Fragen und Antworten

 

 

 

 

Am 9. Dezember 2007 schrieb uns Frau S.:


Frage zu Religiosität und Gott'person'

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich habe soeben Ihre Seite gefunden mit Ihrem engagierten virtuellen Fragen-und-Antworten-Angebot und danke sehr herzlich für Ihre investierte Mühe und Zeit bei einlangenden Fragestellungen. Meine Fragen werden wohl ein wenig konfus und womöglich nicht ganz konkret anmuten, ich hoffe, ich werde mich dennoch in meinen Zeilen verständlich machen können, welche Gedanken mich bewegen. Auch möchte ich mich dafür entschuldigen, falls meine Fragen 'dumm' klingen, ich hatte mich bisher noch niemals mit religiösen Fragen beschäftigt, doch ich vertraue einfach darauf, dass keine Frage dumm ist, solange sie aus einem wahren und aufrichtigen Interesse entspringt.

1. Ich hatte bisher, auch durch meine Erziehung, recht wenig Bezug zu Religion und Kirche, hätte mich bisher wohl als Atheistin oder zumindest Agnostikerin beschrieben, von Kindesbeinen an wurde mir in der Kernfamilie gelehrt, Religiösität wäre Humbug, bloß instabile und labile Menschen, die nach irgendeinem Halt suchen würden, die sich nach einer Stütze sehnen, die gescheitert sind, diese Verlierer würden nach einem Strohalm als Notbehelf suchen, auch nach einer Flucht aus der Wirklichkeit, um sich aufzurichten, seien es Drogen oder eine Sekte oder auch ein etablierter religiöser Glaube wie das Christentum. Nun bin ich aber kein Mensch, der nach einem Halt sucht, der hilflos durch das Leben schwappt und sich auf irgendetwas stützen möchte, doch ich hatte letztens bei einer Exkursion in einem Kloster (ich bin 18 und habe zu studieren begonnen) einige beeindruckende Erlebnisse und Empfindungen, ich erlebte Mönche und lernte sie in Gesprächen kennen, (die mir nicht als gescheiterte Existenzen vorkamen, so wie es in meiner Familie heißt), auch hatte ich wie von Zauberhand Gefühle im Brustkorb, die sich ausbreiteten und mich vollkommen ausfüllten, dass es etwas Größeres gibt als wir alle, ein Gefühl von Anwesenheit personifizierter Liebe und Glaube und Hoffnung, eine übersäkuläre Macht, die sich sanft über alles legt und in jeder Winzigkeit enthalten ist. Nun bin ich im Zwiespalt, gefangen zwischen den Prägungen aus meinem Elternhaus und diesem tief empfundenen Erlebnis. Kann es denn tatsächlich sein, dass nicht nur labile und selbstunsichere, haltlose Menschen auf der Suche nach irgendwas Beliebigen, das imaginär Halt gibt, an Gott glauben, sondern einfach, weil es aus einem Fühlen und Empfinden entspringt und sich als wahr anfühlt? (Wenn diese Frage sich unsinnig liest, bitte ich wie gesagt um Entschuldigung, keinesfalls möchte ich irgendjemanden beleidigen, doch mit welchen Vorstellungen ich aufgewachsen bin, habe ich bereits beschrieben, daraus resultiert eben eine solche Frage).

2. Denken religiöse Menschen, dass Gott ein Mensch ist? Denn sollte es so sein, könnte ich mich Religiösität nicht mit dem Herzen annähern. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass erwachsene Menschen der Meinung sein könnten, es gibt irgendwo einen unsichtbaren Menschen (mit Organen, einem zentralen Nervensystem, einem Verdauungstrakt etc, auch alles unsichtbar), der auf einer Wolke sitzt. In mir verfestigt sich eben seit kürzester Zeit das Empfinden, dass jenes, was wir Gott nennen, alles ist, was ist, alles Erlebbare und Erfahrbare, die Wirklichkeit und alles in ihr, das Fühlen, das Staunen, Freude, Kummer, Schmerz, Trauer, Leid, Glück, die Essenz jeder Situation und der Inhalt dessen, was wir Zeiteinheit nennen, die Liebe und die Hoffnung und jedes sich abspielende Gefühl im Herzen, die Atmosphäre des Sonnenaufgangs, der Geruch des Regens, das Gefühl von Steinchen unter den Schuhsohlen, zufällige Blicke von unbekannten Passanten, die Aggregatzustände von fest, flüssig, dampfförmig, die Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft...die Liste lässt sich unendlich erweitern, ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was ich meine, am meisten trifft es immer noch der Ausdruck: alles, was ist. Aber da es ja in der Bibel heißt, Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild, wird geglaubt, Gott wäre ein unsichtbarer Mensch und hat einen Menschenkörper und wäre als Mensch, als Person ansprechbar, oder?

Ich danke vielmals dafür, von Ihnen eine Antwort auf meine Gedanken bei Kirch ums Eck zu erhalten,

mit herzlichen Grüßen,
S.


