Predigten

 

Heilsame Vorwürfe

Predigt über Offb 3,1-6 am 3. Adventssonntag 16.12.2001 - 10.00 Uhr in der Ev. Eberhardsgemeinde Tübingen vom katholischen Amtsbruder Pfr. Thomas Steiger

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

ich sehe mich schweren Vorwürfen ausgesetzt, Vorwürfen, die ins Mark meines Glaubens gehen, ans Eingemachte, sozusagen. Und das alles nur deshalb, weil ich mich heute mit Ihrer evangelischen Predigtreihe konfrontiert sehe, mit einem Wort Gottes, das bei uns, soweit ich weiß, gar nie dran ist, dem ich also ansons-ten ausweichen kann, dem ich mich nicht stellen muß meiner Gemeinde gegen-über und über das ich weglesen kann im Privaten. Heute aber nicht! Froh bin ich lediglich und etwas getröstet, daß ich die Vorwürfe mit Ihnen allen teilen kann. Sie treffen nicht ausschließlich mich, sondern jeden Leser, oder, was dem Ver-fasser wohl näher käme, jede Hörerin, jeden Hörer.
Also: Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt:
> Offb 3,1-6

Die Vorwürfe der Johannes-Apokalypse - ich finde sie vehement:

- Daß wir nur vordergründig leben, dem schönen christlichen Schein nach, getauft, ja, und auf dem Papier evangelisch, Taufscheinkatholik, Kirchensteuerzahler und Religionsunterrichtteilnehmer, Gottesdienstzuhörer sogar. Die Wahrheit aber steht auf einem anderen Blatt: Du bist eine lebende christliche Leiche, ein toter Christ!

- Weiter, und nun schon konkreter: Du tust nicht genug! Übersehen ist deine Stärke und Bequemlichkeit. Viel mehr könntest du schaffen, besser leben nach dem Evangelium, mehr helfen, großzügiger teilen, fleißiger beten.

- Mehr noch: Sogar an die Lehre Gottes müssen wir erinnert werden, als ob wir keine Bibel zuhause hätten, nicht darin läsen, sie nicht Sonntag für Sonntag hier hörten, weil wir sie zwar kennen, aber nichts davon, zuwenig in jedem Fall, in die Tat umsetzen.

- Schließlich, der Gipfel: Wir werden als "Schlafmützen" betitelt, als verschla-fene Christen, die den kairos, den Zeitpunkt, auf den es ankommt, verpassen. Die Wiederkunft Christi, seine zweite Geburt in uns, in dieser Welt, die alles endgültig und definitiv richten wird, spielt keine Rolle in unserem Zeitplan des Lebens. Fazit: Wir leben in den Tag hinein - und behaupten auch noch das Gegenteil!

Liebe Brüder und Schwestern, Johannes, der große Apokalyptiker, der Vorausseher mit Gottes Augen, nimmt kein Blatt vor den Mund. In seinen Sendschreiben an sieben christliche Gemeinden in Kleinasien, von denen wir heute dem fünften nach Sardes als Predigttext uns gegenüber sehen, appelliert er daran, die Zeichen der Zeit sehr ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen und sich gegen die Anfechtungen im eigenen Inneren zu wehren. Mit prophetischer Stimme mahnt er den Christen, wirklich Christus als Vorbild zu nehmen, nicht bloß dem Namen nach, sondern mit allen Konsequenzen, mit Herz und Sinn und Hand. Außenstehende mögen den Eindruck gewinnen, es handle sich um lebendige Gemeinden, in Sardes, in Eberhard, in St. Michael. Dabei läßt ihr religiös-moralischer Zustand zu wünschen übrig. Die Entscheidung für Gott ist noch immer nicht mit letzter Konsequenz gefallen. Nicht vollwertig, sagt Christus - denn ihn läßt Johannes ja hier sprechen - nicht vollwertig sind unsere Taten, obwohl wir doch Gottes Wort kennen.

