Willigis Jäger
Auf
dem Grund des Bechers wartet Gott
Wie die Naturwissenschaft
die Erfahrung der mystischen Spiritualität bestätigt
In einem Ihrer Bücher
schreiben Sie: "Jeder spirituelle Weg sollte auch von wissenschaftlichen
Forschungsergebnissen begleitet sein". Was ist der Grund für
diese Aussage?
Ich
gehe davon aus, dass die wesentlichen Impulse für die zukünftige
Entwicklung des Geistes von den Naturwissenschaften ausgehen werden.
Ich vermute, dass es zu einer Wiederentdeckung der Metaphysik kommen
wird, aber nicht Philosophen oder Theologen werden sie auf den Weg
bringen, sondern Physiker und Biologen. Sie nämlich sind es,
die im Zuge ihrer Grundlagenforschung mehr und mehr an die Grenzen
des Denkens geraten. Dort begegnet ihnen eine Wirklichkeit, die
sie weder anzweifeln noch mit den Mitteln der Logik und des analytischen
Denkens begreifen können. Max Planck etwa hat einmal bekannt:
"Ich bin fromm geworden, weil ich zu Ende gedacht habe und
dann nicht mehr weiterdenken konnte. Wir hören alle viel zu
früh auf zu denken". Und nicht nur ihm ist es so ergangen.
Auch andere Naturwissenschaftler wie Erwin Schrödinger, Wolfgang
Pauli oder Albert Einstein haben sich im Laufe ihres Forschens der
Religion - genauer: der Mystik - genähert. Von Werner Heisenberg
stammt der prägnante Satz: "Der erste Trunk aus dem Becher
der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des
Bechers wartet Gott."
Allerdings ist auffällig,
dass diese Naturwissenschaftler beim Christentum wenig Anknüpfungspunkte
gefunden haben.
Ja. Den Grund dafür
hat Albert Einstein auf den Punkt gebracht, als er seine Frömmigkeit
von der des traditionellen Christentums unterschied. Für diese
sei "Gott ein Wesen, auf dessen Sorgfalt man hofft, dessen
Strafen man fürchtet (...) - ein Wesen, zu dem man gewissermaßen
in einer persönlichen Beziehung steht, so respektvoll diese
auch sein mag." Die Frömmigkeit des Forschers hingegen
liege "im verzückten Staunen über die Harmonie der
Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft
offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens
dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist. (...) Unzweifelhaft
ist dies Gefühl nahe verwandt demjenigen, das die religiös
schöpferischen Naturen aller Zeiten erfüllt hat"
(1)
Woher kommt dieses
Interesse der Naturwissenschaftler an Religion und Mystik jenseits
des Christentums?
Die theoretische Physik
des zwanzigsten Jahrhunderts ist an einen Punkt gelangt, an dem
sie sich von Vorstellungen löste, die über Jahrtausende
als unbezweifelbare und evidente Wahrheiten galten. So ist der Glauben
an eine objektive Welt, die in Raum und Zeit nach festen kausalen
Gesetzen ihren Lauf nimmt, erschüttert worden. Inzwischen wissen
wir, dass die Wirklichkeit keineswegs objektiv feststeht, sondern
das Produkt unseres eigenen Verstandes ist. Was wir das Universum
nennen, kreieren wir selbst. Gehirn und Nervensystem sind nur für
eine begrenzte Menge Realität programmiert. So nehmen wir im
Bereich unserer Sinnesorgane nur ein beschränktes Spektrum
an Frequenzen wahr. Oberhalb und unterhalb dieses Spektrums liegt
aber weit mehr, als wir aufzufassen vermögen. Mit anderen Worten:
Wir können immer nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit erkennen
- und diesen kleinen Teil ordnen und strukturieren wir nach Maßgabe
unseres Verstandes. Er liefert uns das Instrumentarium, mit dem
wir uns die Welt verfügbar machen können, aber es wäre
ein Irrtum zu glauben, dass seine Instrumente Bestandteile einer
objektiven Welt wären. Immanuel Kant hat dies sehr schön
an den Kategorien von Raum und Zeit vorgeführt. Raum und Zeit
sind keine objektiven Wirklichkeiten, sondern Werkzeuge unseres
Weltverstehens. In der wahren Wirklichkeit kommen sie nicht vor.
