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Das Leib- und Seele-Gespräch: Publik-Forum Nr. 23-2003, S. 64-66

"Heute brauche ich diesen Glauben nicht mehr"

Gott, der Schöpfer? Ein Name, der ihre Kindheit prägte, aber nicht ihr Leben bestimmt. Fragen an die spirituelle Ökologin Joanna Macy

VON IRENE DÄNZER-VANOTTI

PUBLIK-FORUM: Sie haben Rilke ins Englische übersetzt. Welches Gedicht mögen sie besonders?

JOANNA MACY (zitiert auswendig): Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen / Die sich über die Dinge ziehn / Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen / Aber versuchen will ich ihn.

PUBLIK-FORUM: Das mag ich auch. Sie sehen den Zusammenhang alles Lebendigen in jedem Moment. Wie empfinden Sie das jetzt zu Beginn unseres Gesprächs?

MACY: Mir ist das Lebensnetz bewusst, in dem wir einander begegnen. Ich habe Sie noch nie gesehen, und doch lieben wir beide ein Gedicht von Rilke. Außerdem bin ich gerne in Deutschland. Vom Umgang der Deutschen mit ihrer Schuld kann mein Land, die USA, viel lernen. Amerikaner haben Panik vor der Schuld. Als Nation sind wir unfähig, uns zu entschuldigen. Als Präsident Bush aufgefordert wurde, sich für Hiroshima zu entschuldigen, war er entsetzt: Keinesfalls!

PUBLIK-FORUM: Was ist der Ursprung Ihrer Arbeit?

MACY: Das, was ich "Verzweiflungsarbeit" nenne. Es geht darum, die Wahrheit über das auszusprechen, was in der Welt geschieht. In Gruppen will ich eine Atmosphäre schaffen, in der Teilnehmer die Verletzungen der Welt in Worte fassen können. Das ist ein starkes Heilmittel in einer Welt, in der Verdrängung herrscht.

PUBLIK-FORUM: Worüber sind Sie jetzt, im Herbst 2003, am tiefsten verzweifelt?

MACY: Über die militärische Aggression der USA auf der Welt, den Militarismus in meinem Land, die Unterdrückung der Demokratie in den USA.

PUBLIK-FORUM: Wenn Sie dies nun so aussprechen: Worin liegt dann der heilende Effekt?

MACY: In meiner Heimat herrscht zur Zeit eine Atmosphäre von Angst. Es heißt, patriotische Menschen würden ihre Regierung nicht kritisieren. Deshalb wollen viele Menschen jetzt die Wahrheit aussprechen, um Klarheit und Ehrlichkeit zu gewinnen und sich in wahrhaftige Verbindungen zu begeben, Verbindungen von Herz zu Herz. Nach dem 11. September hat meine Arbeit an Bedeutung gewonnen.

PUBLIK-FORUM: Beschäftigen Sie sich in erster Linie mit politischen Fragen?

MACY: Nein, das war der Anfang - und ist jetzt in den USA nötig. Seit den 80er Jahren ist eher Ökologie für uns wichtig: Wir haben eine "Konferenz des Lebens" für die gemeinsame Existenz aller Lebewesen :gegründet: Es geht darum, zu erkennen, dass alle Wesen verbunden sind. Der buddhistische Tich Nhat Hanh nennt es "Intersein". Diese Überzeugung ist meine Grundlage.

PUBLIK-FORUM: Welche Verbindung haben Sie zu Ihren Gegnern, sagen wir zu Bush ?

MACY: Ich nenne sie Widersacher: Hier hilft es mir, in Systemen zu denken. Ich sehe, dass sie selbst in Systemen leben, etwa den großen ßen Unternehmen. Sie sind die Ursache für das Leiden, nicht Rumsfeld oder Bush selbst. Die dienen nur diesen wirtschaftlichen und politischen Systemen, sind ihre Gefangenen.

PUBLIK-FORUM: Was war ein wichtiger Akt des Widerstandes für Sie?

MACY: Ich halte sehr viel von der Antiglobalisierungsbewegung. Ihre Kraft habe ich mit meiner Familie 1999 in Seattle erfahren. Wir waren zu hunderttausenden auf der Straße, und es gelang uns, die Konferenz der Welthandelsorganisation zu sprengen. Viele meiner Kollegen und Freunde gestalten das, was ich die erste Dimension des großen Wandels nenne. Sie stemmen sich gegen das Zerstörungswerk der industriellen Wachstumsgesellschaft. Sie schützen die Wälder, den Boden, der noch nicht dahingeschwunden ist durch Erosion, sie verhindern, dass Atommüll gelagert wird, und so weiter.

