... aus der
Presse
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Dr. Elisabeth Fries, 59, leitet die Beratungsstelle von Refugio in Stuttgart.
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Die Kinderärztin aus
Tübingen leitet seit 2002 die Kontakt- und Beratungsstelle in der
Stuttgarter Weißenburgstraße 13. Alle 14 Tage - immer am
Dienstagnachmittag - bietet die Ärztin gemeinsam mit Kollegen auch
im Tübinger Gemeindehaus Lamm Beratungen an. Die Hilfesuchenden
haben oft eine weite Anfahrt, sie kommen aus Tuttlingen, Balingen, Herrenberg,
Mössingen und natürlich Tübingen. Ihre Heimatländer
sind vor allem die Türkei, der Iran und Irak sowie Afghanistan.
In den ersten Gesprächssitzungen geht es erst einmal darum, "Vertrauen
aufzubauen", schildert Fries die Situation. Sie achtet darauf,
dass der Dolmetscher "nicht aus der eigenen Familie kommt".
Denn bei allen Menschen,
die bei Refugio Hilfe suchen, "gibt es immer eine Geschichte hinter
der Geschichte, über die man nicht redet - vor allem nicht vor
der eigenen Familie", berichtet Ursula Kretschmer aus der Beratungspraxis.
Wer Opfer von körperlicher und seelischer Gewalt wurde, empfinde
"Scham und Schuld". Sein Vertrauen zu gewinnen, sei trotz
Schweigepflicht keine leichte Aufgabe. Denn auch die Mitarbeiter/innen
von Refugio müssen für ihre Diagnostik "genau nachfragen,
was passiert ist", so Fries. Damit riskiere man, dass der Flüchtling
wieder in die traumatisierte Situation zurück versetzt wird und
plötzlich die Beratungssituation als "lebensbedrohlich"
erlebe.
So versucht die Ärztin
Fries in den Gesprächen behutsam "Pfeiler einzuschlagen".
Ein Pfeiler ist die aktuelle Situation des Flüchtlings im "Hier
und Jetzt". Erst, wenn "die Beziehung zwischen uns tragfähig
wird", so Fries, frage sie nach der Vergangenheit. Der zweite "Pfeiler
Kindheit" wecke oft positive Erinnerungen. Und so versucht die
Beraterin eine Hängebrücke zu spannen, auf der die Vorgeschichte
mit Folter- und Kriegserlebnissen liegen. "Das ist eine Gratwanderung,
und wir müssen immer wieder von anderen Seiten fragen und die Mosaiksteine
der Lebensgeschichte zusammentragen", schildert Fries.
Zentrales Problem für
traumatisierte Menschen ist ihre "Glaubwürdigkeit" -
vor Gericht, aber auch gegenüber Mitmenschen und Refugio. Ein Mensch,
der Folter erlebt hat, so Hermanns, "zweifelt selber an seinem
Verstand". Er greife zu "Notwehrreaktionen": Die Empfindungen
würden "eingefroren, der Körper verlässt die Seele,
weil er es nicht mehr aushält". In solchen Situationen spiele
die Sprache keine Rolle mehr. "Es geht ums Überleben."
So ist es nach den Erfahrungen der Refugio. Mitarbeiter geradezu charakteristisch
für traumatisierte Flüchtlinge, dass sie im Gerichtsverfahren
scheinbar "emotionslos und teilnahmslos" von sich und ihrer
Geschichte berichten. Typisch sei auch, dass Folteropfer eben nicht
die vom Gericht geforderte zeitlich logische Abfolge ihrer Inhaftierung,
Folter und Flucht abrufen könnten. Was Gerichte als glaubwürdig
bewerten, werfe bei Gutachtern und Refugio eher Zweifel auf, schildert
Ursula Kretschmer die Diskrepanz.
Bei hartnäckigem Nachfragen
vor Gericht kommt es aber immer wieder vor, dass Asylbewerber sich so
in die Enge gedrängt fühlen, dass die mühsam eingefrorenen
Empfindungen plötzlich aufbrechen. Cornelia Hermanns berichtet
von einem Chilenen, der zur Zeit der Diktatur schwere Foltererfahrungen
gemacht hatte. Er ließ das spätere Gerichtsverfahren in Deutschland
beinahe stumm und ungerührt über sich ergehen. Erst, als der
Richter ihm die Abschiebung androhte, falls er nicht endlich aussage,
"brach der Mann zusammen", so Hermanns. "Er wurde von
seinen Erinnerungen überschwemmt, und der Richter musste den Notarzt
rufen."
