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und für Sie zur Diskussion gestellt:

Schwäbisches Tagblatt/Südwestpresse, 10. März 2007, S. 30

Eine Gratwanderung für die verletzte Seele

Der Verein "Refugio" hilft traumatisierten Flüchtlingen bei der Verarbeitung ihrer Folter- und Gewalterfahrungen

TÜBINGEN. Verhört, verstümmelt, sexuell missbraucht, gefoltert: Wem die Flucht nach Deutschland gelungen ist, braucht Hilfe. Der 2002 gegründete Verein "Refugio" in Stuttgart kümmert sich um Flüchtlinge, die in ihrem Heimatland Gewalt, Krieg und Folter erlebt haben. Bei ihrer Bemühung um Asyl werden sie oft noch einmal traumatisiert. Refugio unterstützt diese Menschen auf ihrem Weg um rechtliche Asyl-Anerkennung. Drei Tübinger Mitarbeiterinnen der Organisation, die in Tübingen regelmäßig Beratungsstunden anbietet, berichteten bei einem Redaktionsgespräch von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen.

Refugio versteht sich als "Hilfe und Lobby-Vereinigung für Folteropfer", macht die Tübinger Lektorin Cornelia Hermanns deutlich. Aus dieser sozialen und psychotherapeutischen Perspektive versucht der Verein in Gesprächen mit den Flüchtlingen herauszufinden, ob diese zum Beispiel an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Erst dann entscheiden sich die Mitarbeiter/innen, ob sie im Asylverfahren eine schriftliche Stellungnahme abgeben. Für ein Gutachten müssen sie ihre Klienten ohnehin an Ärzte oder Psychotherapeuten weiter vermitteln, macht Elisabeth Fries deutlich, die hauptamtlich beim Verein arbeitet.

 

Dr. Elisabeth Fries, 59, leitet die Beratungsstelle von Refugio in Stuttgart.

 

Die Kinderärztin aus Tübingen leitet seit 2002 die Kontakt- und Beratungsstelle in der Stuttgarter Weißenburgstraße 13. Alle 14 Tage - immer am Dienstagnachmittag - bietet die Ärztin gemeinsam mit Kollegen auch im Tübinger Gemeindehaus Lamm Beratungen an. Die Hilfesuchenden haben oft eine weite Anfahrt, sie kommen aus Tuttlingen, Balingen, Herrenberg, Mössingen und natürlich Tübingen. Ihre Heimatländer sind vor allem die Türkei, der Iran und Irak sowie Afghanistan. In den ersten Gesprächssitzungen geht es erst einmal darum, "Vertrauen aufzubauen", schildert Fries die Situation. Sie achtet darauf, dass der Dolmetscher "nicht aus der eigenen Familie kommt".

Gefühle wie Scham und Schuld

Denn bei allen Menschen, die bei Refugio Hilfe suchen, "gibt es immer eine Geschichte hinter der Geschichte, über die man nicht redet - vor allem nicht vor der eigenen Familie", berichtet Ursula Kretschmer aus der Beratungspraxis. Wer Opfer von körperlicher und seelischer Gewalt wurde, empfinde "Scham und Schuld". Sein Vertrauen zu gewinnen, sei trotz Schweigepflicht keine leichte Aufgabe. Denn auch die Mitarbeiter/innen von Refugio müssen für ihre Diagnostik "genau nachfragen, was passiert ist", so Fries. Damit riskiere man, dass der Flüchtling wieder in die traumatisierte Situation zurück versetzt wird und plötzlich die Beratungssituation als "lebensbedrohlich" erlebe.

So versucht die Ärztin Fries in den Gesprächen behutsam "Pfeiler einzuschlagen". Ein Pfeiler ist die aktuelle Situation des Flüchtlings im "Hier und Jetzt". Erst, wenn "die Beziehung zwischen uns tragfähig wird", so Fries, frage sie nach der Vergangenheit. Der zweite "Pfeiler Kindheit" wecke oft positive Erinnerungen. Und so versucht die Beraterin eine Hängebrücke zu spannen, auf der die Vorgeschichte mit Folter- und Kriegserlebnissen liegen. "Das ist eine Gratwanderung, und wir müssen immer wieder von anderen Seiten fragen und die Mosaiksteine der Lebensgeschichte zusammentragen", schildert Fries.

Zentrales Problem für traumatisierte Menschen ist ihre "Glaubwürdigkeit" - vor Gericht, aber auch gegenüber Mitmenschen und Refugio. Ein Mensch, der Folter erlebt hat, so Hermanns, "zweifelt selber an seinem Verstand". Er greife zu "Notwehrreaktionen": Die Empfindungen würden "eingefroren, der Körper verlässt die Seele, weil er es nicht mehr aushält". In solchen Situationen spiele die Sprache keine Rolle mehr. "Es geht ums Überleben." So ist es nach den Erfahrungen der Refugio. Mitarbeiter geradezu charakteristisch für traumatisierte Flüchtlinge, dass sie im Gerichtsverfahren scheinbar "emotionslos und teilnahmslos" von sich und ihrer Geschichte berichten. Typisch sei auch, dass Folteropfer eben nicht die vom Gericht geforderte zeitlich logische Abfolge ihrer Inhaftierung, Folter und Flucht abrufen könnten. Was Gerichte als glaubwürdig bewerten, werfe bei Gutachtern und Refugio eher Zweifel auf, schildert Ursula Kretschmer die Diskrepanz.

