Ein Buchhinweis für alle, die sich für Kirche, Zivilcourage und Illegale interessieren!


Brachen zu Integrationsmaschinen

Ein Buch über Tübingens städtebaulichen Exportartikel: das Französische Viertel

TÜBINGEN (upf). Die neuen Stadtquartiere auf dem Gelände der ehemaligen französischen Garnison in der Tübinger Südstadt sind noch unfertig – und schon Modell. Die neuen Bewohner von Loretto und dem Französischen Viertel bekommen immer wieder Bus-Ladungen von Stadtplanern auf Weiterbildungs-Exkursion zu sehen. Sogar ein amerikanischer Beinah-Präsidentenberater hat sich schon dort umgesehen. Aber dann wurde es bekanntlich nichts mit Al Gore, weshalb Amerika nun wohl nichts von Tübingen lernen wird.

Was man davon lernen kann, ist nun kompakt zwischen zwei Buchdeckeln mitzunehmen: Die Wiederentdeckung des Städtischen als humanes Bedürfnis, als gesellschaftliche und ökologische Notwendigkeit. Dichte und die Nutzungsmischung von Wohnen, Arbeiten, Kultur und öffentlichen Dienstleistungen sind die Antworten auf die »Suburbanisierung«, die Flächen fressende Zersiedelung in monotonen Neubaugebieten. Statt einem möglichst »störungsfreien« Leben wird von den neuen städtischen Quartieren eine hohe Integrationsleistung erwartet. Ja, als regelrechte »Integrationsmaschinen« sollen sie arbeiten.

Als mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation in Deutschland Militärbrachen entstanden, als das Ende der traditionellen Industrie große ehemalige Produktionsstätten leerte, bekamen die Kritiker des Städtebaus ihre Chance. Zu ihnen gehörte Andreas Feldtkeller, den die Erfahrungen mit der Tübinger Altstadtsanierung für die Bedingungen gelingenden städtischen Lebens sensibilisiert hatten. Struktur, eben nicht die nostalgische Anmutung alter Fassaden: In seinem Einführungskapitel skizziert Feldtkeller noch einmal die »Strategie für eine Zukunft des Städtischen«. Die Tübinger Südstadt wird verglichen mit anderen, unterschiedlich konzipierten, aber ihrer beabsichtigten Wirkung auf die städtische »Innenentwicklung« ähnlichen Modellprojekten in Berlin, Zürich, Essen – ein hochinteressanter Ansatz, der in dem Buch leider nicht fortgeführt wird.

Der größere Rest ist Dokumentation: zur Planungsgeschichte des Südstadt-Entwicklungsbereichs, zu den neuen Baueigentums- und Bauträgerformen, zu einzelnen Bauten, ihrer Architektur, ihrer Nutzung, zur Frage des Verkehrs: »kurze Wege«, wohin mit den Autos? Die Texte sind von unterschiedlicher Qualität, die Autoren, selbst Planer, zitieren einander teilweise gegenseitig, manches wiederholt sich. Dennoch ist dieser Teil vor allem durch die Vielzahl und Vielfalt der Fotos ein anregender und brauchbarer Begleiter für die Erkundung und Entdeckung.

Ein wertendes Resümee zieht die ehemalige Tübinger Sozialbürgermeisterin Gabriele Steffen, mit Unterstützung der Geographin Heike Bartenbach. Sie greift die Frage nach der integrativen Tüchtigkeit des neuen Viertels kritisch auf, beantwortet sie aber nur halb. Denn wenn sich auch Menschen unterschiedlicher Einkommensklassen dort niederlassen, so sind diese Siedler doch homogen in ihrer sozialen Stärke: Es sind Leute mit überdurchschnittlicher Bildung, mit Unternehmergeist, Freude am Experiment. Dicht daneben, in den Blocks an der lärmenden Stuttgarter Straße, wohnen Versprengte vieler Nationen, denen dieses Identifikationsangebot verschlossen bleibt. Sie bringen eine große Integrationsleistung, ohne »Maschine«. Nur, wer anerkennt die?

»Städtebau: Vielfalt und Integration. Neue Konzepte für den Umgang mit Stadtbrachen«, herausgegeben von Andreas Feldtkeller. Stuttgart/München, Deutsche Verlagsanstalt, 2001, 224 Seiten, 264 Abbildungen, 78 Mark.

Aus: Schwäbisches Tagblatt, 3.5.2001, S. 25