Die physikalische Einsicht in die Relativität von Zeit und
Raum bestätigt dies - und ebenso entspricht dem die mystische
Erfahrung der transpersonalen Wirklichkeit, in der Zeit und Raum
keine Rolle spielen.
In der christlichen
Religion spielen sie aber sehr wohl ein Rolle.
Die christliche Theologie
hält in ihrem Kern am mittelalterlichen Weltbild, also an einer
fest gefügten, kausalen, geozentrischen Weltordnung fest. So
kommt es zu einer außerordentlichen Diskrepanz zwischen dem
immanenten Weltbild der christlichen Theologie und der vorherrschenden,
von den Naturwissenschaften geprägten Weltsicht der meisten
Zeitgenossen. Die Folge davon ist, dass die theologischen Metaphern
von Himmel und Hölle, von Schöpfung und Jüngstem
Tag ihre Ausdruckskraft mehr und mehr verlieren. Sie mögen
früheren Generationen eingeleuchtet haben - heute wirken sie
vielfach überholt. Ähnlich ist es übrigens mit den
sozialen Metaphern, die wir gebrauchen, um unser Verhältnis
zu Gott zu bestimmen. Sei es nun der "König", der
"Herr der Heerscharen" oder der "Hirte" - alle
diese Bilder entstammen dem Denken einer agrarischen Ständegesellschaft,
das unserem demokratischen Selbstverständnis fremd geworden
ist.
Und die Naturwissenschaften
sind heute eher in der Lage, theologisch schlüssige Metaphern
und Begriffe zu liefern?
So ist es. Das Weltbild
der modernen Naturwissenschaft entspricht weitestgehend den spirituellen
Erfahrungen der Mystik und ist deshalb weit eher als die klassische
Dogmatik dazu imstande, theologische Aussagen zu treffen. Der amerikanische
Nobelpreisträger Gary Zukav, der im subatomaren Bereich geforscht
hat, schreibt: "Falls die zeitgenössische Physik Bohms
oder eine ähnliche Physik in Zukunft zur Hauptrichtung der
Physik werden sollte, könnten die Tänze" - er meint
damit die Weltsichten - "des Ostens und des Westens in außerordentlicher
Harmonie ineinander übergehen. Seien Sie nicht überrascht,
wenn die Vorlesungsverzeichnisse über Physik im 21. Jahrhundert
Vorlesungen über Meditation enthalten". (2)
Dem stimmen Sie zu?
Ja, denn Zukav meint
mit dieser sicher etwas steil formulierten These doch nichts anderes,
als dass es Formen des Verstehens gibt, die über unsere Logik
und Rationalität hinausgehen und daher eine Möglichkeit
bieten, Wirklichkeitsdimensionen zu erschließen, die zwar
unserem Intellekt verschlossen, einer spirituellen Erfahrung aber
zugänglich sind. Gute Naturwissenschaftler haben das begriffen.
Sie akzeptieren die Beschränktheit des logisch-rationalen Zugangs
und entdecken die Mystik als Chance zum besseren Verstehen des Kosmos.
Aufgrund dieser Einsicht in die Komplexität der Wirklichkeit
und ihrer Fähigkeit zur Thematisierung derselben ist die Naturwissenschaft
umgekehrt in der Lage, der mystischen Spiritualität Bilder
und Begriffe zu liefern, mittels derer sie sich artikulieren und
selbst verstehen kann. Das braucht die Mystik, denn auch wenn sie
von Erfahrungen lebt, die das Fassungsvermögen des Intellekts
übersteigen, kann sie ja nicht ignorieren, dass es diesen Intellekt
gibt und dass er die berechtigte Forderung erhebt, die Wirklichkeit
zu begreifen.
Wohlwissend, dass
seine Möglichkeiten dazu eigentlich nicht ausreichen?
