St. Michael Tübingen
Jahresthema 2012

 
 
 


 

Wie die Bergpredigt gelesen werden will

 

Zehn Hinweise aus Sicht heutiger Forschung

 

Michael Theobald *
Vortrag in St. Michael / Tübingen am 17. Januar

Text des Vortrags zum Herunterladen

 

 

Was hat ein Musikwissenschaftler mit einem Exegeten zu tun? Der Musikwissenschaftler analysiert die Partitur zum Beispiel einer Symphonie und fragt dabei nach form- und gattungsgeschichtlichen Gesichtspunkten, berücksichtigt die Biographie ihres Schöpfers, aber auch ihre geistesgeschichtlichen und musiksoziologischen Entstehungsbedingungen. Und er weiß, dass eine lebendige Aufführung dieser Symphonie durch die Musiker noch einmal etwas ganz anderes ist als ihre wissenschaftliche Analyse. Dennoch verbindet er mit seiner Arbeit die Erwartung, dass sie dem Interpreten etwa durch Einsicht in Form und Dynamik des Werkes hilft, wenn er daran geht, es aus dem Geist der Partitur heraus in einem glücklichen Zeitmoment neu zum Leben zu erwecken.



Ganz ähnlich verhält es sich m. E. mit dem Exegeten und den vielen Lesern des Bibeltextes an den unterschiedlichsten sozialen Orten, in Bibelkreisen oder auch im Raum der Liturgie. Auch der Exeget weiß zwischen seiner wissenschaftlichen Analyse des Textes und dem Lesen der Bibel durch Menschen, die sie mit ihren Lebensfragen im Kopf aufschlagen, zu unterscheiden. Auch er erwartet, dass seine exegetische Analysearbeit, wenn sie denn gut vermittelt ist, ihnen hilft, die Bibeltexte sachgemäß zu lesen und nicht einfach in sie das hineinzulegen, was sie gerne von ihnen hören möchten. Aber er weiß auch, dass es eine Freiheit der Lektüre gibt, weil der Text in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedlich zu sprechen beginnt, und er möchte die Freiheit, in je konkreter Situation das Wort Gottes zu hören, den Lesern nicht nehmen.


In diesem Sinne sind auch die folgenden zehn Hinweise zur Bergpredigt aus der Sicht heutiger Forschung gedacht. Sie bescheiden sich mit einigen Grunddaten, derer man sich vergewissern sollte, wenn man daran geht, sich vertieft mit dem Text auseinanderzusetzen. Dabei bin ich mir dessen bewusst, dass sich ein Verstehen der Bergpredigt, wenn wir sie denn zum Leittext unseres kirchlichen wie persönlichen Lebens nehmen wollen, sich erst dann bahnbricht, wenn wir erkennen, dass sie hier oder dort in unser Leben eingreift und es verändert.

1. Wovon reden wir genau, wenn wir von der "Bergpredigt Jesu" reden?

Die Bergpredigt Jesu, Mt 5,1-7,29, umfasst 3 Kapitel mit insgesamt 111 Versen. Davon gehen nach meiner Einschätzung ungefähr 70 Verse, also etwa zwei Drittel, in ihrer Substanz auf Jesus zurück, der Rest ist hinzugewachsen bzw. stammt aus der Feder des ersten Evangelisten. Mit anderen Worten: Wir haben keine Rede Jesu vor uns, die er auf irgendeinem Berg in Galiläa so gehalten hätte, sondern eine literarische Komposition des Evangelisten Matthäus. Da sie bei Lukas in dessen Rede Jesu "auf einem ebenen Feld" (Lk 6,17) eine (wenn auch viel kürzere) Parallele besitzt (Lk 6,20-49), geht die Forschung davon aus, dass deren gemeinsame Quelle, das wenige Jahrzehnte nach dem Tod Jesu entstandene sog. "Spruchevangelium", bereits eine derartige Grundsatzrede Jesu enthielt. Jesus selbst war kein Mann großer Reden. Wir kommen ihm näher, wenn wir sagen: Er war ein begnadeter Erzähler, der wunderbare Gleichnisse dichten konnte, vor allem aber ein Prophet und Weisheitslehrer, dessen Domäne die Bildung knapper und treffsicherer Sprüche war. Erst das erwähnte "Spruchevangelium" hat eine Reihe von ihnen nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu einer Rede zusammengefügt; Matthäus griff diese auf und schuf aus ihr im Kontext seines um 80-90 n. Chr. in Syrien verfassten Evangeliums die sog. "Bergpredigt". Wer ihr auf die Spur kommen will, hat sie also als ein Stück Literatur und Theologie aus seiner Feder zu lesen, was schon damit beginnt, dass er ihre Szenerie in ihrer fiktionalen Kraft erkennt. Die Rede vom Berg will nämlich keine geographische Angabe sein - Matthäus sagt nicht, Jesus sei "auf einen Berg" gestiegen (so die Luther- und die Einheitsübersetzung), sondern "auf den Berg" (so die revidierte Zürcher Übersetzung) - und jeder Bibelkenner erinnert sich, wenn er dies hört, sogleich an den Mosesberg des Alten Testaments und stellt sich dann die Frage, wer es eigentlich ist, der jetzt auf diesem Berg spricht und ob er, der dies in unüberbietbarer "Vollmacht" tut, so dass "die Leute überwältigt waren"(1) , wie es nach der Rede heißt (Mt 7,28), nicht viel größer sein müsse als Mose, der einst Gottes Willen vom Sinai herab dem Volk kundtat.