In solchen Situationen versteht sich die Organisation Refugio als "Vermittler"
zwischen Klient und Gericht.
Cornelia
Hermanns, 47, macht ehrenamtlich Öffentlichkeitsarbeit für Refugio. |
Derzeit arbeitet der Verein
an einem Kriterienkatalog, wie sich Traumatisierungen erkennen lassen.
Typische Merkmale, so Fries, sind Schlafstörungen, Alpträume
oder "Nachhall-Erinnerungen", also eine erneute Traumatisierung
- oft ausgelöst durch Tonfall, Sprache, Geruch oder Erscheinung
einer Person. Diese Merkmale, so Hermanns, sind wissenschaftlich belegt,
sie stammen vor allem aus der forensischen Psychologie. Doch seitdem
der Flüchtlingsstrom zurückgegangen ist und Stellen in der
Migrationsarbeit abgebaut wurden, fehlt es an Fachleuten, die eine Traumatisierung
bei den Asylsuchenden erkennen. Das macht die Arbeit für Refugio
schwieriger. Vor allem, wenn nicht mehr ausreichend Zeit bleibt bis
zum Gerichtsverfahren.
Ein Spagat zwischen rechtlichen Vorgaben einerseits und der psychischen Situation ihrer Klienten andererseits ist die Arbeit von Refugio eigentlich immer. Da freuen sich die Mitarbeiter/innen über jeden "Fall", der zugunsten ihrer Klienten entschieden wird. 20 von ihnen haben im vergangenen Jahr einen gesicherte Aufenthaltsstatus erhalten, drei Männer aus dem Iran und Irak bekamen sogar das "Große Asyl". Doch auch seit der neuen Bleiberechtsregelung im vergangenen Herbst bleibt für Refugio viel zu tun. Ein Teil der langzeitgeduldeten, traumatisierten Frauen und Männer, kann die "wirtschaftlichen Anforderungen, arbeiten zu gehen, nicht erfüllen", macht Kretschmer deutlich.
Ursula Kretschmer, 64, Gründungsmitglied, im Refugio-Vorstand. |
Sie sind durch ihre Foltererfahrungen
"so schwer beschädigt", dass sie gar nicht arbeiten können
oder höchstens eine geringe Stundenzahl. Die neue gesetzliche Regelung
geht darauf nicht differenziert genug ein, kritisieren die drei Refugio-Mitarbeiterinnen.
So werden sie "kämpfen" für ihre Klienten. Cornelia
Hermanns macht deutlich, dass dies vor allem auch aus politischen Gründen
notwendig ist: "Unsere Klienten waren gesund, bevor sie in die
Polizeistationen kamen und gefoltert wurden. Wer sonst, wenn nicht sie,
sollten als politische Flüchtlinge anerkannt werden?"
Die Trauma-Forschung geht
davon aus, dass 50 Prozent aller Menschen mindestens einmal in ihrem
Leben eine traumatische Erfahrung gemacht haben: Die Kriegsveteranen
aus Vietnam ebenso wie Soldaten im Zweiten Weltkrieg, Vertriebene, Großstädter
mit ständigem Bombenalarm, überlebende von Naturkatastrophen,
Zivilisten und Militär im Irak. Sie alle sind auf Hilfe anderer
angewiesen - nicht nur materiell. Refugio kann mit seinen fünf
Teilzeitstellen und vielen ehrenamtlich Engagierten nur für "ein
wenig mehr psychische Stabilität" sorgen, bis der Aufenthalt
gesichert ist. Dann ist der Verein bei der Suche nach einem Therapieplatz
behilflich. Eine Exil-Iranerin hat dies einmal so formuliert: "Unsere
Seelen sind wie Glas. Wenn man uns nicht glaubt, zerspringen sie."
Christiane Hoyer
Bilder: Faden
INFO
"Refugio" Stuttgart: Anmeldung für die Beratung im Gemeindehaus
Lamm Tübingen: Mo,14-15 Uhr; Mi., 9-10 Uhr,
Telefon (0711) 6453-127.