PUBLIK-FORUM: Das sind einfach Aktionen der Friedens- und Ökobewegung. Worin sehen Sie Zeichen eines großen Wandels?

MACY: In meinem jüngsten Workshop sollten die 39 Teilnehmer erzählen, welche Veränderungen ihnen einfallen. Was es da schon alles gibt! Gruppen, die wieder Tauschwirtschaft betreiben, Bio-Landwirtschaft, Solarsiedlungen. Viele Menschen messen Wohlstand danach, wie nachhaltig er ist. Alte Heilmethoden werden angewandt. Da lernen wir wieder von den Ureinwohnern. Auch unsere Workshops sind ein Ausdruck des Wandels, denn wir praktizieren eine lebendige Bildung. Vor allem aber wandelt sich das Bewusstsein. Die Menschen legen wieder Wert auf ihr spirituelles Leben. Und sehen die Erde als einen großen Organismus, um den wir uns kümmern in der "Tiefenökologie". Da hat sich viel getan. Als ich vor 50 Jahren studierte, wurde von all diesen Dingen kein Wort gesprochen, nicht ein Wort.

PUBLIK-FORUM: Welche Dimension hat der Wandel?

MACY: Ich bin der Auffassung, dass wir in der größten geistigen Revolution der vergangenen 2000 bis 3000 Jahre stehen. Und es geschieht sehr schnell. Manchmal sehen wir es nicht, weil das alles in den von der Industrie kontrollierten Medien nicht vorkommt.

PUBLIK-FORUM: Intellektuelle halten das, was Sie Revolution nennen, oft auch für Humbug.

MACY: Ja, deshalb ist es ja gerade so wichtig, dass die Menschen mit ihrem Radarsystem wahrnehmen, was geschieht. Das wärmt ihre Herzen (wörtlich: "It heartens them"; Anmerk. Der Red.). Dann kommt es darauf an, an diese Bewegung zu glauben und ihr die eigene Energie zu schenken - und zwar ganz unabhängig davon, ob sie sich durchsetzt. Wenn wir leben und handeln, ohne vom Erfolg dieser Handlungen abhängig zu sein, sind wir wirklich frei.

PUBLIK-FORUM: Was ist eigentlich Spiritualität für Sie?

MACY: Ehrlich gesagt, mag ich das Wort nicht. Es wurzelt in der Überzeugung von der Trennung von Geist und Dingen. Der Geist (spirit) steht danach außerhalb der Natur, des Fleisches. Diese hierarchische Betrachtungsweise hat uns in schwere Probleme geführt. Deshalb sage ich lieber: Ich glaube daran, dass die Erde geheiligt und dass dieser Augenblick heilig ist. Ich stimme Rabbi Ibrahim Herschel zu, der sagte: Sein ist ein Segen, Leben ist heilig.

PUBLIK-FORUM: Wie leben Sie Ihre Überzeugung?

MACY: Es gibt wunderbare Hilfsmittel, die sich uns jetzt mehr und mehr erschließen. Ich bin tief beeinflusst von der Lehre des Buddha, von den Gedanken über das Zusammenwirken alles Lebendigen. Wichtig sind mir die Übungen der Achtsamkeit des Geistes, die Meditation und alle Übungen, mit denen ich in meinem Handeln Liebe und Zuneigung ausdrücken kann. Wir sind schon reich beschenkt! So drücken wir zu Beginn jedes Workshops auch unsere Dankbarkeit aus. Das ist ein wirkungsvolles Instrument, um die Freude am Leben, die Begeisterung immer wieder zu entdecken - und zwar eine Freude, die unabhängig ist von äußeren Umständen. Dankbarkeit ist die erste religiöse Erfahrung, aus der sich alle weiteren ableiten. Und wenn wir dies üben, gelangen wir zu einem Gefühl des Sattseins - und das ist in der industriellen Wachstumsgesellschaft schon subversiv, denn sie lebt davon, dass wir niemals genug haben und uns unzureichend fühlen.

PUBLIK-FORUM: Ist Unzufriedenheit unser größter Feind?