Aber: Ist es realistisch anzunehmen, daß wir überhaupt mehr zuwege bringen? Was denn noch? Sehr adventlich, vorweihnachtlich ist das alles nicht, wie es scheint. Die Konstrukteure Ihrer evangelischen Leseordnung hingegen müssen dieser Meinung gewesen sein, sonst hätten sie ja den Text nicht für den III. Ad-ventssonntag vorgesehen. Und in der Tat läßt sich darin wohl, wie ich zu zeigen versuchen werde, ein Sinn der Vorbereitung auf die Geburt Gottes erkennen; einen Sinn, den wir schon schwer wahr haben, der im Hinblick auf die adventliche Wahrnehmung der sich insgesamt Christen Nennenden sogar völlig fremd erscheinen muß: Der Gedanke an Weihnachten soll nicht beruhigen, sondern aufregen, wach rütteln.

Wo nun aber bin ich tot, wo liegt etwas im Sterben, das lebendig sein könnte, und wo gilt es deshalb, wach zu sein als Gemeinde, um die Ankunft Gottes nicht zu verpassen, sein Kommen, das in Glaubenswirklichkeit jeden Tag geschieht, das wir an Weihnachten lediglich sozusagen stellvertretend einmal im Jahr feiern?

- Der Frage nach dem eigenen Glaubenstod muß sich jeder von uns stellen, wenn möglich in der persönlichen Gewissenserforschung Tag um Tag. Über-all dort, wo wir das Richtige wissen und es nicht tun, das Erkannte nicht um-setzen, stirbt Gottes Wort in uns einen solchen Tod und wir als ganzer Christ mit ihm.
Ich will Ihnen ein Beispiel von mir geben, um plausibel zu machen, was und wie ich es meine: An vielen Stellen im Evangelium wird Jesus als eine Person beschrieben, die für andere Zeit hatte, und zwar stets so viel, wie nötig war, um sein Gegenüber zu heilen, ihn zu versöhnen, ihm neuen Lebensmut zu schenken, immer also bis zum entscheidenden Knackpunkt, an dem der Verletzte heil zu werden begann. Bei der Sünderin ist das so, bei Zacchäus dem Zöllner, auch in der Begegnung der Emmaus-Jünger und im Gleichnis vom verlorenen Schaf. Auf diese Weise, im langmütigen Umgang, im Nachgehen und Nachgeben verkündet Jesus einen geduldigen Gott. Dieses Lebensgesetz der frohen Botschaft ist zwar in meinem Kopf vorhanden, ich habe es theoretisch begriffen, aber im täglichen Umgang mit anderen ist nur sehr wenig davon übrig geblieben. Die Ungeduld, die ich statt dessen nicht selten an den Tag lege, meine Rastlosigkeit, das Schnell-schnell und die Unfähigkeit, etwas von dem ich nicht überzeugt bin, stehen lassen zu können, führt zum Tod in mir, auch zum Tod Gottes, zum Tod des Nächsten. Johannes schreibt: Denk also daran, wie du die Lehre empfangen und gehörst hast. Halte daran fest und kehr um! Eigentlich wissen wir doch, worauf es ankäme ... Suchen Sie sich, liebe Schwestern und Brüder, jetzt in einem Augenblick der Stille doch selber so einen eigenen Punkt, wo sie in den kommenden acht Tagen bis Weihnachten stärken, was noch übrig ist, was aber schon im Sterben lag.

- Für unsere Gemeinden nun gilt das gleiche Prinzip. Auch hier gibt es genügend Erkenntnis Gottes, theologisch-hauptberuflicher und ehrenamtlich-theologischer Natur. Und es ist ja durchaus nicht so, als hätten wir nichts vorzuweisen; auch in Sardes war dies vor 1800 Jahren der Fall. Es gibt dort weißes, unbeflecktes, reines. Und es wird von Johannes angenommen, - das ist das zweite Wichtigere in dieser Situation - daß ein Sieg noch immer möglich ist im Kampf gegen das Tödliche, wo immer es sich breit macht. Die evangelische Eberhardsgemeinde in Tübingens Süden wird ihre Akzente gesetzt haben, und stets neue in dieser Hinsicht setzen, so wie dies die Katholiken in Michael auch tun: mit Kindern und Alleinerziehenden, im Kampf gegen Aids in unserer Partnergemeinde in Sambia, in kleinen täglichen Hilfszeichen gegen Einsamkeit, Krankheit und Alter. Am besten noch können wir beide Gemeinden miteinander unser Engagement für die Familie Güler anführen, als unseren hautnah erlebbaren Beitrag gegen tödliche Ignoranz in unserem Staat, gegen die der wache Christ in seiner Sorge ums Leben sich wehren muß.