2. Wer sind die Adressaten der "Bergpredigt"?

Natürlich sind die Adressaten der Bergpredigt die Leser des Evangeliums, und das heißt auch wir, die wir uns von ihr herausfordern lassen wollen. Doch scheint es nicht unnütz zu sein, die Frage nach ihren Adressaten zunächst einmal an die Erzählwelt des Buches selbst zu richten, also darauf zu achten, vor welchem Publikum Matthäus Jesus als Redner auftreten lässt. Wenn er erzählt, dass Jesus auf den Berg gestiegen sei, als er die vielen Menschen zu sich heranströmen sah, denkt er nicht an das Gedränge, dem er zu entkommen suchte, oder an die bessere Akustik auf dem Gipfel des Berges, sondern daran, dass diese Menschen, die ihm "aus Galiläa, der Dekapolis, Jerusalem, Judäa und von jenseits des Jordans" gefolgt waren (Mt 4,25), ganz Israel repräsentierten. Dieses Israel, also das Gottesvolk, sollte jetzt vom Berg herab die authentische Interpretation des Willens Gottes aus dem Munde seines Messias hören. Lagert es am Fuß des Berges, so stehen die "Jünger", Matthäus zufolge die vier erstberufenen Brüderpaare Andreas und Petrus, Jakobus und Johannes, dann die Zwölf insgesamt, oben auf dem Gipfel vor dem "sitzenden" Jesus - wie die Schüler vor ihrem Lehrer -, und hören seine Worte: "Und er öffnete seinen Mund", sagt Matthäus, "und lehrte sie und sprach: Selig die Armen im Geist - ihnen gehört das Himmelreich". An wen sich diese und alle folgenden Worte richten, ist nicht ganz klar: Nur an die Jünger oben auf dem Gipfel oder auch an die Volksmenge unten? Da am Ende der Rede alle Menschen "außer sich waren" über sie, haben sie auch alle gehört. Die Bergpredigt ist keine esoterische Lehre. Das Szenario auf dem Berg und an seinem Fuß ist deshalb für die Auslegung der Rede insgesamt von großer Bedeutung:

Claude Lorrain (1600-1682) The Sermon on the Mount 1656 - The Frick Collection New York (Ausschnitt)

Während die Seligpreisungen zu ihrem Beginn in der dritten Person Plural formuliert sind - "selig die Gewaltlosen", "selig die Barmherzigen", "selig die Friedenstifter" usw., - geht die Rede schon bei der letzten ihrer Reihe in die zweite Person Plural über und bleibt dann auch dabei: "Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und euch das Ärgste nachsagen um meinetwillen …" (Mt 5,11). Gemeint sind die "Jünger" bzw. diejenigen, für die ihre Erzählfigur im Evangelium steht: die Gemeinde derer, die Jesus nachfolgen. Sie ist deshalb auch der Ort, an dem die Weisungen der Bergpredigt zuerst in die Tat umgesetzt werden wollen. Mit anderen Worten: Bevor die Christen sie anderen vorhalten, sollen sie selbst unter sich Jesu Wort verwirklichen. Dann mag die Welt an ihrer Gemeinschaft ersehen, was es heißt: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!" (Mt 7,1) oder" "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon!" (Mt 6,24).

Eine Binnenmoral für die Kirche als Sondergruppe ist die Bergpredigt deshalb aber nicht. Was Jesus zu den Zwölfen oben auf dem Berg sagt, soll ganz Israel hören. Und wenn der Auferweckte am Ende des Matthäusevangeliums seine Jünger wieder auf den Berg bestellt, um ihnen zu erklären: "[…] Geht hin und macht alle Völker zu Jüngern! […] Lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe", dann heißt das nichts anderes, als dass er die Bergpredigt nun nicht nur für die Kirche in Kraft setzt, sondern als Weisung zum Leben mit der Dynamik der Mission verbindet, weil diese allen Völkern gilt. Obwohl ihr Ethos jüdisch geprägt ist, geht Matthäus damit doch von seiner universalen Relevanz aus. Zum Ausdruck bringt er das unter Voraussetzung, dass die sog. "Goldene Regel" in der hellenistischen Kultur seiner Zeit überall verstanden wurde, in der Bergpredigt selbst, wenn er nämlich in Mt 7,12 lapidar erklärt: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen. Darin besteht das Gesetz und die Propheten".