So sollte es sein. Ein
aufgeklärter Verstand, der seine eigene Begrenztheit durchschaut,
weiß darum, dass er letztlich nicht mehr tun kann, als Strukturen
zu produzieren, mittels derer er sich die Wirklichkeit verfügbar
macht. Er schafft sich - um noch einmal auf diese Metapher zurückzugreifen
- diejenigen Glasfenster, die er braucht, um das durch sie scheinende
Licht sichtbar zu machen. Das Licht selbst ist nur in einer mystischen
Schau erfahrbar; die Glasfenster, die es fassbar machen, liefert
die Wissenschaft. Beide ergänzen einander.
Das bedeutet, dass
die Mystik - entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil - keineswegs
antiintellektualistisch ist.
Die Mystik protestiert
nicht gegen Ratio, Intellekt oder Verstand. Ganz im Gegenteil. Viele
Mystikerinnen und Mystiker waren ihrer Zeit entsprechend gebildete
Menschen. Mystik weist nur darauf hin, dass mit dem Verstand nicht
die ganze Wirklichkeit erfassbar ist. Nikolaus von Kues hat diesen
Umstand einmal sehr schön auf den Begriff gebracht. Er schreibt:
"Ich habe den Ort gefunden, in dem man Dich unverhüllt
zu finden vermag. Er ist umgeben von dem Zusammenfall der Gegensätze
(Coincidentia oppositorum). Dies ist die Mauer des Paradieses, in
dem Du wohnst. Sein Tor bewacht höchster Verstandesgeist (Spiritus
altissimus rationis). Überwindet man ihn nicht, so öffnet
sich nicht der Eingang. Jenseits der Mauer des Zusammenfalls der
Gegensätze vermag man Dich zu sehen; diesseits aber nicht".
Das heißt für Nikolaus nicht, dass der Verstand nicht
sinnvolle Beschreibungen der Wirklichkeit liefern könnte, die
gleichsam die transrationale mystische Erfahrung der intellektuellen
Reflexion zugänglich machen. Genau darum hat er sich in seinen
wissenschaftlichen Studien bemüht. Und darin folgt ihm die
zeitgenössische Naturwissenschaft.
Inwiefern?
Ich möchte dies
am Beispiel der Quantenmechanik erläutern. Die Quantenmechanik
ist zu der bahnbrechenden Einsicht gelangt, dass es keine Materie
gibt. Je weiter die Suche nach den Grundbausteinen der Materie vordringt,
desto mehr erkennen wir, dass Materie nichts anderes ist als Energie,
über deren Herkunft wir nichts weiter zu sagen vermögen.
So stellte Max Planck bereits in seinem 1944 gehaltenen Vortrag
über "Das Wesen der Materie" fest: "Als Physiker
sage ich Ihnen nach meinen Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt
keine Materie an sich! Alle Materie entsteht und besteht nur durch
die eigene Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und
sie zum winzigsten Sonnensystem des Atoms zusammenhält".
Und er fügte hinzu: Wir müssen "hinter dieser Kraft
einen bewussten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der
Urgrund aller Materie! Nicht die sichtbare, aber vergängliche
Materie ist das Reale, wahre Wirkliche, sondern der unsichtbare,
unsterbliche Geist ist das Wahre! Da es aber Geist an sich allein
ebenfalls nicht geben kann, sondern jeder Geist einem Wesen gehört,
müssen wir zwingend Geistwesen annehmen."(3) Auch David
Bohm kam zu solchen Ergebnissen. Er spricht von einem Quantenpotenzial,
das als letzte Instanz alles durchdringe und einem absoluten Bewusstsein
gleichgesetzt werden könne.
Wie wirkt sich diese
Einsicht auf das wissenschaftliche Verständnis des Menschen
aus?
Früher waren wir
der Meinung, der Körper habe im Laufe der Zeit Geist entwickelt.
Intelligenz sei eine Funktion des Gehirns und des Nervensystems.
Inzwischen aber wissen wir, dass es sich genau andersherum verhält.
"Der immaterielle Geist bewegt das Gehirn", sagt der Hirnforscher
und Nobelpreisträger John Eccles. Er hat nachgewiesen, dass
es unsere Gedanken und unser Willen sind, die im Gehirn Neuroproteine
aktivieren - dass sich geistige Prozesse materiell abbilden und
nicht etwa Funktionen biochemisch?materieller Prozesse sind: Wenn
wir einen Gedanken haben, ein Gefühl oder einen Wunsch, dann
transformiert sich diese Energie als Molekül in unserem Gehirn.
