Ordnung der Dinge klar ist, strebt
danach, in die Wolke auf dem Gipfel des Berges einzutreten, in welcher
der Mensch hoffen kann, dem lebendigen Gott zu begegnen. Jede Wissenschaft
müßte daher erfüllt sein von dem Bewußtsein ihrer
Grenzen und vom Verlangen nach einer lebendigen Erfahrung der Wirklichkeit,
welche dem spekulativen Denken unerreichbar ist.“
Was wir heute in
den Naturwissenschaften erleben, bestätigt diese Auffassung. Ihre
größten Vertreter kommen von der Vielheit zur Einheit und
damit zum letzten Sein, das diskursiv nicht mehr faßbar ist. Ähnliches
wird angedeutet durch das „neue Denken“, von dem wir seit langem hören.
Soll das überhaupt einen Sinn haben, muß es uns ein vollkommeneres
Erfassen der Wahrheit bringen, als wir es bisher in unserem „dreidimensionalen“
Wissen erreichen können. Wenden wir dies auf die christliche Betrachtung
oder Meditation an, so heißt das: Die Betrachtung, im Sinne der
gegenständlichen, auf das einzelne gehenden Betrachtung kann uns
die religiösen Wahrheiten nur unvollkommen mitteilen. Das gilt
besonders von der Erkenntnis des Absoluten und, im christlichen Sinne,
des persönlichen Gottes. Denn dieses bzw. dieser entzieht sich
jeder Begrenzung und jedem Begriff.
Viele Menschen haben
heute ihren Gottesglauben verloren (Gott-ist-tot-Theologie), weil sie
keinen anderen Weg als den hergebrachten diskursiven fanden, tiefer
in das Geheimnis Gottes einzudringen. Gottesbeweise helfen dem heutigen
Menschen weitgehend nicht mehr. In den Dingen, die nicht Gott sind,
findet er ihn auch nicht durch schlußfolgerndes Denken. Er findet
nichts mehr, das wirklich zu Gott paßt. Ein anthropomorpher Gottesbegriff
ist für viele Menschen trotz besten Willens nicht mehr vollziehbar.
Die Betrachtung darf daher nicht bei den Einzeldingen stehenbleiben,
sondern muß zur Meditation werden, in der das diskursive Denken
aufhört. Solange wir Gott begrifflich erfassen, erfassen wir ihn
nicht selbst, sondern ein Bild von ihm. Von neuem gilt heute das Verbot:
Du sollst dir kein (geschnitztes) Bild machen, um es anzubeten. Das
ist nicht mehr Gott, sondern ein Götze. Hier ist ein wichtiges
Moment für die Begegnung mit dem Buddhismus, besonders mit Formen
des Buddhismus, wie das Zen ihn vertritt. Die Zenmönche wollen
keine Atheisten sein. Sie sind es auch nicht in dem Sinne, wie ein Christ
es wäre, der später die Existenz Gottes ausdrücklich
leugnete. Die Zenmönche glauben an etwas, haben es vielleicht sogar
erfahren, und dieses „Es“ kann wirklich Gott sein. Einsicht oder intuitive
Erkenntnisfähigkeit, die durch Zenübungen gefördert wird,
ist jene Fähigkeit, die in der Erleuchtung sowie in der Gotteserfahrung
christlicher Mystik allgemein wirksam ist.