3. Wie sieht der weitere Kontext der "Bergpredigt" aus?

Es war jetzt schon des öfteren von den Weisungen der Bergpredigt die Rede. Ihnen hängt seit langem das Etikett der Radikalität an, das die beunruhigende Frage aufwirft, ob ihr Ethos überhaupt lebbar ist. "Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin" (Mt 5,39). Überfordert eine solche Weisung nicht den Menschen? Ist sie nicht in dem Sinne unrealistisch, als sie die Natur des Menschen völlig übergeht und nicht wahrnimmt, dass sich alles in uns gegen sie sträubt? Darauf kommen wir später zurück. Hier sei nur angemerkt, dass Matthäus selbst nirgends im Evangelium durchscheinen lässt, dass Jesu Weisungen unerfüllbar seien. Er lässt ihn vielmehr bei späterer Gelegenheit sagen: "Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seeelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht" (Mt 11,29f.). Vor allem aber darf man die Bergpredigt weder auf ihre sog. radikalen Weisungen reduzieren und diese für das Ganze nehmen, noch darf man sie aus ihrem übergeordneten Erzählkontext isolieren. Dieser ist für ihr rechtes Verständnis unabdingbar.

Unmittelbar bevor nämlich Jesus auf dem Berg seine Rede hält, heißt es: "Und die Kunde von ihm verbreitete sich in ganze Syrien. Und sie brachten zu ihm alle Kranke, behaftet mit mancherlei Leiden und Plagen - Besessene, Mondsüchtige und Gelähmte - und er heilte sie alle". Zuerst erweist Jesus sich als Heiland, der ganz Israel gesund macht, der die Menschen von ihren Plagen befreit - dann erst predigt er. Zuerst handelt er an den Menschen, dann erst spricht er zu ihnen. Zuerst erweist er ihnen seine Gnade, dann erst gebietet er ihnen, dem Willen Gottes gemäß zu leben. So zeichnet Matthäus Jesus als Messias der Tat und des Wortes - des Wortes in der Bergpredigt, der Tat in dem anschließen Zyklus von Heilungserzählungen in Mt 8f. Beides gehört unabdingbar zusammen. Nur so wird die Bergpredigt davor bewahrt, als ein rigides moralisches Gesetz missverstanden zu werden.

4. Der Aufbau der "Bergpredigt"

Gleiches lässt sich am Aufbau der Bergpredigt selbst beobachten, über den wir uns zunächst einen kleinen Überblick verschaffen wollen. Sie ist kunstvoll gegliedert, wie das die antike Rhetorik erfordert: in eine Einleitung, einen Hauptteil - bestehend aus drei größeren Abschnitten - und einen Schlussteil. Im Schema sieht das so aus:

Einleitung Die Seligpreisungen (5,2-12)
  Wesen und Aufgabe der Jüngerschar = Kirche (5,13-16):
Die Gleichnisse vom Licht und vom Salz


Hauptteil

1. Abschnitt

(Grundlegung)

Proömium zu den "Antithesen":

Jesus erfüllt Gesetz und Propheten (5,17-20)

Die sog. sechs "Antithesen" mit der Weisung zur Feindesliebe als Klimax (5,21-48)


2. Abschnitt

(Elementares)

Frömmigkeitsregeln:
Almosen, Beten, Fasten (6,1-18)
3. Hauptteil
(Entfaltung)
Ungeteilter Dienst (6,19-7,12)
Schluss Die zwei Wege (7,13-14)
  Verwerfung der falschen Propheten (7,15-23)
  Gleichnis von der Sturmflut (7,24-27)