MACY: Die größte Gefahr ist, dass wir uns von unserer Liebe zum Leben abschneiden, die doch mit dem Eros verbunden ist, mit dem Urbedürfnis, das Leben zu erhalten. Sehen Sie: Die USA führen jetzt einen Atomkrieg. Wir werfen hunderte Tonnen abgereicherten Urans (nicht als Bomben, sondern als Schmiermittel in den Waffen; Anmerk. Der Red.) über dem Irak ab. Wir schicken unsere jungen Leute dahin. Wir könnten ja noch sagen, die Iraker gehen uns nichts an - aber unsere Leute! Wir wären dazu gar nicht fähig, wenn wir unsere Liebe zum Leben spüren würden. Zu der gelangen wir durch die Verzweiflung.

PUBLIK-FORUM: Um durch die schmerzhafte Erkenntnis neue Wege zu finden?

MACY: Ja. Die Menschen glauben, die Trauer und Wut, die sie angesichts des Zustandes der Erde spüren müssen, würde sie überwältigen. Aber sie werden nicht darin verharren - wenn die Gefühle einmal ausgesprochen sind, wandeln sie sich.

PUBLIK-FORUM: In Deutschland sorgten sich in den 80er Jahren viele Menschen um die Erde. Die Wirtschaftskrise hat das Thema inzwischen weit gehend verdrängt. Wie sehen Sie solche Entwicklungen?

MACY: Es mag Jahre geben, in denen die Aufmerksamkeit größer ist als in anderen. Aber hier ist doch noch viel Kreativität für die Welt. Ich war in München bei der Schweisfurth-Stiftung. Da arbeiten sie unermüdlich, um Beweise für die Gefahren durch genetisch veränderte Lebensmittel zu erbringen.

PUBLIK-FORUM: Aber was empfehlen Sie Menschen, die jetzt unter der Krise leiden?

MACY: Sie sollten sehen, dass das ganze System krank ist. Dann können sie vielleicht durchatmen und ausprobieren, welchen Beitrag sie für den Aufbau einer Welt jenseits der wachstumsorientierten Industriegesellschaft leisten können. Natürlich kann das nicht jeder. Und trotzdem ist es wichtig - wie wir das nennen -, in die Tiefe der Zeit zu schauen und unsere heutige Situation mit den Augen derer zu betrachten, die in sieben Generationen folgen werden. Im Workshop machen wir Fantasiereisen in die Zukunft und schreiben von da aus einen Brief an uns selbst im Jahre 2003, um uns Aufträge für heutiges Handeln im Namen der Zukunft zu geben. Wer diese Verwandtschaft mit den folgenden und den vergangenen Generationen gespürt hat, bekommt das Gefühl, zum Großen und Ganzen zu gehören.

PUBLIK-FORUM: Glauben Sie an Gott als den Schöpfer des Seins?

MACY: Ich bin mit diesem Glauben aufgewachsen. Aber heute brauche ich ihn nicht mehr.

PUBLIK-FORUM: Was brauchen Sie jetzt?

MACY: Freude, Liebe für das Leben, Dankbarkeit. Verbindung mit künftigen Menschen. Eine meiner Lehrerinnen, eine katholische Nonne und Radiologin, sagte, jedes Wesen, das jemals auf der Erde leben wird, ist jetzt schon da. In unseren Zellen, den Genen. Die Zukunft ist hier. Sie kann uns beflügeln, all die einfachen Dinge zu tun, die das Leben erhalten.


Joanna Macy, 74, ist amerikanische Kämpferin für eine lebensfreundlichere Welt. Sie setzt mit ihrem Kampf beim einzelnen Menschen an und hat Übungen für Workshops entwickelt, mit deren Hilfe die TeilnehmerInnen Initiativen für ihr Handeln gewinnen können. Am Anfang steht dabei das Erkennen, Anerkennen und Aussprechen der Gefahren für das Leben auf der Erde. Macy lehrt buddhistische Praktiken. Sie ist eine energievolle, heitere Frau, die darauf vertraut das derzeit ein großer Wandel für ein besseres Leben im Gange ist. Sie hat Gedichte von Rilke ins Englische bzw. Amerikanische übersetzt. Ihr ,jüngstes Buch - mit Anleitung zu Übungen - heißt: "Reise ins lebendige Leben" (Jungfermann). Das Gespräch mit Macy führte Dänzer-Vanotti in englischer Sprache und übersetzte es ins Deutsche. Kontakt: http://www.joannamacy.net und http://www.tiefenoekologie.de.


Das Buch "Die Reise ins lebendige Leben" von Joanna Macy ist über den Publik-Forum-Bücherdienst zu beziehen, Bestell: Nr. 5844:
http://www.publik-forum.de

 

 

 


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