Mit anderen Worten: Unsere intellektuelle und emotionale Energie
materialisiert sich in Gestalt dieser Neuroproteine. Sie sind gleichsam
kleine Schlüssel, die nach ihrem Schlüsselloch suchen.
Wenn sie das Loch in anderen Zellen gefunden haben, hat die Zelle
die Nachricht empfangen, die sie braucht. Dieser Vorgang spielt
sich nicht nur in unserem Gehirn ab, sondern er durchdringt den
ganzen Körper. Jede Körperzelle steht in Kommunikation
mit anderen Zellen. In jeder Zelle manifestiert sich ein denkender
Geist.
Dieser Vorrang geistiger
Impulse vor biochemischen Prozessen wird aber von vielen Forschern
bestritten. Welche Indizien sprechen dafür, dass der Geist
den Körper beherrscht und nicht umgekehrt?
Wichtige Einsichten sind
in der Immunologie gewonnen worden. Inzwischen wissen wir, dass
unser Immunsystem auch von unserer geistigen Verfassung abhängt.
Je nach Seelenlage sind wir besser oder schlechter imstande, Krankheitserreger
abzuwehren. Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass bestimmte
Zellen des Immunsystems durch Depression und Stress angegriffen
werden. Bei hohem Blutdruck etwa kann die Medizin in neunzig Prozent
der Fälle keinen anderen Grund angeben als psychische Reize.
Das verdeutlicht, wie sehr Gefühle, Stimmungen und Gedanken
in chemische Botschaften umgewandelt werden und so zu Gesundheit
oder Krankheit führen. Das heißt dann aber auch, dass
wir durch eine Veränderung unserer geistigen Befindlichkeit
auf unsere körperliche Verfassung einwirken können. Jeder,
der etwas Erfahrung mit Meditation oder Kontemplation hat, weiß,
wie sehr sich seine Übung körperlich auswirkt.
Inwiefern?
In der Kontemplation
werden unsere inneren Energien geordnet und harmonisiert. Wir produzieren
Neuroproteine, die Leib, Psyche und Geist beeinflussen. Das dient
unserer Gesundheit oft mehr als rein physisch operierende medizinische
Therapien, die zwar die Körpersymptome einer Krankheit behandeln,
die eigentlichen Ursachen - die im geistigen Bereich liegen - aber
ignorieren.
Im Klartext heißt
das: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir aus Geist und Körper
zusammengesetzte Wesen sind. In Wahrheit sind wir Geist beziehungsweise
spirituelle Energie.
Der Zellbiologe Rupert
Sheldrake hat in seinem Buch "Das schöpferische Universum"
die These aufgestellt, dass Organismen ihr jeweiliges Sein unsichtbaren
"morphogenetischen" Feldern verdanken. Die Entwicklung
eines Eies wird demnach nicht von chemischen Abläufen gesteuert,
sondern von diesen Metafeldern, die man weder sehen noch messen
kann. Wenn etwa das Ei einer Libelle abgebunden wird, entsteht in
der abgebundenen Hälfte nicht ein Teil des Organismus, sondern
die ganze Libelle. Schneidet man den Zweig einer Weide ab und steckt
ihn in den Boden, so entsteht eine neue Weide. Das heißt:
Jeder Teil kann ein neues Ganzes hervorbringen. Und das Ganze ist
mehr als die Summe seiner Teile. Sheldrake schreibt: "Die morphogenetischen
Felder prägen und steuern die gesamte belebte und unbelebte
Schöpfung. Und obwohl die Felder frei von Materie und Energie
sind, wirken sie doch über Raum und Zeit und können auch
über Raum und Zeit hinweg verändert werden. Eignet sich
ein Angehöriger einer biologischen Gattung ein neues Verhalten
an, wird sein morphogenetisches Feld verändert. Behält
er sein neues Verhalten lange genug bei, beeinflusst die morphische
Resonanz eine Wechselwirkung zwischen allen Angehörigen der
gesamten Gattung. Die morphogenetischen Felder sind die eigentliche
Ursache für die Ordnung, Regelmäßigkeit und Konstanz
des Universums - können aber auch gänzlich neue Verhaltensweisen
und Verhaltensformen bestimmen"(4). Wenn Sheldrake damit Recht
hat, dann sind wir in erster Linie nicht biologische Wesen, sondern
Wesen mit einer geistigen Grundstruktur. Das gilt dann ebenso für
Moleküle und Atome, so dass man sagen kann, dass ein Organismus
letztlich nichts anderes ist als das Geflecht verschiedener morphogener
Strukturen. Und das Universum wäre am Ende das umfassende geistige,
das göttliche morphogenetische Feld alles Existierenden.