Matthäus eröffnet die Grundsatzrede Jesu mit den sog. Seligpreisungen (4 +4 +1). Selig gepriesen werden hier Menschen, die eine bestimmte Einstellung Gott und dem Nächsten gegenüber an den Tag legen, eine Einstellung, die sich zugleich in einem bestimmten Handeln niederschlägt: Gott gegenüber die Einstellung der Armut, der Niedrigkeit, die alles von ihm erwartet, ihm alles zutraut, und deshalb auch auf eigene Gewalttätigkeit verzichten kann (die erste Strophe von vier Seligpreisungen) - und dem Nächsten gegenüber Barmherzigkeit und Friedenswillen, auch wenn dies in Verfolgung führen kann (die zweite Strophe von vier Seligpreisungen). Von ihrer biblisch-frühjüdischen Form her fordern und klagen die Seligpreisungen nicht zuerst derartige Einstellungen ein, sondern sind Zuspruch von Heil. Als Zuspruch bringen sie zum Ausdruck, dass Jesus den Menschen es auch zutraut, so zu handeln, und dass solches Handeln unter seiner Verheißung steht. Wieder können wir also beobachten: Der matthäische Jesus hält keine Moralpredigt, sondern ermutigt die Menschen zuerst in unerhörter Weise: Er spricht ihnen die Teilhabe am Himmelreich zu mit allem, was dies einschließt: angesichts menschlicher Untröstlichkeit von Gott getröstet zu werden, angesichts menschlichen Dürstens nach Sinn und Gerechtigkeit von Gott gesättigt zu werden.

Im Hauptteil der Rede bestimmt der Bergprediger grundlegend das Verhältnis seines vollmächtigen Wortes zur Tora bzw. genauer zu deren pharisäischer zeitgenössischer Auslegung. Hier zeigt sich konkret der jüdische Raum des von ihm entfalteten Ethos. Der Bogen ist gespannt von Mt 5,17-20, dem kleinen "Proömium" zu den sechs Antithesen, bis hin zu Mt 7,12, wo - wir sprachen schon kurz davon - der Sinn von "Propheten und Gesetz" mit der Goldenen Regel auf den Punkt gebracht wird.

Der ausleitende Teil stellt die Hörer vor die Entscheidung: Es gibt zwei Wege - einen zu gelingendem Leben, einen anderen, der ins Verderben führt. Für die jüdisch geprägte Ethik des Matthäus ist dies höchst charakteristisch: Er rechnet mit der Einsicht und Freiheit des Menschen, sich so oder so entscheiden zu können.

5. Das Vaterunser als die Mitte der "Bergpredigt"

Aus dem Zuspruch seitens Jesu an seine Hörer erwächst erst sein Anspruch an sie, so sahen wir. Dieser Zuspruch, der aus Jesu Vollmacht als Messias und Sohn Gottes kommt, legt aber noch etwas anderes frei: Er ermutigt nämlich auch, im Gebet sich auf Gott einzulassen, ihm zu antworten und sich vor allem so in das Geschehen seiner hereinbrechenden Himmelsherrschaft hineinzubegeben. Abzulesen ist das gleichfalls am Aufbau der Bergpredigt. In ihrem Zentrum steht Jesu eigenes Gebet, das Vaterunser (Mt 6,9-13), das Teil der Gebetsweisung Mt 5,7-15 ist. Aber es besetzt nicht nur das räumliche Zentrum der Bergpredigt, sondern bezeichnet auch ihre spirituelle Mitte: Es nimmt all das ins Gebet, was der Bergprediger davor in seinen Weisungen schon angesprochen hat und danach noch ansprechen wird: Dass Gottes Reich komme und sein Wille auf Erden wie im Himmel geschehe, schaut zurück auf die "Antithesen", in denen Jesus authentisch die Tora als Niederschlag des Gotteswillens auf den Punkt gebracht hat, greift aber auch die Seligpreisungen auf, die ja das Tun der Menschen unter den Zuspruch des Himmelreiches gestellt haben. Und die nachfolgenden konkreten Bitten des Vater Unser - die um das lebensnotwendige Brot, die Vergebung der Schulden und die Bewahrung vor der Versuchung des Abfalls - nehmen vorweg ins Gebet, was die "Entfaltung" des dritten Hauptteils konkret zum Umgang mit Reichtum und Überfluss wie zum Umgang mit den eigenen Verfehlungen und denen der anderen gebieten wird. Ein weiteres Mal zeigt sich, dass Jesu Weisungen alles andere als gnadenlose Imperative sind, vielmehr in das Gebet derer, die sie hören und befolgen wollen, eingebettet sein wollen. Es zu sprechen, bedeutet nicht, viele Worte zu machen - "euer Vater weiß ja, was ihr bedürft, noch ehe ihr ihn bittet" (Mt 6,8) -, sondern sich mit dem Vaterunser auf die einzig notwendigen Dinge des Lebens zu konzentrieren: dass Gott sich als Gott erweisen möge und wir mit unseren Grundfragen - der nach unserem Versagen wie der nach unserer täglichen Ernährung - von Gott gehalten werden.