Hier möchten
wir noch eine andere Erklärung der Einsicht geben, die mehr östlich
ist als die obengenannte, die sich an die christlich-scholastische Auffassung
der menschlichen Erkenntnisfähigkeit anlehnt. Der Osten kennt auch
heute noch ein „Organ“ für die intuitive Erkenntnis. Er nennt es
„Grund“ - „Seelengrund“ würden die christlichen Mystiker sagen
- oder das „dritte Auge“. Wir sind gewohnt, geistige Gefühle durch
Verstand und Willen zu erklären. Man erkennt z.B. etwas als gut
und liebenswert. Der Wille setzt daraufhin einen Akt der Liebe, dessen
Gegenstand eine Sache oder Person sein kann. Nach östlichem Denken
muß diese Liebe im „Grund“ empfangene und geboren werden. Dieser
„Grund“ ist wie eine „geistige Erde“, aus der alle geistigen Gefühle
hervorgehen. Auch die religiösen Gefühle, vor allem der Glaube,
kommen auf diesem Wege zustande. Der Befehl des Willens genügt
selbst bei bester Erkenntnis nicht. Im westlichen Kulturkreis ist die
„geistige Erde“ durch das Übergewicht des materialistischen und
rationalen Elementes überwuchert oder unfruchtbar geworden. Das
ist heute unsere große geistige Not. Die Zen-Meditation spricht
diesen „Grund“ an und macht ihn wieder fruchtbar. Sie tut das dadurch,
daß sie das diskursive Denken beiseite läßt. Daraus
erklärt sich die häufige Beobachtung, daß Menschen,
die nicht mehr an Gott glauben können, durch Zen-Meditation zu
ihrem eigenen Erstaunen wieder zu ihrem Gottesglauben zurückfinden,
obgleich bei dieser Meditation nicht von Gott gesprochen wird. Ähnliche
Erfahrungen wurden mit anderen östlichen Meditationsweisen gemacht.
Andererseits machen gläubige Christen, die nach der Art des Zen
meditieren, die Erfahrung, daß sie unerwartet tiefere Einblicke
in christliche Wahrheiten oder Schriftsteller gewinnen, obwohl sie nicht
darüber nachgedacht haben.
3. Grundlage:
Läuterung
Betrachten wir die
genannten Wirkungen des Zazen, fragen wir uns vielleicht: Wie ist das
möglich? - Es ist möglich, weil Zazen ein Versenkungsweg ist
und daher ein Läuterungsweg wie alle echten Versenkungswege. Denken
wir nur an die „Nächte“ des hl. Johannes vom Kreuz. Er spricht
von der „Nacht der Sinne“ und der „Nacht des Geistes“. Über erstere,
in der die sinnlichen Begierden gereinigt werden (was immer der „Nacht
des Geistes“ vorangehen muß), hören wir im Zen nicht viel.
Es wird einfach vorausgesetzt, daß jeder, der den Weg zur Erleuchtung
gehen will, die Einstellung mitbringt, das Buddhagesetz zu beobachten
und ein sittenreines Leben zu führen. In den buddhistischen Schriften
gibt es jedoch viele Stellen, in denen auf das gedrängt wird, was
in der „Nacht der Sinne“ geschehen soll. Auch ist das Leben in Zenklöstern
sehr streng. Zum Beispiel gibt es siebentägige Zenübungen,
während derer weder bei Tag noch bei Nacht eine Minute geschlafen
werden darf. Dazu kommt, daß jene, die in ein Zenkloster eintreten
wollen, große Prüfungen bestehen müssen.
Der „Nacht des Geistes“
bei Johannes vom Kreuz entspricht im Zen die Ausschaltung des Gedächtnisses,
Verstandes und Willens, mit einem Wort gesagt: des Ich. Vielleicht gibt
es in keiner Religion einen so radikalen Weg der geistigen Losschälung
wie den des Zen. Wer diesen Weg geht unter Leitung eines strengen Meisters,
wird das rasch bemerken. Man darf sich an nichts hängen, nirgends
stehenbleiben, weder bei guten noch bei schlechten Gedanken und Gefühlen.
Die geringste Ausnahme führt zum Stillstand. Es gibt keinen Umweg,
nur einen richtigen Weg. Wer das Ziel auf einem Umweg zu erreichen versucht,
wird nach einiger Zeit feststellen, daß er wieder da angelangt
ist, wo er den Umweg angetreten hat. Andererseits wird man auch feststellen,
daß man am schnellsten vorankommt, wenn man diesen Weg so geht,
wie er vorgesehen ist. Man muß oft mühsam Phasen durchstehen,
ähnlich wie bei einer Psychoanalyse. Auch im Zen kennt man Schuldbewußtsein
und Tränen der Buße. Dieser Weg gleicht einem Labyrinth.