Innerhalb dessen die
einzelnen Lebewesen nur so etwas wie Konzentrationen oder Kristallisationen
wären?
Ja. Das Verhältnis
des Einzelnen zum Ganzen im Kosmos lässt sich gut mit einem
Hologramm vergleichen. Ein Hologramm ist ein Bild, das wieder und
wieder in seiner Mitte zerteilt werden kann, durch einen Laserstrahl
aber in jedem einzelnen Teil wieder neu zu entstehen vermag. In
jedem Teil ist also das ganze Bild latent enthalten. Wenn man sich
den Kosmos als ein Hologramm vorstellt, kann man sagen, das jeder
und jedes einen Punkt dieses Hologramms darstellt - alles ist in
sich Darstellung des Ganzen. Das heißt dann aber auch, dass
alles, was einem einzelnen Teil widerfährt, Auswirkungen auf
das Ganze hat. Wir befinden uns mit unserem Bewusstsein in ständiger
Vernetzung mit jedem anderen Bewusstsein im Universum. Unser Bewusstsein
ist demnach ein Spiegelbild des Bewusstseins der ganzen Menschheit,
ja des ganzen Kosmos. Diese wechselseitige Beziehung reicht vom
einfachsten Atom bis zu den fernsten Galaxien, vom einfachen Lebensimpuls
eines Einzellers bis in die höchsten geistbegabten Wesen. Alles
ist durchdrungen von dem einen Geist, der im Kosmos mit sich selbst
kommuniziert.
Diese Einsicht stellt
unser ganzes Selbstverständnis auf den Kopf.
So ist es. Das alte Paradigma
lautete: "Wir sind menschliche Wesen, die eine spirituelle
Erfahrung machen." Das neue Paradigma sagt: "Wir sind
spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen."
Der französische Nobelpreisträger Charón hat einmal
gesagt: "Auf der Ebene des Geistes leben wir das Leben des
Universums mit"(5). Und das Universum manifestiert sich als
Energiefeld, in dem sich die Erste Wirklichkeit darstellt. Bewusstsein
und Materie sind gleichermaßen dieser Energiestrom. Und darum
finden wir in unserem tiefsten Wesen den ganzen Kosmos und erfahren
in der Mystik die Einheit mit ihm. Als Mensch bin ich nicht von
ihm getrennt. Ich bin der Vollzug dieses Energiestromes - der Vollzug
des göttlichen Lebens. Versucht man, das in unsere christliche
Vorstellungswelt zu übersetzen, könnte man sagen: Wir
sind göttliches Leben, das diese menschliche Erfahrung macht,
das sich eingegrenzt hat in die Form menschlicher Existenz. Wie
in Jesus ist dieses göttliche Leben in jedem von uns Mensch
geworden. Was der Mensch "Person" nennt, ist eine falsche
Person. Diese Person ist nichts anderes als unser Egobewusstsein,
das sich als absolute Individualität erlebt und darin verdeckt,
dass es sich von der Urwirklichkeit des göttlichen Lebens abgespalten
hat. Zugänglich wird ihm die Urwirklichkeit erst dann, wenn
sich das Egobewusstsein in der spirituellen Erfahrung transzendiert
und in das kosmische Bewusstsein des göttlichen Lebens übergeht.
Wie muss man sich
diese Abspaltung des Ego von der Urwirklichkeit vorstellen. Wenn
alles eines ist, kann es sich doch nicht aus dem Strom des göttlichen
Lebens lösen?