6. Die Hyperbolie der Sprache Jesu

Von der Gesamtkonzeption der Bergpredigt wenden wir uns im Folgenden hin zu drei eher konkreten Kennzeichen ihrer Sprache. Das erste Kennzeichen - ihre zeitweilige Hyberbolie - hängt mit den rezipierten Sprüchen Jesu zusammen und ist typisch für dessen Sprache. Matthäus hat sie in Gestalt der jesuanischen Bausteine, die seiner Redekomposition zugrunde liegen, treu bewahrt. Einige Beispiele:

Mt 6,3: "Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut". Physiologisch gesehen, ist das Unsinn. Wie soll ich eine meiner beiden Gehirnhälften abschalten können? - Mt 7,3f.: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? […]". Auch hier bedient Jesus sich einer unmöglichen Vorstellung. - Mt 7,9f.: "Oder ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet, oder eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet?" Antwort auf diese Suggestivfrage: Natürlich nicht. - Ein bekanntes Beispiel aus einem anderen Traditionsbereich lautet: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt" (Mk 10,25).

Für Thomas Bernhard, den genialen österreichischen Wort-Virtuosen, ist die "Kunst des Übertreibens" der Motor aller Schriftstellerei. In seinem letzten Roman meint der Erzähler einmal:

"Wenn wir unsere Übertreibungskunst nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich langweiligen Leben verurteilt, zu einer gar nicht mehr existierenswerten Existenz. Und ich habe meine Übertreibungskunst in eine unglaubliche Höhe entwickelt, hatte ich zu Gambetti gesagt. Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben, hatte ich zu ihm gesagt, nur die Übertreibung macht anschaulich, auch die Gefahr, dass wir zum Narren erklärt werden, stört uns in höherem Alter nicht mehr. Es gibt nichts Besseres, als in höherem Alter zum Narren ernannt zu werden. Das höchste Glück, das ich kenne, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist das des Altersnarren, der gänzlich unabhängig seinem Narrentum nachgehen kann. Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir uns spätestens mit vierzig zum Altersnarren ausrufen und versuchen, unser Narrentum auf die Spitze zu treiben. Das Narrentum ist es, das uns glücklich macht, hatte ich zu Gambetti gesagt" (2).

Leider muss ich abbrechen, um zu Jesus zurückzukehren. Auch er war ein Übertreibungskünstler, manche hielten ihn sicher für einen Narren (3). Übertrieben hat er desöfteren, er liebte hyberbolische Rede und setzte sie ein, um aufzuschrecken, um zur Besinnung zu bringen. Er wollte Zuhörer, die, erschrocken über sich selbst, sich ihre eigenen Gedanken machen, um dann auch entschlossen zu handeln.

7. Exemplarische Rede Jesu

Mit dieser Art Sprachform hängt ein Zweites zusammen. Jesus scheint relativ selten grundsätzliche Äußerungen von sich gegeben zu haben, eine solcher Äußerung ist etwa Mt 5,44: "Liebet eure Feinde!" Mit ihrer Begründung, die den Blick auf Sonne und Regen lenkt, wird sie allerdings schnell wieder konkret: "damit ihr Söhne euere Vaters im Himmel werden, denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Mt 5,45). Mit anderen Worten: Wie der Schöpfer die lebensnotwendigen Gaben wie Wasser und Wärme nicht entsprechend der moralischen Qualität der Empfänger verteilt, so sollt auch ihre eure Tatliebe - von Emotionen ist nicht die Rede - sogar euren Feinden zuwenden.

Typisch für Jesus ist seine konkrete, modellhafte Rede, an der er seine Grundsätze veranschaulicht. Ein Beispiele ist Mt 5,41: "[…] Wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!" Die Situation, die der Spruch voraussetzt, kennen wir durch Simon von Kyrene, der gezwungen worden war, dem zum Tode verurteilten Jesus das Kreuz nachzutragen. Die hier Gewalt ausüben, sind römische Soldaten. Sie nahmen sich das Recht heraus, Leute aus der Zivilbevölkerung zur Fron zu zwingen. Die "normale" Reaktion wäre gewesen, sich dagegen zu wehren, wenn möglich, mit Gewalt. Das taten die Zeloten. Anders Jesus! Er empfiehlt seinen Zuhörern demonstrative Wehrlosigkeit als Reaktion. Sie sollen nicht alles passiv über sich ergehen lassen, sondern sich ihrem Bezwinger zuwenden, etwa in der Weise, dass sie ihm anbieten, sein schweres Gerät sogar noch eine Meile weiter zu tragen. Ob der Soldat dann vielleicht den Menschen, den er zu seinem Objekt degradieren wollte, ins Angesicht blickt und in ihm einen Menschen mit eigener Würde erkennt? Jeder wird mir zustimmen, wenn ich sage: Eine derartige Rede ist nicht auf Kopie aus, sondern will modellhaft verstanden werden. Die Zuhörer sollen lernen, alle ihre Phantasie aufzubringen, um in vergleichbaren Situationen auf das rechte Mittel zu kommen, den ewigen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Noch einmal: Jesus will Zuhörer, die selbst ans Denken kommen und seine Impulse eigenverantwortlich in ihrer Situation in die Tat umsetzen.