Wer ihn einmal ernsthaft angetreten hat, kann nicht mehr zurück,
d.h. er kann nicht so sein, wie er vorher war. Der Übende hat Dinge
erlebt, die er nicht mehr vergißt. Durch ein Zurück würde
er niemals glücklich werden, sondern das Gefühl haben, falsch
gehandelt zu haben. Nichts hilft, immer tiefer muß er in das Dunkel
hineingehen, bis das Licht aufleuchtet, das er ersehnt. Wann dieser
glückliche Augenblick jedoch kommt, weiß er nicht, und niemand
kann es ihm sagen. Er hat nicht einmal die Garantie, daß er jemals
zum Licht kommt. Dies alles geschieht nicht nur beim Zazen, sondern
bei allen echten Versenkungswegen. Eines weiß man aber genau:
die Zeit ist nicht verloren, wenn man durchhält. Der Übende
bemerkt, daß sich sein Leben wandelt und er im Dienst seiner Mitmenschen
mehr tun kann, als wenn er diesen Weg niemals angetreten hätte.
Zanmai:
Weg der Versenkung
Das Zazen kann erstaunliche
und für jeden Menschen bereichernde Wirkungen hervorbringen. Diese
Wirkungen setzen voraus, daß man über die Anfangsschwierigkeiten
langsam hinweg ist und allmählich, später dauernd, in die
Versenkung kommt. Im Zen nennt man diesen Zustand „Zanmai“, ein Wort,
das aus dem Sanskrit kommt, nämlich von „samadhi“.
Wir wollen versuchen
zu erklären, worin der Zanmai besteht. Durch Erklärungen allein
kann man es zwar nicht ganz verstehen. Für ein volles Verständnis
ist die eigene Erfahrung notwendig. Die folgenden Überlegungen
werden uns zeigen, daß die Versenkung oder das Zanmai etwas ist,
das allen Religionen gemeinsam ist. Nur die Wege dahin sind verschieden.
Carl Albrecht, der sich phänomenologisch ausführlich mit der
Versenkung beschäftigte, sagt, diese bestehe in dreierlei:
1. Herauslösung
aus der Außenwelt,
2. Entleerung des
Bewußtseins,
3. Vereinheitlichung
des Bewußtseins.
Dieser Zustand war
den Mystikern von jeher bekannt. Als Beispiel führen wir den Benediktinermönch
Augustin Baker (1575-1641) an.
Baker hatte in jungen
Jahren ein großes Erlebnis, vernachlässigte es aber lange
Zeit. Später erfuhr er eine zweite Bekehrung und begann von neuem,
nach Vollkommenheit zu streben. Er meditierte täglich viele Stunden.
Der folgende Bericht spricht von der Art seiner Meditation.
1. Vereinheitlichung
der Seelenkräfte
Baker spricht in
der dritten Person und nennt sich „unser Schüler“. Er sagt: „Bei
Tauler, Harphius und anderen Mystikern lesen wir, daß jeder, der
ein geistlicher Mensch werden will, seine äußeren Sinne nach
innen ziehen muß und diese inneren Sinne in die Fähigkeiten
der höheren oder intellektuellen erheben und sie dort verlieren
oder vernichten muß. Dann müssen diese Fähigkeiten der
Seele sich in ihrer Einheit sammeln, die der Anfang oder die Quelle
ist, aus der diese Fähigkeiten fließen und sich ergießen.
In dieser Einheit ist der Mensch imstande, auf Gott ausgerichtet zu
sein und sich mit ihm zu vereinigen. Nun frage ich mich, ob das, was
unser Schüler euch gesagt hat, von seinen fortgesetzten Bestrebungen,
die danach zielten, alle seine Tätigkeit in das Innere des Körper
zu ziehen, nicht das gleiche ist, von dem die Mystiker reden.“
Der flämische
Mystiker Jan von Ruysbroek nennt diesen Vorgang ein Zurückkehren
der Seelenkräfte zu ihrem Ursprung. Teresa von Avila spricht von
einem Gebundenwerden der Seelenkräfte. Die erwähnte Einheit
wird von den Mystikern als Seelenspitze bezeichnet.