Bei hartnäckigem Nachfragen vor Gericht kommt es aber immer wieder vor, dass Asylbewerber sich so in die Enge gedrängt fühlen, dass die mühsam eingefrorenen Empfindungen plötzlich aufbrechen. Cornelia Hermanns berichtet von einem Chilenen, der zur Zeit der Diktatur schwere Foltererfahrungen gemacht hatte. Er ließ das spätere Gerichtsverfahren in Deutschland beinahe stumm und ungerührt über sich ergehen. Erst, als der Richter ihm die Abschiebung androhte, falls er nicht endlich aussage, "brach der Mann zusammen", so Hermanns. "Er wurde von seinen Erinnerungen überschwemmt, und der Richter musste den Notarzt rufen."
In solchen Situationen versteht sich die Organisation Refugio als "Vermittler" zwischen Klient und Gericht.

Cornelia Hermanns, 47, macht ehrenamtlich Öffentlichkeitsarbeit
für Refugio.

Derzeit arbeitet der Verein an einem Kriterienkatalog, wie sich Traumatisierungen erkennen lassen. Typische Merkmale, so Fries, sind Schlafstörungen, Alpträume oder "Nachhall-Erinnerungen", also eine erneute Traumatisierung - oft ausgelöst durch Tonfall, Sprache, Geruch oder Erscheinung einer Person. Diese Merkmale, so Hermanns, sind wissenschaftlich belegt, sie stammen vor allem aus der forensischen Psychologie. Doch seitdem der Flüchtlingsstrom zurückgegangen ist und Stellen in der Migrationsarbeit abgebaut wurden, fehlt es an Fachleuten, die eine Traumatisierung bei den Asylsuchenden erkennen. Das macht die Arbeit für Refugio schwieriger. Vor allem, wenn nicht mehr ausreichend Zeit bleibt bis zum Gerichtsverfahren.

Kampf für politische Flüchtlinge

Ein Spagat zwischen rechtlichen Vorgaben einerseits und der psychischen Situation ihrer Klienten andererseits ist die Arbeit von Refugio eigentlich immer. Da freuen sich die Mitarbeiter/innen über jeden "Fall", der zugunsten ihrer Klienten entschieden wird. 20 von ihnen haben im vergangenen Jahr einen gesicherte Aufenthaltsstatus erhalten, drei Männer aus dem Iran und Irak bekamen sogar das "Große Asyl". Doch auch seit der neuen Bleiberechtsregelung im vergangenen Herbst bleibt für Refugio viel zu tun. Ein Teil der langzeitgeduldeten, traumatisierten Frauen und Männer, kann die "wirtschaftlichen Anforderungen, arbeiten zu gehen, nicht erfüllen", macht Kretschmer deutlich.

Ursula Kretschmer, 64, Gründungsmitglied, im Refugio-Vorstand.

Sie sind durch ihre Foltererfahrungen "so schwer beschädigt", dass sie gar nicht arbeiten können oder höchstens eine geringe Stundenzahl. Die neue gesetzliche Regelung geht darauf nicht differenziert genug ein, kritisieren die drei Refugio-Mitarbeiterinnen. So werden sie "kämpfen" für ihre Klienten. Cornelia Hermanns macht deutlich, dass dies vor allem auch aus politischen Gründen notwendig ist: "Unsere Klienten waren gesund, bevor sie in die Polizeistationen kamen und gefoltert wurden. Wer sonst, wenn nicht sie, sollten als politische Flüchtlinge anerkannt werden?"

Die Trauma-Forschung geht davon aus, dass 50 Prozent aller Menschen mindestens einmal in ihrem Leben eine traumatische Erfahrung gemacht haben: Die Kriegsveteranen aus Vietnam ebenso wie Soldaten im Zweiten Weltkrieg, Vertriebene, Großstädter mit ständigem Bombenalarm, überlebende von Naturkatastrophen, Zivilisten und Militär im Irak. Sie alle sind auf Hilfe anderer angewiesen - nicht nur materiell. Refugio kann mit seinen fünf Teilzeitstellen und vielen ehrenamtlich Engagierten nur für "ein wenig mehr psychische Stabilität" sorgen, bis der Aufenthalt gesichert ist. Dann ist der Verein bei der Suche nach einem Therapieplatz behilflich. Eine Exil-Iranerin hat dies einmal so formuliert: "Unsere Seelen sind wie Glas. Wenn man uns nicht glaubt, zerspringen sie."

Christiane Hoyer

Bilder: Faden

INFO "Refugio" Stuttgart: Anmeldung für die Beratung im Gemeindehaus Lamm Tübingen: Mo,14-15 Uhr; Mi., 9-10 Uhr,
Telefon (0711) 6453-127.


 

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