Das Verhältnis zwischen
individuellem Menschen und göttlichem Leben lässt sich
am besten erläutern, indem man auf einen Begriff zurückgreift,
den Arthur Koestler geprägt hat: das Holon. Ein Holon ist -
das ist die Bedeutung dieses griechischen Wortes - ein Ganzes; aber
ein Ganzes, das nicht für sich allein besteht, sondern zugleich
immer auch Teil eines größeren Ganzen ist. Zum Beispiel
ist ein Atom ein Teil von einem Molekül, ein Molekül ist
ein Ganzes aus Atomen, gleichzeitig aber auch Teil einer ganzen
Zelle, und die Zelle ist Teil eines ganzen Organismus. Nichts ist
demnach ausschließlich Teil oder ausschließlich ein
Ganzes, sondern alles ist sowohl Teil als auch Ganzes. Das Holon
hat daher zwei Tendenzen: Es muss sowohl für seine Ganzheit
als auch für sein Teilsein einstehen. Es muss seine Beziehung
zum Ganzen aufrecht erhalten, dabei aber auch seine Identität
bewahren. Sonst verschwindet es. Je mehr es zu nur einer Seite neigt,
umso stärker verliert es die andere Seite. Wenn ein Holon nicht
beides aufrecht erhalten kann oder will, also seine Identität
als Teil und seine Eingebundenheit ins Ganze, vergeht es und zerfällt
in seine Bestandteile. Das Atom muss offen sein für das Molekül,
und das Molekül muss offen sein für die Zelle und so weiter.
Das Holon hat nur Sinn und Bestand im umfassenderen Holon.
Was bedeutet das für
uns Menschen?
Es bedeutet, dass wir
als Menschen nur dann existieren können, wenn wir nicht einfach
nur auf unserer Identität beharren, sondern uns vor allem in
die größere Wirklichkeit einordnen, deren Teil wir sind.
Wie alle anderen Holons sind wir dazu berufen, uns selbst zu transzendieren,
über uns hinauszugehen. Dieses Gesetz hat Charón die
"Finalität" genannt. Damit ist nicht Ende und Abschluss
gemeint, sondern die Tendenz des Seienden zum Größeren.
Charón scheut sich nicht, diese Tendenz "Liebe"
zu nennen - Liebe im Sinne eines allem Seienden innewohnenden Dranges
zur Selbsttranszendenz. Wo das Vermögen zur Selbsttranszendenz
fehlt, bleiben nur Untergang und Zerfall. Ein geschlossenes System,
dem das Vermögen zur selbstüberschreitenden Kommunikation
fehlt, kann nicht bestehen. Ein sprechendes Beispiel dafür
ist die Krebszelle. Sie grenzt sich aus dem Organismus aus und stürzt
ihn damit in den Untergang. Selbsttranszendenz ist so gesehen die
Grundhaltung des Universums. Und sie ist der eigentliche Motor der
Evolution.
Der Evolution? Wie
das?
Man würde die Wirklichkeit
falsch verstehen, wenn man sie nur als statische Verschachtelung
von Ganzen und Teilen beschreiben wollte. Die Welt ist nicht eine
"Schöpfung" Gottes, die er am Anfang der Zeit ein
für allemal eingerichtet hat. In Wahrheit ist sie ein lebendiger
Prozess der Evolution. In Gang gehalten wird sie durch die Liebe
- das Vermögen des Seienden zur Selbsttranszendenz. Sie beginnt
in der Öffnung des Atoms zum Molekül und reicht bis in
die Sphäre des Geistigen. Geist transzendiert alle Holons und
durchdringt sie gleichzeitig. Das heißt: Holons bilden immer
neue Organismen, bis der Organismus seine eigene Geistigkeit realisiert.
Ein solcher Organismus ist der Mensch. Aber bei ihm wird die Evolution
nicht stehen bleiben. Sie wird immer neue Holons bilden, in denen
sich das Bewusstsein immer umfassender evolviert. Auf der nächsten
Stufe würden wir uns dann nicht mehr primär als individuelle
Personen verstehen, sondern als Teile der einen, umfassenden Menschheit.