Im täglichen
Leben betätigen sich die Seelenkräfte - Gedächtnis, Verstand
und Wille - gewöhnlich einzeln, stehen aber miteinander in Zusammenhang.
Zum Beispiel kommt ein Entschluß dadurch zustande, daß man
sich an etwas erinnert, darüber nachdenkt und sich dann entscheidet.
Bei der Vereinheitlichung des Bewußtseins ist das anders. Dort
geschieht etwas im Seelengrund. Die Akte werden nicht gesetzt, sondern,
wie oben gesagt, aus der „geistigen Erde“ geboren. Während des
Zanmai im Zen verändert sich der Bewußtseinszustand in dem
Sinne, daß der innere Mensch mehr und mehr von der äußeren
Welt abrückt und seine Wahrnehmungen durch die Sinne sich nicht
voll auswirken. Man sieht und hört wie sonst, aber man wird dadurch
nicht abgelenkt. Auch die Schmerzempfindung ändert sich. Bisweilen
hören Schmerzen in den Beinen, die eben noch unerträglich
schienen, plötzlich auf. Schmerzen werden zum großen Teil
durch Verspannung verursacht. Tritt man in tiefes Zanmai ein, findet
eine völlige Entspannung statt, und die Ursache des Schmerzes wird
aufgelöst. Auch das Zeitgefühl ändert sich und geht gewissermaßen
verloren. Man bemerkt nicht, daß die Zeit vorübergeht, und
ist überrascht, daß die Meditation beendet ist, obwohl man
meint, sie habe gerade erst begonnen.
Trotz dieser auffälligen
Veränderungen sagen die Zenmeister, man nehme das eigene Zanmai
nicht wahr. Eigentlich ist das selbstverständlich, denn in diesem
Zustand ist die Subjekt-Objekt-Spannung mehr oder weniger aufgehoben.
Daher verliert man auch das Zanmai, wenn man über das, was man
empfindet, nachzudenken beginnt. Noch überraschender scheint es,
daß es auch außerhalb der Meditation ein Zanmai gibt, wie
wir bereits angedeutet haben. Es tritt ein, wenn man sich z.B. ganz
auf eine Beschäftigung konzentriert. Man spricht daher von einem
Zanmai der Arbeit. Dieses Zanmai wird im Zen höher geschätzt
als das während des Zazen. Schon mancher hat bei einer solchen
Gelegenheit die Erleuchtung erlangt, obwohl sie ihm zur Zeit der großen
Übungen (sesshin) trotz allen Eifers nicht zuteil wurde. Kann jemand
nicht beständig in einem Zenkloster leben und täglich viel
meditieren, dann sollte er täglich wenigstens etwas üben und
von Zeit zu Zeit die großen Übungen machen. Darüber
hinaus sollte er sich ganz konzentrieren auf das, was er gerade tut,
beim Essen auf das Essen, bei der Arbeit auf die Arbeit usw. Das ist
der Rat der Zenmeister. Bei allem soll man nicht nur körperlich,
sondern auch geistig ganz gegenwärtig sein. Wer dies tut, kann
vielleicht eines Tages die Erleuchtung erlangen. Er wird allerdings
feststellen, daß dies nicht so leicht getan wie gesagt ist. Zum
Beispiel darf man bei der Arbeit weder an Verdienst, noch an eigene
Ehre denken und sich auf Zerstreuungen nicht einlassen. Umgekehrt fördert
die Zen-Meditation die Konzentrationsfähigkeit. Arbeit kann so
zur Meditation werden. Manche Menschen bringen es so weit, daß
Arbeit zur Erholung wird. Was an Arbeitskraft verbraucht wird, wird
durch Meditation wieder aufgeholt. Dazu kommt ein Gefühl der Zufriedenheit,
wie man es während der Meditation erfahren kann, selbst wenn es
sich um eine rein mechanische Arbeit handelt. Solche Menschen brauchen
oft sehr wenig Schlaf.