8. Androzentrische Sprache

Das gerade beigebrachte Beispiel stammt aus der Welt der palästinischen Besatzer und der unter ihnen leidenden Bevölkerung. Ein weiteres Beispiel, das sowohl hyperbolisch als auch aus einer konkreten Situation geschöpft ist, weist ein drittes Merkmal auf, das erwähnenswert ist; es stammt aus der Männerwelt, die schnell die Fäuste sprechen lässt: "Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin!" (Mt 5,39). Ein solcher Schlag tut nicht nur weh, sondern galt auch, weil mit dem Handrücken ausgeführt, als entehrend und als Schande. Wieder ruft Jesus nicht zur Passivität auf - nach dem Motto, lass es mit dir geschehen! -, sondern empfiehlt demonstrative Wehrlosigkeit: Statt der Fäuste soll die Vernunft sprechen.

Einige der von Jesus stammenden Beispiele verweisen in die Männerwelt - in der Antike quasi mit der Öffentlichkeit identisch, wohingegen die Domäne der Frauen das Haus war. In der Öffentlichkeit der Männerwelt geschehen die Handgreiflichkeiten von Mt 5,39, die verbalen Beleidigungen von Mt 5,22, hier wird auch trotz des Anscheins öffentlichen Rechts sublim Gewalt geübt: bei Schuldprozessen (Mt 5,24-26) oder Pfändungsprozessen (Mt 5,40).

Frauen kommen in der Bergpredigt nur als Objekte vor, als Objekte des begehrlichen Blicks des Mannes (Mt 5,28) und seiner Scheidungs- und Heiratabsichten (Mt 5,31-32). Von der im römischen Recht vorgesehenen Möglichkeit, dass auch die Frau die Initiative zur Scheidung ihrer Ehe ergreifen kann, ist in der Bergpredigt - im Unterschied zum Markusevangelium - nicht die Rede.

Aber auch die Bergpredigt insgesamt folgt - als Komposition des Matthäus - der androzentrischen Perspektive. Viel ist vom "Bruder" die Rede (Mt 5,22.23f.47; 7,3-5), auch davon, dass die Friedensstifter und diejenigen, die ihre Feinde lieben, "Söhne Gottes" genannt (Mt 5,9) bzw. zu "Söhnen des Vaters im Himmel" werden (Mt 5,45). Gott selbst wird dezidiert und durchgehend als "Vater in den Himmeln" (Mt 5,16.45.48; 6,1f.6.9.14f.18.26; 7,11.21) angesprochen. Ganz am Ende der Bergpredigt sind es der besonnene und törichte Hausbauer, die ihren Leserinnen und Lesern als positives und negatives Beispiel für ihren Lebensentwurf vor Augen gestellt werden (Mt 7,24-27).
Für eine Lektüre der Bergpredigt heute, die von einer grundlegend anderen Sicht der Geschlechter samt ihren nicht mehr eindeutig fixierten, sondern sozial sehr unterschiedlichen Rollen ausgeht, ist es wichtig, sich die androzentrische Perspektive des Textes, die wahrscheinlich auch mit dem pharisäisch-jüdischen Herkunftsmilieu des Matthäus zusammenhängt, klar zu machen. Geschieht dies, kann der Text im Gespräch auch als Katalysator dienen, durch den hindurch man die eigene Situation besser versteht und fragt, wie hier und heute die Kreisläufe der Gewalt ablaufen und die Impulse Jesu, sie zu durchbrechen, wirksam werden könnten.

9. Jüngergemeinschaft und synagogales Judentum

Mit der letzten Bemerkung zur Herkunft des Matthäus aus einem pharisäisch-jüdischen Milieu kommen wir zu zwei abschließenden Beobachtungsreihen, die an die Fremdheit der Bergpredigt für uns Christen aus der Völkerwelt anschließen. Wenn Matthäus "seinen" Jesus im Proömium zu den "Antithesen" erklären lässt: "Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein Jota oder Häkchen von der Tora vergehen" (Mt 5,18), ist das für das Bild, das wir uns von der "judenchristlichen" Gemeinde des Matthäus machen, ernst zu nehmen: Die Tora galt in ihr insgesamt weiter, auch den Sabbat zum Beispiel hielt sie (vgl. Mt 24,20). Aber die Tora - so der hermeneutische Grundsatz des Evangelisten - enthält "wichtige" und weniger wichtige Gebote - die weniger wichtigen sind zum Beispiel die pharisäischen Traditionen der "Verzehntung" von Speisen, die "schweren" dagegen "Recht, Barmherzigkeit und Treue: Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen", erklärt er (Mt 23,23). Für das Verständnis der sog. "Antithesen" im ersten Abschnitt des Hauptteils der Bergpredigt folgt daraus:

Die jeweils an zweiter Stelle stehenden Worte Jesu (eingeleitet mit: "Ich aber sage euch") heben die in den Vordersätzen genannte Weisung der Tora (in der Regel dargeboten in pharisäischer Deutung) nicht auf, sondern bringen sie auf den Punkt, indem sie den mit ihnen verbundenen eigentlichen Willen Gottes herausstellen. Es handelt sich also - in der Terminologie des Matthäus - um die wahrhaft "wichtigen" Weisungen, auf die alles ankommt: Verzicht auf tötende Aggression, Versöhnungsbereitschaft, Treue in der Ehe, Wahrhaftigkeit im Wort, Verzicht auf Durchsetzung des eigenen Rechts und als Klimax von allem die Feindesliebe.

Nun weiß Matthäus zu seiner Zeit um 80/90 n. Chr. auch um heidenchristliche Gemeinden in der Kirche, die sich nicht mehr an die Tora insgesamt gebunden wussten, sondern im Doppelgebot der Liebe schon die Erfüllung der Tora sahen. Von ihr nahmen sie - auf der Linie des Völkerapostels Paulus - an, dass sie von der Einhaltung spezifisch jüdischen Lebensstil betreffenden Weisungen dispensierte. Umso sympathischer ist der liberale Standpunkt des Matthäus, der solche Christen nicht verdammt oder vom Heil ausschließt, sondern ihnen nur einen geringeren Platz im Himmelreich zugesteht. Ausgedrückt hat er dies nach einer plausiblen Deutung des schwierigen Verses im Proömium zu den "Antithesen", und zwar in Mt 5,19: "Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Menschen so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich"; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich". Mit anderen Worten: Wer sich an die weniger "wichtigen" Gebote der Tora nicht mehr hält und sie andere auch nicht mehr lehrt, wird vom Himmelreich nicht überhaupt ausgeschlossen, was nur geschähe, wenn er die wirklich wichtigen Weisungen wie "Recht, Barmherzigkeit und Treue" verraten würde. Allerdings muss er entsprechend jüdischer Vorstellung damit rechnen, dass es auch im Himmel unterschiedliche Rangstufen gibt und er mit dem untersten Rang Vorlieb nehmen muss. Uns heute mutet diese Vorstellung fremd und skurril an, aber Matthäus half sie, mit "heidenchristlichem" Lebensstil, der ihm an sich fremd war, theologisch ohne Verdammungsurteil umzugehen. Wichtiger noch als diese Vorstellung eines gestuften Himmels ist allerdings sein hermeneutischer Grundsatz der Unterscheidung zwischen "wichtigen" und weniger "wichtigen" Geboten - wir würden sagen, seiner Einsicht in die Hierarchie der Werte, die ihm erst seine Gelassenheit anderen Lebensstilen gegenüber erlaubte. Solche Einsicht in die Hierarchie der Werte und Wahrheiten setzt nämlich voraus, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vornehmen und auch frei sein sollten, sie vorzunehmen, wenn nur die "wichtigen" Weisungen wie die der Barmherzigkeit, des Rechts, der Treue und der Feindesliebe alles andere durchwirkt und beseelt. Wir dürfen also festhalten:

Es gibt nach Matthäus und seiner Bergpredigt tatsächlich unterschiedliche christliche Lebensformen und Lebensstile in der einen Kirche, konkret den "juden"- und den "heidenchristlichen" Lebensstil, und beide sind stark genug, sich gegenseitig anzuerkennen. Ich meine, dass das hier zum Ausdruck kommende Bild von Kirche für uns heute von allergrößter Relevanz ist.

10. Das Neue der Botschaft Jesu

Die Ethik der Bergpredigt ist nach dem bisher Gesagten ganz jüdisch geprägt. Das betrifft nicht nur die Tora-Sätze der sog. Antithesen - "ihr habt gehört, dass den Alten gesagt wurde" -, sondern auch die Worte Jesu. Zu jedem von ihnen hat die Forschung Parallelen aus jüdischen Quellen beigebracht, so dass die Frage im Raum steht: Wenn der Jesus der Bergpredigt materialiter nichts Neues gesagt hat, worin besteht dann das Neue seiner Botschaft? Darauf könnte man ganz einfach sagen: Das Neue ist zunächst er selbst, seine Person. Hierzu nenne ich abschließend nur drei Aspekte:

(1) Die Frage, wer Jesus eigentlich ist, beantwortet Matthäus so: Er ist der in Israel erwartete Messias, der Sohn Davids; seit seiner Auferweckung und "Inthronisation" an Ostern ist er aber auch der Herr, dem "alle Macht im Himmel und auf Erden verliehen wurde", ihm, der jetzt nicht nur Messias Israels, sondern Herr aller Völker ist. Von daher ist auch der Bergpredigt eine ungeheure Dynamik eingestiftet. Sie ist nicht nur Weisung an das am Fuß des Berges stehende Gottesvolk Israel, sie ist seit Ostern vielmehr Botschaft an die Welt, Angebot eines glückenden Lebens im Angesicht Gottes.