Unsere Antwort:

Liebe S.,
vielen Dank für Ihren mutigen Brief. Wir müssen Ihnen zustimmen: Man kann gar keine dummen Fragen stellen, weil es sie nicht gibt. Am allerwenigsten im Bereich dessen, was wir als "übersinnlich" bezeichnen. Es gibt viele Fragen, die erst dann Leben und Sinn bekommen, wenn man die konkret erfahrene Welt der Gegenstände übersteigt. Denn diese Welt des Dinglichen und "Wirklichen", von der viele Menschen glauben, dass nur sie einem Halt und Sicherheit gibt, stellt sich sehr oft als ziemlich unsicher heraus. Es sind meist die tiefer Gehenden und Suchenden, die in existenziellen Krisen stabil und sicher weiterschreiten.
Gerade die moderne (Natur-)Wissenschaft zeigt ja, dass das "Empirische", also das sinnlich Erfahrbare und Messbare, Grenzen hat; dass es relativ ist und nicht so einfach als "objektiv" oder "wahr" zu erkennen ist. Und hat nicht auch die Kunst eine Wahrheit? Und ist das, was Sie erlebt haben ("ein Gefühl von Anwesenheit personifizierter Liebe und Glaube und Hoffnung") ein irreales Hirngespinst, nur weil es empirisch-mathematisch nicht feststellbar ist? Das Schöne (Ästhetik) und das Gute (Ethik) gehören ebenso zum Menschsein wie das Wahre. Das lehrt uns die Philosophie schon fast 2500 Jahre. Denker wie Pythagoras, Platon oder Aristoteles waren ja alles andere als "nur labile und selbstunsichere, haltlose Menschen". In Anbetracht der wissenschaftlichen Erkenntnisse dieser Philosophen sind eher jene dem Verdacht ausgesetzt, arrogant oder kurzsichtig zu sein, die das Übersinnliche ablehnen und nur das überprüfbare "Wissen" gelten lassen. Der berühmte Satz des Philosophen Sokrates "Ich weiß, dass ich nichts weiß" hat seine Gültigkeit auch heute noch nicht verloren. Nach dem oder neben dem Bereich des Wissens beginnt das Gebiet des Glaubens, also des Annehmens als "wahr" von Gegenständen jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren. Und es gibt bereits sehr viel im Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft (Astrophysik, Atomphysik, Mikrobiologie usw.), was wir letztlich glauben müssen, weil es unsere sinnlichen Möglichkeiten übersteigt. Aber dafür müssen wir die Frage nach Gott noch lange nicht stellen.

Die Frage nach Gott stellte sich die Menschheit aber von Anfang an. Auch das ist ein Grund wie Sokrates bescheiden zu sein. Was Gott ist, wissen wir nicht und können es auch nie wissen. Da all unser Denken sich auf unsere sinnliche Erfahrung aufbaut, tun wir uns sehr schwer, in jenes Gebiet der Wirklichkeit vorzustoßen, das wir als "abstrakt" (vom lat. abstrahere = abziehen, vom Bildlichen, Sinnenhaften abziehen) bezeichnen. Aber unser Denken führt uns gelegentlich an Stellen, wo wir nicht mehr weiterkommen und wir dann eine andere Wirklichkeit, ein Wesen, ein Sein postulieren, das wir uns dann als Ursache oder Ziel vorstellen. Woher kommt unser Leben, was war vor dem Urknall, was kommt nach unserem Leben usw.? Für solche Fragen hat die Menschheit meist die Vorstellung eines übermenschlichen Wesens eingeführt und mit der Vokabel Gott bezeichnet und sich von ihm notgedrungen ein menschliches Bild gemacht.
Damit sind wir im Bereich der Religionen. Religionen versuchen Hilfestellungen für das Leben und die damit verbundenen unlösbaren Fragen zu geben. Die einen (z.B. Griechen und Römer) taten das mit einem ganzen System von Überirdischen und Göttern, andere mit der Vorstellung von nur einem Gott (z.B. die abrahamitischen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam), andere (z.B. der Buddhismus) versuchten bei diesen Erklärungen und Deutungen der "Wirklichkeit" die Abstraktion noch weiter voranzutreiben und nahmen für den Anfang oder für das Ende die "Leere" an. Wenn man hinter den Antworten auf Fragen über das Jenseits, die Unsterblichkeit der Seele oder Gott die lautere und ehrliche Wahrheitssuche der Menschheit sieht und von menschlichen Schwächen der Religionen absieht, wie z.B. das Streben nach Macht über andere Menschen, dann muss man viel Respekt vor allen Religionen haben. Keiner kann über diese Fragen die volle Wahrheit im Sinne von "Wissen" erlangen. Alle Deutungsversuche der Religionen, vom Schamanismus bis zum Monotheismus, haben ihre Würde und Bedeutung in der jeweiligen Zeit und im jeweiligen Raum. Dahinter stehen immer religiöse Menschen mit ihren naturgegebenen Beschränktheiten des Wissens und Glaubens. Es gibt keine Berechtigung für Überheblichkeit und Besserwisserei. Religiosität ist zunächst immer eine Sache des Herzens. Aber der Mensch ist bekanntlich nicht nur Herz, sondern auch Kopf und Hand! Das ist uns aufgegeben.