Es ist also nicht
so, daß man während der Arbeit beständig an die Meditation
denkt und damit die Aufmerksamkeit spaltet. Meditation und Arbeit stimmen
negativ darin überein, daß alles, was nicht dazugehört,
ausgeschaltet wird. Positiv stimmen sie darin überein, daß
man ganz auf die Sache konzentriert ist. Der Unterschied besteht darin,
daß man im einen Fall auf ein Objekt, im anderen Fall ohne Objekt
konzentriert ist. Die objektlose Konzentration (Meditation) besteht
in einem „bedingungslosen Anhaften“ an dem Dunkel, in das man schaut“
(Carl Albrecht).
Um die zur Versenkung
gehörige Entleerung des Bewußtseins zu vollziehen, müssen
wir „alle übernommenen Theorien, psychologischen Konstruktionen,
alle bloßen Denkungen, Beurteilungen beiseite lassen.“ Das
ist problematisch in zweifacher Hinsicht. Zunächst regt sich in
uns ein Widersprach bei dem Gedanken, wir müßten alles an
geistigem Besitz, den wir uns mit vieler Mühe angeeignet haben,
einfach wegwerfen. Ferner schrecken wir davor zurück, uns sozusagen
in das Nichts zu stürzen. - Zum ersten ist zu sagen: Es heißt
nicht: „für immer wegwerfen“, sondern: „beiseite lassen“. Manche
Autoren behaupten, man dürfe z.B. nicht an irgendeiner Glaubenswahrheit
festhalten, sonst könne man das hier gesteckte Ziel nicht erreichen.
Mit anderen Worten: ein bestimmter religiöser Glaube, z.B. der
christliche, bilden ein Hindernis. Das ist nicht richtig. Richtig ist,
daß man sich während der Meditation nicht willentlich und
begrifflich mit irgendeiner Einzelerkenntnis beschäftigen darf.
Das bestätigt uns auch Johannes vom Kreuz. Es geht nicht darum,
daß man seinen Glauben wegwirft. Das tun auch die Zenmönche
nicht. Sie bleiben Buddhisten. Sie halten auch während der großen
Übungen, in denen fast den ganzen Tag meditiert wird, religiöse
Riten ein, die sinnlos wären, wenn nicht ein Glaube dahinter stünde.
2. Sturz in das
Nichts?
Wir kommen zum zweiten
Bedenken, dem Sturz in das Nichts. Zunächst muß zugegeben
werden: Dieser Sprung ist wirklich ein Wagnis. Dieses Wagnis aber muß
der Mensch irgendwann einmal auf sich nehmen, will er in das tiefe Zanmai,
d.h. in den Zustand kommen, der für die mystische Vereinigung im
christlichen Sinne erforderlich ist. In der christlichen Spiritualität
sah man hier häufig ein Problem. Man warnte davor, die vollkommene
Leere des Bewußtseins anzustreben, d.h. bei der Betrachtung bzw.
Meditation nichts zu denken. Das sei nicht nur sinnlos, sondern auch
gefährlich, weil schlechte Gedanken in diese Leere eindringen könnten.
Heute werden dazu noch Bedenken von der Psychotherapie angemeldet. Auf
dieses Problem ausführlich einzugehen würde zu weit führen.
Das Zen geht hier anders vor. Trotz der angedeuteten Gefahren besteht
Zen von Anfang an auf dem Nichtdenken. Die Hilfen, die beim Vollzug
des Zazen gegeben werden, haben keinen anderen Zweck, als das Nichtdenken
zu erleichtern. Die Zenmeister haben allerdings große Geschicklichkeit,
ihre Schüler an allen Klippen unbeschadet herumzuführen. Das
Problem, das die Psychotherapie hier anzeigt, wird im Zen offensichtlich
auf einem anderen Wege gelöst.
