... aus der
Presse
und für Sie zur Diskussion gestellt:
Schwäbisches
Tagblatt/Südwestpresse, 14. März 2007
Elemente
der Liturgie
Über die Anfänge
der Hungertücher
Symbolik
des Ver- und Enthüllens: Nicki Schaepen erklärt die Bedeutung
des Fastentuchs im Mittelalter.
Bild: Franke
MOSSINGEN (sum). Vor dem
Kreuz in der Mössinger Marienkirche hängen weiße, durchscheinende
Stoffbahnen. Mehr als 100 Interessierte waren am Montag gekommen, um
sich von dem Kunsthistoriker Nicki Schaepen erklären zu lassen,
welche Bedeutung das Ver- und Enthüllen des Altars während
der Fastenzeit ursprünglich hatte - ein weiterer Vortrag zur aktuellen
Hungertuch-Ausstellung, die noch bis 5. April in der Marienkirche zu
sehen ist.
Die Mönche des Klosters
Cluny waren im elften Jahrhundert die ersten, die während der 40
Fastentage den Blick zum Altar mit weißen Leinentüchern verhängten,
erzählte Schaepen. Von dort verbreitete sich der Hungertuch-Brauch
in ganz Europa. Die Liturgie und mönchische Lebensführung
der Cluniazenser sei prägend für viele Klöster in Frankreich
und England gewesen. Das Ziel der Liturgie von Cluny war es, "die
göttliche Mystifikation sichtbar zu machen", erläuterte
der Mössinger Kunsthistoriker.
Die geistlichen Überlegungen, die hinter der Verhüllung standen,
seien nur den wenigsten Kirchgängern klar gewesen. Für das
Volk zeigte das "hungertuoch" vor dem Altar den Beginn der
kargen Fastenzeit an. "Sie mussten hungern", sagte Schaepen
und verwies auf das Sprichwort "am Hungertuch nagen".
Das Fastentuch als Element
der Liturgie "war in erster Linie für den Klerus bestimmt".
Als symbolischer Aufruf zu Einkehr und Buße vermittelte es mehrere
Botschaften: Während der österlichen Fastenzeit galt der sündige
Mensch als unwürdig, das Heiligtum des Altars zu schauen. Daneben
erinnere das Tuch an den Vorhang im Tempel und an das Grabtuch Jesu,
wobei das gebleichte Linnen als "Gleichnis für die geläuterte
Seele" angesehen wurde, erklärte Schaepen.
Während der Kreuzigung
zerriss der Vorhang im Tempel. Auch die mittelalterlichen Hungertücher
seien in der Mitte teilbar gewesen. Sie gaben im Augenblick der Wandlung,
wenn der Priester die Hostie über seinen Kopf hielt, für einen
Augenblick die Sicht auf den Altar frei. Die Symbolik des Ver- und Enthüllens
des Heiligtums, so Schaepen, hänge auch mit der Bedeutung des Orients
in der christlichen Liturgie zusammen. Die Ausrichtung der Kirchen und
Altäre sei nach Osten (daher auch der Begriff "Orientierung"):
Der Stern über Bethlehem ging im Osten auf, die Sonne als Symbol
für Christus erscheint im Osten und aus dem Osten werde die Wiederkunft
Christi erwartet.
Die bei der Eucharistiefeier
empor gehaltene Hostie sei ein Symbol für die Sonne. Das sich öffnende
Hungertuch verweise auf das Heil, für das der nach Osten orientierte
Altar und das Tabernakel stehen. "Im Moment der Elevation der Hostie
wird die Erlösung sichtbar."
In der Mitte des 13. Jahrhunderts
waren die Hungertücher weit verbreitet und in allen Pfarrkirchen
zu finden. In England seien sie selbst in den Seitenaltären vorgeschrieben
gewesen, wusste Schaepen von der Kirche in Exeter. Von den schlichten
mittelalterlichen Hungertüchern sei keines erhalten geblieben.
Die wenigen bemalten Exemplare aus der Frührenaissance - etwa im
Freiburger Dom - hatten bereits die Erzählfunktion eines Fresco
und nach der Reformation gerieten die von Luther als "Gauckelswerk"
verachteten Hungertücher außer Gebrauch. Die textile Installation
vor dem Altar in der Marienkirche erklärte Schaepen in Anknüpfung
an die alte Symbolik. "Die nebelhafte Stoffbahnen vor dem schimmernden
Kreuz" lassen in ihrer "Transparenz in der Zeit der Gottesfeme
die Erlösung ahnen", sagte er.
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