Zu Ihrer 2. Frage "Denken religiöse Menschen, dass Gott ein Mensch ist?" haben wir mit dem bisher Gesagten damit schon fast beantwortet. Religiöse Menschen können ganz unterschiedliche Glaubensvorstellungen haben. Für die einen, die eine mehr philosophisch fundierte Religion haben, wäre die Frage schon unmöglich. Beide Begriffe schließen sich für sie gegenseitig aus: Ein Gott kann kein Mensch sein und ein Mensch kein Gott. - Andere können sich Gott nur mit ihren menschlichen Bildern vorstellen, ohne damit zu sagen dass Gott Mensch ist. So wurde früher in christlichen Darstellungen Gott gern als alter weiser Mann dargestellt. Bei solchen Darstellungen wussten diese Menschen aber sehr wohl, dass es sich um Bilder handelt und nicht um das Abbild wirklicher Menschen ("mit Organen…"). Man glaubte, dass Gott Geist ist und unsichtbar ist. Aber weil man sich nichts darunter vorstellen konnte, verwendete man Bilder, in der Sprache und in visuellen Darstellungen. - Lesen Sie dazu unsere Antwort zu "Gottesbildern": http://www.kirchameck.de/FragAntwort23.htm und die Antwort auf die Frage, ob Gott männlich oder weiblich ist: http://www.kirchameck.de/FragAntwort25.htm .

Was Sie am Ende Ihrer Mail schreiben, dass Sie Gott in der dinglichen Welt um Sie herum erleben, hat uns sehr gut gefallen. Es ist der Weg der Mystiker. Diese Gruppe von Gott suchenden Menschen haben wir auch in den oben angeführten Antworten erwähnt. Dazu gehören auch die ostjüdischen Chassidim mit ihrem tanzenden Rebbe, von denen Marc Chagall in seinen Bildern erzählt. Der berühmte jüdische Philosoph Martin Buber hat in seinem Buch "Die Erzählungen der Chassidim" die Geschichten und Lehren dieser Bewegung des 18./19. Jahrhunderts gesammelt und den Weg dieser begeisterten Seelen zu Gott beschrieben. Wir zitieren hier einige nicht ganz leicht verständliche Sätze aus der Einleitung dieses Buches, weil wir glauben, dass sie zu Ihrer Reflexion passen. Vielleicht erschließen sie sich erst nach wiederholter Lektüre und mit Hilfe eines Lexikons:

"Die talmudische, von der Kabbala ausgebaute Lehre von der Schechina, der "einwohnenden Gegenwart" Gottes in der Welt, bekam einen neuen, intim-praktischen Gehalt: wenn du die unverkürzte Kraft deiner Leidenschaft auf Gottes Weltschicksal richtest, wenn du das, was du in diesem Augenblick zu tun hast, was es auch sei, zugleich mit deiner ganzen Kraft und mit solcher heiligen Intention, Kawwana, tust, einst du Gott und Schechina, Ewigkeit und Zeit. Dazu brauchst du kein Lehrkundiger, kein Weiser zu sein : nichts ist not als eine in sich einige, ungeteilt auf ihr göttliches Ziel gerichtete Menschenseele. Die Welt, in der du lebst, so wie sie ist, und nichts anderes, gewährt dir den Umgang mit Gott, ihn, der dich und das in der Welt weilende Göttliche, soweit es dir anvertraut ist, zugleich erlöst. Und deine eigene Beschaffenheit, dies eben wie du bist, ist dein besonderer Zugang zu Gott, deine besondere Möglichkeit für ihn. Laß dich deiner Lust an Wesen und Dingen nicht verdrießen, laß sie sich nur in den Wesen und Dingen nicht verkapseln, sondern durch sie zu Gott vordringen; empöre dich nicht wider deine Begierden, sondern fasse sie und binde sie an Gott; nicht ertöten sollst du deine Leidenschaft, sondern sie heilig wirken und heilig ruhen lassen in Gott. Aller Widersinn, mit dem die Welt dich kränkt, tritt dich an, damit du den Sinn in ihm entdeckst, und aller Widerspruch, der in dir selbst dich peinigt, wartet auf deinen Spruch, ihn zu bannen. Alles Urleid will Eingang in deine begeisterte Freude." (S. 19 f.)

Mit diesem Text öffnet sich Ihnen vielleicht auch ein Zugang zum christlichen Weihnachtsfest, das wir dieser Tage als das Fest von "Gottes Weltschicksal" (Buber) feiern. Wir wünschen Ihnen dazu Stunden der Freude und Nachdenklichkeit



 


 
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