Irgendeinmal muß
der Durchbruch zum Grund erfolgen, damit man zur Erleuchtung kommt.
Das gleiche gilt für die mystische Erfahrung. Die christlichen
Mystiker früherer Zeiten haben dies mit Hilfe ihrer großen
Kasteiungen erreicht. Zen tut es in seiner Weise. Manchen Menschen wird
es anscheinend ohne eigenes Dazutun geschenkt. Wir dürfen annehmen,
daß etwas anderes, das nicht aus eigener Kraft stammt und das
wir Gnade nennen, mit im Spiel ist. Im Augenblick, in dem diese Erfahrung
da ist, wird sie immer als Geschenk empfunden.
Satori:
Erleuchtung
Da die Erleuchtung
das eigentliche Ziel des Zen ist, möchten wir einige Erklärungen
zum oben Gesagten hinzufügen, die uns ihre Bedeutung auch für
den westlichen Menschen verständlich machen können.
Eine begriffliche
Erklärung der Erleuchtung gibt es nicht. Sprechen wir trotzdem
davon, dann ist zu sagen, daß sie keine Einzelerkenntnis ist.
In diesem Sinne weiß man nachher nicht mehr als zuvor. Wohl aber
weiß man das bereits Gewußte in einer neuen Dimension. Als
ein Zenmeister gefragt wurde, ob man selbst merke, wann die Erleuchtung
da sein, sagte er: „Selbstverständlich; man sieht hundertmal mehr
als vorher.“ Ohne Zweifel wird in der Erleuchtung ein erfahrungsmäßiges
Wissen erlangt, nicht ein theoretisches. Theoretisches Wissen um Erleuchtung
und um das, was man in ihr erfährt, kann vorher schon da sein oder
nicht. Als Kosen Imakita, ein japanischer Zenmönch aus der Meiji-Zeit,
die Erleuchtung erlangte, rief er aus: „Eine Million Sutras sind nur
wie eine Kerze vor der Sonne.“
Fragen wir nun: Was
wird in der Erleuchtung erfahren? - Darauf kann man zwei Antworten geben:
1. Erfahrung
des Selbst
In der Erleuchtung
wird das Selbst, das tiefste Selbst, erfahren, im Gegensatz zum empirischen
Ich. Letzteres kennen wir alle. Wir führen es beständig im
Munde. Dieses Ich ist noch nicht der Personkern. Er ist überhaupt
nichts, das in sich existiert. Louis Gardet sagt, daß das Subjekt
bei dem Bemühen einer Selbstinspektion - die übrigens verschieden
ist vom Zen - den Eindruck haben kann, „daß es gleichsam am Mittelpunkt
seines Ich angelangt ist. In Wirklichkeit ereignet sich noch alles auf
der Ebene einer gedanklichen Erfahrung der Akte, was darauf hinweist,
daß ein primär Existierendes, das den Akten zugrunde liegt
und aus dem sie hervorgehen, sich noch gar nicht preisgegeben hat.“
Das Bewußtsein
des empirischen Ich ist beim Menschen nicht von Anfang an da. Es entsteht
erst durch die Erfahrungen, die das Kind macht. Langsam wird sich das
Kind bewußt, daß es von anderen Menschen verschieden ist.
Das ist der erste Schritt zur Bildung der Persönlichkeit. Das,
was hier zugrunde liegt, hat der Mensch noch nicht erfahren, wenigstens
nicht unmittelbar. Er kann höchstens auf das Vorhandensein eines
tieferen Selbst schließen. Erst in der Erleuchtung wird man sich
dessen zum ersten Mal bewußt. Dies ist die Erfahrung der eigenen
Existenz, die „unmittelbare Selbstwahrnehmung“. Von indischen Weisen
hören wir seit Jahrtausenden die Mahnung, wir sollten uns fragen:
„Wer bin ich?“ In neuerer Zeit war es der indische Weise vom heiligen
Berg Arunachala, Ramana Maharsbi (1879-1950), der seinen Schülern
immer wieder diesen Rat gab.
.
2. Erfahrung des
absoluten Seins
Die zweite mögliche
Antwort auf die oben gestellte Frage ist: In der Erleuchtung wird das
ungeteilte, absolute Sein erfahren. Dieses Sein kann apersonal oder
personal erfahren werden. Man wird heute kaum mehr in Frage stellen,
daß die Zen-Erleuchtung und andere ähnliche Erlebnisse in
nichtchristlichen Religionen echte Erfahrungen des Absoluten sind, wenn
auch nicht personal. Wären sie personal, so wären sie gleichbedeutend
mit der Gotteserfahrung im christlichen Sinn. Die Formung dieser Erfahrung,
vor allem aber der Versuch, sie in Begriffe zu fassen, ist nach der
jeweiligen Weltanschauung verschieden. Eine echte mystische Erfahrung
sträubt sich gegen jede Begrifflichkeit. Daher wird jeder, der
eine Deutung versucht, die ihm zur Verfügung stehenden Kategorien
zu Hilfe nehmen. Das führt leicht zu Mißverständnissen.
Der Buddhist erfährt
in der Erleuchtung zwar das tiefste Selbst, aber als eins mit dem absoluten
Sein. Er wird dadurch in seinem Glauben an die vollkommene Einheit allen
Seins bestärkt. Der Christ (oder wer an einen persönlichen
Gott glaubt) erfährt das Selbst nicht nur in sich, sondern auch
in seiner Beziehung zum absoluten Sein. Er erfährt Gott in seinem
Selbst. Die christliche Gotteserfahrung geht über das Selbst. Daher
wird das Selbst nicht in das Absolute „eingeschmolzen“. Im Gegenteil:
Die Gotteserfahrung ist für den Christen die Vollendung seiner
Persönlichkeit. Meister Eckhart sagt: „Da ist Gott mein Grund und
mein Grund Gottes Grund.“ Damit ist die für die christliche Mystik
typische Liebesvereinigung mit Gott angesprochen. Beide, der Buddhist
und der Christ, fühlen sich in ihrer Erfahrung von Furcht und Zweifel
befreit und erfüllt von tiefem Frieden und höchster Freude.
Die Beziehung zum Absoluten ist in beiden Fällen wesentlich vorhanden.
Es kommt uns hier nicht darauf an, näher festzustellen, wie die
Beziehung zum Absoluten im einzelnen bezeichnet wird, sondern darauf,
daß diese Beziehung mit unserem geschöpflichen Dasein gegeben
ist. Es nimmt daher nicht wunder, daß man das Phänomen der
Erleuchtung in ähnlicher Weise zu allen Zeiten und in allen Religionen
gefunden hat und auch noch findet.
Die Erleuchtung,
sei es im buddhistischen oder im christlichen Sinn, ist zweifellos eine
Erfahrung von hohem Wert - richtig verstanden die wertvollste, die dem
Menschen möglich ist. Es wäre aber ein Irrtum, daraus den
Schluß zu ziehen, daß damit alles geschehen sei, was zu
geschehen habe, man brauche jetzt nichts mehr zu tun. Was fehlt dann
noch?
Zunächst ist
zu sagen, es gibt Unterschiede zwischen den einzelnen Erfahrungen. Man
unterscheidet zwischen kleiner und großer Erleuchtung. Den Unterschied
kann man sich so vorstellen: Man sitzt in einem Raum hinter einer vollkommen
undurchsichtigen Glaswand und bohrt mit viel Mühe ein ganz dünnes
Loch, vielleicht so dünn wie eine Stecknadel, aber doch so, daß
es bis auf die andere Seite der Wand geht. Dementsprechend dringt ein
ganz dünner Lichtstrahl in den Raum. Doch man sitzt noch fast im
Dunkeln. Das wäre die kleine Erleuchtung. Eine Kleinigkeit genügt,
und das kleine Loch ist wieder verstopft. So weit sollte man es nicht
kommen lassen. Vielmehr sollte man weiter üben, damit mehr und
mehr Licht ins Zimmer kommt. Es kann dann ein neues Erleuchtungserlebnis
stattfinden; dadurch bricht auf einmal ein größeres Stück
aus der Wand heraus. Je häufiger das geschieht, desto mehr wird
es hell um uns. Bricht nun eines Tages nicht nur ein Stück aus
der Wand heraus, sondern verschwindet die ganze Wand, dann wäre
dies die große Erleuchtung.
Es ist eine Tatsache:
In den meisten Fällen wird beim ersten Mal nur eine kleine Erleuchtung
erfahren. Übt man viel, besteht die Aussicht, daß sich das
Erlebnis wiederholt. Die große Erleuchtung erlangen nur wenige
Menschen. Die Meister drängen daher darauf, nach der Erleuchtung
immer weiter zu üben. Es wäre geradezu ein Verhängnis,
wenn jemand, anstatt die Übungen fortzusetzen, sich etwas auf seine
Erleuchtung einbilden und andere, die kein solches Erlebnis gehabt haben,
geringschätzen würde. Da wäre es besser, er hätte
dieses Geschenk niemals erhalten. Aus diesen Zusammenhängen geht
hervor: Man darf nicht annehmen, mit der Erlangung einer kleinen Erleuchtung
sei man schon ein vollkommener Mensch. Wohl hat man jetzt neue Möglichkeiten,
rascher auf dem Wege zur Vollkommenheit voranzukommen.
Wir brauchen nicht
einmal zu betonen, daß die Dinge im christlichen Bereich ähnlich
liegen. Auch im Christentum gilt: mit dem Empfang einer mystischen Gnade
ist man noch längst kein Heiliger. Ost und West stimmen auch darin
überein: Die letzte und vollkommene Auswirkung der Erleuchtung
bzw. der mystischen Gnade besteht darin, daß der Mensch in allem
vom Absoluten gelenkt wird. Er steht dann jenseits von Gut und Böse
in dem Sinn, daß er keines Gebotes mehr bedarf, keiner Regel,
nach der er sich ausrichten müßte. Konfuzius sagte von sich,
daß er mit siebzig Jahren nur dem Zuge seines Herzens zu folgen
brauchte und keiner Regel mehr bedurfte. Ähnliche Stellen finden
wir im christlichen Raum, z.B. bei Johannes Tauler. Von erleuchteten
Menschen sagt er, „die Tugend würde ihnen so leicht und lichtvoll,
als sei sie ihr Wesen und ihre Natur geworden“. Und was die Wirksamkeit
des Menschen betrifft, „weiß er augenblicklich, was er tun soll“.
Noch ein anderer
Hinweis soll im Anschluß an die Erleuchtung gegeben werden. Liest
oder hört man von Erleuchtungserlebnissen großer Meister,
ist man voller Bewunderung und fühlt vielleicht ein Verlangen,
auch ein solches Erlebnis zu haben. Im gleichen Augenblick rückt
jedoch diese Aussicht in weite Ferne, da man nicht zu hoffen wagt, daß
dies jemals Wirklichkeit wird. Dazu möchten wir sagen: Es ist nicht
so aussichtslos, wie es scheint, eine kleine Erleuchtung zu erlangen.
Es müssen nur die Bedingungen dafür geschaffen werden, vor
allem voller Einsatz und richtige Führung. Es ist gar nicht selten,
daß Europäer durch Zenübungen Erleuchtungen erlangen.
Was uns noch hoffnungsvoller machen sollte, ist die immer deutlicher
sich abzeichnende Entwicklung des Menschen in Richtung einer neuen Dimension.
Die Erleuchtung liegt in dieser Richtung. Das gilt auch von den Erfahrungen
christlicher Mystiker. Mit Recht kann man sagen: Was früher Sache
weniger begnadeter Menschen zu sein schien, gilt heute für viele.
Der Mensch der Zukunft sollte Mystiker sein. Nur so kann er die Chance
nützen, die ihm gegeben ist.
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