Wollen Sie damit sagen,
dass wir Menschen in Wahrheit gar keine Individuen sind, sondern
eigentlich nur Teilaspekte eines größeren Organismus?
Dieser Gedanke erschüttert den Kern unseres westlichen Selbstverständnisses!
Das wäre eine Missverständnis.
Die Theorie des Holen ist ganz und gar nicht antiindividualistisch.
Sie macht nur darauf aufmerksam, dass Individualität nicht
die einzige und letztgültige Wirklichkeit des Menschen ist.
Individualität und Personalität stellen sich aus ihrer
Perspektive als Instrumente dar, auf denen die erste Wirklichkeit
spielt - durch die sie sich ausdrückt. Der Kosmos ist eine
Symphonie, die darauf angewiesen ist, dass es individuelle Wesen
gibt, die sie erklingen lassen. Damit kommt der Personalität
eine große, wenn auch keine absolute Bedeutung zu: Das Individuum
ist eine einmalige und unersetzbare Ausdrucksform des Göttlichen.
Darin hat es seinen unerschütterlichen Wert. Dieser Wert wird
weder von der Theorie des Holon noch von der mystischen Spiritualität
in Abrede gestellt. Er wird lediglich anders begründet als
in unserem herkömmlichen Selbstverständnis, in dem wir
uns mit unserer Individualität identifizieren und ihr dadurch
eine ungebührliche Absolutheit verleihen. Dagegen erhebt die
Mystik Einspruch, indem sie sagt: Nicht als unser absolut gelochtes
Ich ist Individualität wertvoll, sondern als Erscheinungsort
Gottes in der Welt.
Das heißt: Um
uns selbst - in unserer Individualität - recht zu verstehen,
müssen wir über uns selbst hinausgehen und uns transzendieren?
Ja, und nicht nur, um
uns selbst, sondern um die Wirklichkeit im Ganzen zu verstehen.
Erkennen heißt: die Fixierung auf die Ich-Individualität
überwinden und sich öffnen für die göttliche
Wirklichkeit, die wir wesentlich sind. Nicht ich als individuelles
Wesen erkenne mich oder die Welt, sondern die Welt erkennt sich
selbst in mir - in ihrer personalen Manifestation, die ich "Ich"
nenne. Verstehen ist mit anderen Worten nicht das Aneignen einer
objektiven Wirklichkeit durch ein subjektives Individuum, sondern
Verstehen ist das Zu-Sich-Selbst-Kommen der transpersonalen Wirklichkeit,
des transpersonalen Bewusstseins. Ein echtes Verstehen der Wirklichkeit
setzt daher die Selbstaufgabe der Ich-Individualität voraus.
Für das europäische
Denken, das diese Ich?Individualität oder Subjektivität
für die absolute Wirklichkeit hält, ist dieser Gedanke
eine ungeheure Provokation. Ebenso für die Theologie.
Ja, aber die Erkenntnisse
der Naturwissenschaft unterstützen diese Sichtweise, während
die Theologie vor ihr zurückweicht und weiterhin die Perpetuierung
des Ich im Jenseits predigt. Damit verbaut sie sich die Chance,
den Menschen eine Handhabe für ihr religiöses Erleben
zu liefern. Das Christentum braucht eine vollkommen neue Interpretation
- eine Interpretation, die aus dem Fundus der kosmologischen Erkenntnisse
der Naturwissenschaften eine neue Theologie entwickelt.
(1) Albert Einstein: Die Religiosität der Forschung, in: C. Seelig
(Hg.): Mein Weltbild, Berlin
(2) Gary Zukav: Die tanzenden Wu Li Meister, Hamburg 1997, S. 351.
(3) Max Planck, in: Zeitschrift für Erfahrungsheilkunde, Heft
12/90, S. 807.
(4) Rupert Sheldrake: Das Schöpferische Universum, München.
(5) J. Charón: Der Geist der Materie, Hamburg 1979, S. 140.
In:
Willigis Jäger: Die Welle ist das Meer. Mystische Spiritualität.
Hrsgg. von Christoph Quarch. Freiburg im Breisgau: Herder 2000,
S. 102-114.