Aber - und das wissen Sie so gut wie ich - es wird auch Schwaches und Sterbendes in Ihrer Gemeinde geben, wie drüben in Michael, und manchmal wenig "Vollwertiges" in unseren ökumenischen Beziehungen als Christen gemeinsam. Wo gilt es endlich aufzuwachen, wo ist es höchste Zeit, Schwaches zu stärken?

Ich habe die drei Mädchen und drei Jungs aus meiner Firmgruppe am letzten Freitag, also vorgestern, gefragt, von was ein Gottesdienst unmittelbar vor Weihnachten sprechen muß. Nach dem üblichen, z.T. hartnäckigen Schweigen, meinte einer zaghaft: von der Krippe. Einen Augenblick habe ich gestrauchelt, ob er das ernsthaft meint oder ob das nur eine Not-Antwort ist, aber dann war ich fasziniert von seiner Direktheit. Ja, von der Krippe muß die Rede sein, von dem Ort, in den hinein Gott geboren wird, nicht von Bethlehem, nein, von Tübingen, von St. Michael und Eberhard, und von uns selbst muß die Vorbereitung, muß der Advent handeln.

- Die Krippe also, gemeinsam leuchtete uns das ein, die Krippe muß hergerichtet werden. Nur, wie muß sie aussehen? Auch hier gaben die Jugendlichen spontan einleuchtende und schlagende Antworten, Ant-worten, die mit dem korrespondieren, wie ich finde, was Johannes gestärkt sehen will in seinen Gemeinden.

- Die Krippe muß nahe sein, nicht in Bethlehem, hier in Tübingen muß sie ste-hen, in meinem Zimmer zu Hause. > Gelingt es uns gut genug, den Men-schen, die zu uns kommen, Nähe zu schenken, Verständnis für ihre spezifi-schen Probleme, ihre einmalige innere Not?

-
Die Menschen müssen bereit sein für die Krippe, sich bereit machen, durch ihre innere Einstellung; eine möglichst große Offenheit paßt zur Krippe - für alles, v.a. für andere Menschen. > Sind wir nicht oft genug immer noch ein abgeschlossener Christenhaufe, in den neue, fremde, andersdenkende Menschen kaum Eingang finden?

- Die Krippe sollte bunt sein, voller Leben, so wie das Leben eben ist, wie es Menschen mitspielt, wo es sie hinführt. > Ertragen wir solch eine Vielgestaltigkeit in unseren Gemeinden, oder verlangt es uns eher nach dem Einheitschristen; akzeptieren wir die unterschiedlichen Wege, auf denen Men-schen sich Gott annähern wollen?

- Schließlich sollte die Krippe weich und warm ausgestattet sein. Wer ihr begegnet, sollte dort Geborgenheit erfahren. > Wem geben unsere Christenversammlungen Heimat? Bieten sie das überhaupt?

In acht Tagen ist Weihnachten, wieder einmal, für mich das 37. Mal. Wenn ich das Schreiben der Offb als Wort Christi an mich heute ernst nehme, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als wenigstens in einem Punkt meine sprichwörtliche christliche Schlafkrankheit zu überwinden. Es bedarf der Umkehr nicht bloß auf dem Papier oder im Kopf, sondern in der Tat, in den Werken. In meinem Fall werde ich also versuchen, geduldiger zu sein, mit anderen und auch mit mir selbst. Und ich hoffe sehr, liebe Schwestern und Brüder, Sie treffen mich demnächst nicht gerade in einer gegenteiligen Verfassung an. Wenn doch, dann ermahnen Sie mich mit meinen eigenen Worten - oder noch besser, mit denen des Johannes:

Ich kenne deine Werke. Dem Namen nach lebst du, aber du bist tot. Werde wach und stärke, was noch übrig ist, was schon im Sterben lag.

Daß wir dazu überhaupt in der Lage sind, dazu hat Gott uns befähigt, begabt an Weihnachten, vor 2000 Jahren, in der seiner persönlichen Menschwerdung, in Jesus von Nazareth, dem wir unseren Namen verdanken.. Er hat mit seiner Liebe alles Tödliche besiegt, damit wir es ihm gleich tun können. Wenn wir dazu bereit sind, wird Weihnachten sein - am 25. Dezember, heute, an jedem Tag.

Amen.



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