(2) Als der Messias Israels und Herr der Völker ist Jesus zugleich der Vertraute Gottes, sein Sohn, der durch sein Leben und Wort des Vaters Heilsabsichten mit dem Menschen in authentischer, unüberbietbarer Weise kundtut. Diese Heilsabsichten des väterlich-mütterlichen Gottes kulminieren darin, dass mit Jesus Gottes Herrschaft auf Erden insofern anbricht, als sie die Menschen in der Nachfolge Jesu in den Durst und den Hunger nach Gerechtigkeit hineinstellt. Mit Jesus, seinem Wirken und seiner Botschaft ist eine Dynamik in diese Welt gekommen, die erst mit dem Vollanbruch des Himmelreichs am Ende der Zeiten zu ihrem Ziel gelangt. Diese Heilsdynamik ist es auch, die allem ethischen Tun des Menschen und vor allem dem Leben der Kirche in dieser Welt im Zeichen der Bergpredigt den großen Atem verleiht. Man kann also sagen: Obwohl viele Weisungen auch außerhalb Nachfolge Jesu Sinn machen - und das spricht doch nur für ihre innere Überzeugungskraft" - , so ist es andererseits erst der übergreifende Motivationsrahmen der Botschaft von der mit Jesus angebrochenen Gottesherrschaft, der den Weisungen der Bergpredigt ihr spezifisches Kolorit gibt.

(3) Beim Jesus der Bergpredigt decken sich sein Wort und sein Leben, und diese Deckungsgleichheit ist es auch, die ihm Glaubwürdigkeit verschafft. Matthäus deutet das verschiedentlich in seinem Evangelium an. Wenn Jesus sagt: "Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben", so sagt er von sich selbst Mt 11,29: "Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir: denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig". Und Mt 21,5 heißt es über den auf einem Esel, keinem Schlachtross in Jerusalem einziehenden Jesus mit Sach 9,9: "Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers". "Barmherzigkeit" fordert Jesus nicht nur, er lebt sie auch selbst vor, zum Beispiel in seinem Umgang mit "Zöllnern und Sündern" und durch sein Verhalten am Sabbat (vgl. Mt 9,13; 12,7). Dadurch gerät er aber auch in eine Situation, die am Ende vonseiten seiner Gegner nur noch Schmähungen für ihn bereit hat (Mt 26,59f.;27,44), er also das erleidet, was er den "Jüngern" in seiner Nachfolge voraussagt. Die Deckungsgleichheit von Wort und Tat ist also für ihn als den Messias das Zeichen seiner Glaubwürdigkeit. Gleiches gilt nach Überzeugung des Matthäus auch für seine Kirche, wenn er Jesus am Ende der Bergpredigt sagen lässt: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten, und haben wir nicht mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr, die ihr Ungesetzlichkeit wirkt" (Mt 7,21-23). Für uns als Kirche, die wir einst auch sagen können: Was haben wir nicht alles in deinem Namen getan! sind diese Worte eine Warnung, die ganze Bergpredigt freilich ein Zuspruch, der auf gelingendes Leben hoffen lässt.

Anmerkungeen:

(1) So die revidierte Zürcher Übersetzung; Luther: "Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre". Einheitsübersetzung (1979) im typischen Zeitjargon: "Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr betroffen von seiner Lehre".

(2) THOMAS BERNHARD, Auslöschung. Ein Zerfall (1986) (Suhrkamp taschenbuch 2558), Frankfurt am Main 1996, 128f.

(3) HARVEY COX, Das Fest der Narren, 1970.

Hinweise zum Weiterlesen

AURELIUS AUGUSTINUS, Die Bergpredigt (Christliche Meister 54), Johannes-Verlag, Einsiedeln-Freiburg 22010.

STIEWE, M./VOUGA, F., Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums, Tübingen-Basel 2001.

WENGST, K., Das Regierungsprogamm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2011.

H.-U. WEIDEMANN, "Vergeltet nicht dem bösen Mann!" Versuch einer konsequent androzentrischen Lektüre der Bergpredigt, in einer Studie zur Bergpredigt in der Reihe SBS (=Stuttgarter Bibelstudien), die in Kürze erscheinen wird: Stuttgart 2012.

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* Prof. Dr. Michael Theobald ist Professor für neutestamentliche Exegese an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen