St. Michael Tübingen
Jahresthema 2012 |
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Wie die Bergpredigt gelesen werden will |
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Zehn Hinweise aus Sicht heutiger Forschung |
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Michael Theobald
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Was hat ein Musikwissenschaftler mit einem Exegeten zu tun? Der Musikwissenschaftler analysiert die Partitur zum Beispiel einer Symphonie und fragt dabei nach form- und gattungsgeschichtlichen Gesichtspunkten, berücksichtigt die Biographie ihres Schöpfers, aber auch ihre geistesgeschichtlichen und musiksoziologischen Entstehungsbedingungen. Und er weiß, dass eine lebendige Aufführung dieser Symphonie durch die Musiker noch einmal etwas ganz anderes ist als ihre wissenschaftliche Analyse. Dennoch verbindet er mit seiner Arbeit die Erwartung, dass sie dem Interpreten etwa durch Einsicht in Form und Dynamik des Werkes hilft, wenn er daran geht, es aus dem Geist der Partitur heraus in einem glücklichen Zeitmoment neu zum Leben zu erwecken.
Ganz ähnlich verhält es sich m. E. mit dem Exegeten und den vielen Lesern des Bibeltextes an den unterschiedlichsten sozialen Orten, in Bibelkreisen oder auch im Raum der Liturgie. Auch der Exeget weiß zwischen seiner wissenschaftlichen Analyse des Textes und dem Lesen der Bibel durch Menschen, die sie mit ihren Lebensfragen im Kopf aufschlagen, zu unterscheiden. Auch er erwartet, dass seine exegetische Analysearbeit, wenn sie denn gut vermittelt ist, ihnen hilft, die Bibeltexte sachgemäß zu lesen und nicht einfach in sie das hineinzulegen, was sie gerne von ihnen hören möchten. Aber er weiß auch, dass es eine Freiheit der Lektüre gibt, weil der Text in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedlich zu sprechen beginnt, und er möchte die Freiheit, in je konkreter Situation das Wort Gottes zu hören, den Lesern nicht nehmen.
In diesem Sinne sind auch die folgenden zehn Hinweise zur Bergpredigt aus der Sicht heutiger Forschung gedacht. Sie bescheiden sich mit einigen Grunddaten, derer man sich vergewissern sollte, wenn man daran geht, sich vertieft mit dem Text auseinanderzusetzen. Dabei bin ich mir dessen bewusst, dass sich ein Verstehen der Bergpredigt, wenn wir sie denn zum Leittext unseres kirchlichen wie persönlichen Lebens nehmen wollen, sich erst dann bahnbricht, wenn wir erkennen, dass sie hier oder dort in unser Leben eingreift und es verändert. 1. Wovon reden wir genau,
wenn wir von der "Bergpredigt Jesu" reden?
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Einleitung | Die Seligpreisungen (5,2-12) |
Wesen und Aufgabe
der Jüngerschar = Kirche (5,13-16): Die Gleichnisse vom Licht und vom Salz |
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Proömium zu den
"Antithesen": Jesus erfüllt
Gesetz und Propheten (5,17-20) Die sog. sechs "Antithesen" mit der Weisung zur Feindesliebe als Klimax (5,21-48) |
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Frömmigkeitsregeln: Almosen, Beten, Fasten (6,1-18) |
3. Hauptteil (Entfaltung) |
Ungeteilter Dienst (6,19-7,12) |
Schluss | Die zwei Wege (7,13-14) |
Verwerfung der falschen Propheten (7,15-23) | |
Gleichnis von der Sturmflut (7,24-27) |
Matthäus eröffnet
die Grundsatzrede Jesu mit den sog. Seligpreisungen (4 +4 +1). Selig
gepriesen werden hier Menschen, die eine bestimmte Einstellung Gott
und dem Nächsten gegenüber an den Tag legen, eine Einstellung,
die sich zugleich in einem bestimmten Handeln niederschlägt: Gott
gegenüber die Einstellung der Armut, der Niedrigkeit, die alles
von ihm erwartet, ihm alles zutraut, und deshalb auch auf eigene Gewalttätigkeit
verzichten kann (die erste Strophe von vier Seligpreisungen) - und dem
Nächsten gegenüber Barmherzigkeit und Friedenswillen,
auch wenn dies in Verfolgung führen kann (die zweite Strophe
von vier Seligpreisungen). Von ihrer biblisch-frühjüdischen
Form her fordern und klagen die Seligpreisungen nicht zuerst derartige
Einstellungen ein, sondern sind Zuspruch von Heil. Als Zuspruch bringen
sie zum Ausdruck, dass Jesus den Menschen es auch zutraut, so zu handeln,
und dass solches Handeln unter seiner Verheißung steht. Wieder
können wir also beobachten: Der matthäische Jesus hält
keine Moralpredigt, sondern ermutigt die Menschen zuerst in unerhörter
Weise: Er spricht ihnen die Teilhabe am Himmelreich zu mit allem, was
dies einschließt: angesichts menschlicher Untröstlichkeit
von Gott getröstet zu werden, angesichts menschlichen Dürstens
nach Sinn und Gerechtigkeit von Gott gesättigt zu werden.
Im Hauptteil der Rede bestimmt
der Bergprediger grundlegend das Verhältnis seines vollmächtigen
Wortes zur Tora bzw. genauer zu deren pharisäischer zeitgenössischer
Auslegung. Hier zeigt sich konkret der jüdische Raum des von ihm
entfalteten Ethos. Der Bogen ist gespannt von Mt 5,17-20, dem kleinen
"Proömium" zu den sechs Antithesen, bis hin zu Mt 7,12,
wo - wir sprachen schon kurz davon - der Sinn von "Propheten und
Gesetz" mit der Goldenen Regel auf den Punkt gebracht wird.
Der ausleitende Teil stellt die Hörer vor die Entscheidung: Es gibt zwei Wege - einen zu gelingendem Leben, einen anderen, der ins Verderben führt. Für die jüdisch geprägte Ethik des Matthäus ist dies höchst charakteristisch: Er rechnet mit der Einsicht und Freiheit des Menschen, sich so oder so entscheiden zu können.
Aus dem Zuspruch seitens Jesu an seine Hörer erwächst erst sein Anspruch an sie, so sahen wir. Dieser Zuspruch, der aus Jesu Vollmacht als Messias und Sohn Gottes kommt, legt aber noch etwas anderes frei: Er ermutigt nämlich auch, im Gebet sich auf Gott einzulassen, ihm zu antworten und sich vor allem so in das Geschehen seiner hereinbrechenden Himmelsherrschaft hineinzubegeben. Abzulesen ist das gleichfalls am Aufbau der Bergpredigt. In ihrem Zentrum steht Jesu eigenes Gebet, das Vaterunser (Mt 6,9-13), das Teil der Gebetsweisung Mt 5,7-15 ist. Aber es besetzt nicht nur das räumliche Zentrum der Bergpredigt, sondern bezeichnet auch ihre spirituelle Mitte: Es nimmt all das ins Gebet, was der Bergprediger davor in seinen Weisungen schon angesprochen hat und danach noch ansprechen wird: Dass Gottes Reich komme und sein Wille auf Erden wie im Himmel geschehe, schaut zurück auf die "Antithesen", in denen Jesus authentisch die Tora als Niederschlag des Gotteswillens auf den Punkt gebracht hat, greift aber auch die Seligpreisungen auf, die ja das Tun der Menschen unter den Zuspruch des Himmelreiches gestellt haben. Und die nachfolgenden konkreten Bitten des Vater Unser - die um das lebensnotwendige Brot, die Vergebung der Schulden und die Bewahrung vor der Versuchung des Abfalls - nehmen vorweg ins Gebet, was die "Entfaltung" des dritten Hauptteils konkret zum Umgang mit Reichtum und Überfluss wie zum Umgang mit den eigenen Verfehlungen und denen der anderen gebieten wird. Ein weiteres Mal zeigt sich, dass Jesu Weisungen alles andere als gnadenlose Imperative sind, vielmehr in das Gebet derer, die sie hören und befolgen wollen, eingebettet sein wollen. Es zu sprechen, bedeutet nicht, viele Worte zu machen - "euer Vater weiß ja, was ihr bedürft, noch ehe ihr ihn bittet" (Mt 6,8) -, sondern sich mit dem Vaterunser auf die einzig notwendigen Dinge des Lebens zu konzentrieren: dass Gott sich als Gott erweisen möge und wir mit unseren Grundfragen - der nach unserem Versagen wie der nach unserer täglichen Ernährung - von Gott gehalten werden.
Von der Gesamtkonzeption
der Bergpredigt wenden wir uns im Folgenden hin zu drei eher konkreten
Kennzeichen ihrer Sprache. Das erste Kennzeichen - ihre zeitweilige
Hyberbolie - hängt mit den rezipierten Sprüchen Jesu zusammen
und ist typisch für dessen Sprache. Matthäus hat sie in Gestalt
der jesuanischen Bausteine, die seiner Redekomposition zugrunde liegen,
treu bewahrt. Einige Beispiele:
Mt 6,3: "Wenn du Almosen
gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut".
Physiologisch gesehen, ist das Unsinn. Wie soll ich eine meiner beiden
Gehirnhälften abschalten können? - Mt 7,3f.: "Warum siehst
du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge
bemerkst du nicht? [
]". Auch hier bedient Jesus sich einer
unmöglichen Vorstellung. - Mt 7,9f.: "Oder ist einer unter
euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet, oder
eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet?" Antwort auf diese
Suggestivfrage: Natürlich nicht. - Ein bekanntes Beispiel aus einem
anderen Traditionsbereich lautet: "Eher geht ein Kamel durch ein
Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt"
(Mk 10,25).
Für Thomas Bernhard,
den genialen österreichischen Wort-Virtuosen, ist die "Kunst
des Übertreibens" der Motor aller Schriftstellerei. In seinem
letzten Roman meint der Erzähler einmal:
"Wenn wir unsere Übertreibungskunst nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich langweiligen Leben verurteilt, zu einer gar nicht mehr existierenswerten Existenz. Und ich habe meine Übertreibungskunst in eine unglaubliche Höhe entwickelt, hatte ich zu Gambetti gesagt. Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben, hatte ich zu ihm gesagt, nur die Übertreibung macht anschaulich, auch die Gefahr, dass wir zum Narren erklärt werden, stört uns in höherem Alter nicht mehr. Es gibt nichts Besseres, als in höherem Alter zum Narren ernannt zu werden. Das höchste Glück, das ich kenne, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist das des Altersnarren, der gänzlich unabhängig seinem Narrentum nachgehen kann. Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir uns spätestens mit vierzig zum Altersnarren ausrufen und versuchen, unser Narrentum auf die Spitze zu treiben. Das Narrentum ist es, das uns glücklich macht, hatte ich zu Gambetti gesagt" (2).
Leider muss ich abbrechen, um zu Jesus zurückzukehren. Auch er war ein Übertreibungskünstler, manche hielten ihn sicher für einen Narren (3). Übertrieben hat er desöfteren, er liebte hyberbolische Rede und setzte sie ein, um aufzuschrecken, um zur Besinnung zu bringen. Er wollte Zuhörer, die, erschrocken über sich selbst, sich ihre eigenen Gedanken machen, um dann auch entschlossen zu handeln.
Mit dieser Art Sprachform
hängt ein Zweites zusammen. Jesus scheint relativ selten grundsätzliche
Äußerungen von sich gegeben zu haben, eine solcher Äußerung
ist etwa Mt 5,44: "Liebet eure Feinde!" Mit ihrer Begründung,
die den Blick auf Sonne und Regen lenkt, wird sie allerdings schnell
wieder konkret: "damit ihr Söhne euere Vaters im Himmel werden,
denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und
Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte"
(Mt 5,45). Mit anderen Worten: Wie der Schöpfer die lebensnotwendigen
Gaben wie Wasser und Wärme nicht entsprechend der moralischen Qualität
der Empfänger verteilt, so sollt auch ihre eure Tatliebe - von
Emotionen ist nicht die Rede - sogar euren Feinden zuwenden.
Typisch für Jesus ist
seine konkrete, modellhafte Rede, an der er seine Grundsätze veranschaulicht.
Ein Beispiele ist Mt 5,41: "[
] Wenn dich jemand zwingt, eine
Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!" Die Situation,
die der Spruch voraussetzt, kennen wir durch Simon von Kyrene, der gezwungen
worden war, dem zum Tode verurteilten Jesus das Kreuz nachzutragen.
Die hier Gewalt ausüben, sind römische Soldaten. Sie nahmen
sich das Recht heraus, Leute aus der Zivilbevölkerung zur Fron
zu zwingen. Die "normale" Reaktion wäre gewesen, sich
dagegen zu wehren, wenn möglich, mit Gewalt. Das taten die Zeloten.
Anders Jesus! Er empfiehlt seinen Zuhörern demonstrative Wehrlosigkeit
als Reaktion. Sie sollen nicht alles passiv über sich ergehen lassen,
sondern sich ihrem Bezwinger zuwenden, etwa in der Weise, dass sie ihm
anbieten, sein schweres Gerät sogar noch eine Meile weiter zu tragen.
Ob der Soldat dann vielleicht den Menschen, den er zu seinem Objekt
degradieren wollte, ins Angesicht blickt und in ihm einen Menschen mit
eigener Würde erkennt? Jeder wird mir zustimmen, wenn ich sage:
Eine derartige Rede ist nicht auf Kopie aus, sondern will modellhaft
verstanden werden. Die Zuhörer sollen lernen, alle ihre Phantasie
aufzubringen, um in vergleichbaren Situationen auf das rechte Mittel
zu kommen, den ewigen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Noch einmal:
Jesus will Zuhörer, die selbst ans Denken kommen und seine Impulse
eigenverantwortlich in ihrer Situation in die Tat umsetzen.
Das gerade beigebrachte Beispiel
stammt aus der Welt der palästinischen Besatzer und der unter ihnen
leidenden Bevölkerung. Ein weiteres Beispiel, das sowohl hyperbolisch
als auch aus einer konkreten Situation geschöpft ist, weist ein
drittes Merkmal auf, das erwähnenswert ist; es stammt aus der Männerwelt,
die schnell die Fäuste sprechen lässt: "Wenn dich einer
auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin!"
(Mt 5,39). Ein solcher Schlag tut nicht nur weh, sondern galt auch,
weil mit dem Handrücken ausgeführt, als entehrend und als
Schande. Wieder ruft Jesus nicht zur Passivität auf - nach dem
Motto, lass es mit dir geschehen! -, sondern empfiehlt demonstrative
Wehrlosigkeit: Statt der Fäuste soll die Vernunft sprechen.
Einige der von Jesus
stammenden Beispiele verweisen in die Männerwelt - in der Antike
quasi mit der Öffentlichkeit identisch, wohingegen die Domäne
der Frauen das Haus war. In der Öffentlichkeit der Männerwelt
geschehen die Handgreiflichkeiten von Mt 5,39, die verbalen Beleidigungen
von Mt 5,22, hier wird auch trotz des Anscheins öffentlichen Rechts
sublim Gewalt geübt: bei Schuldprozessen (Mt 5,24-26) oder Pfändungsprozessen
(Mt 5,40).
Frauen kommen in der Bergpredigt
nur als Objekte vor, als Objekte des begehrlichen Blicks des Mannes
(Mt 5,28) und seiner Scheidungs- und Heiratabsichten (Mt 5,31-32). Von
der im römischen Recht vorgesehenen Möglichkeit, dass auch
die Frau die Initiative zur Scheidung ihrer Ehe ergreifen kann, ist
in der Bergpredigt - im Unterschied zum Markusevangelium - nicht die
Rede.
Aber auch die Bergpredigt
insgesamt folgt - als Komposition des Matthäus - der androzentrischen
Perspektive. Viel ist vom "Bruder" die Rede (Mt 5,22.23f.47;
7,3-5), auch davon, dass die Friedensstifter und diejenigen, die ihre
Feinde lieben, "Söhne Gottes" genannt (Mt 5,9) bzw. zu
"Söhnen des Vaters im Himmel" werden (Mt 5,45). Gott
selbst wird dezidiert und durchgehend als "Vater in den Himmeln"
(Mt 5,16.45.48; 6,1f.6.9.14f.18.26; 7,11.21) angesprochen. Ganz am Ende
der Bergpredigt sind es der besonnene und törichte Hausbauer, die
ihren Leserinnen und Lesern als positives und negatives Beispiel für
ihren Lebensentwurf vor Augen gestellt werden (Mt 7,24-27).
Für eine Lektüre der Bergpredigt heute, die von einer grundlegend
anderen Sicht der Geschlechter samt ihren nicht mehr eindeutig fixierten,
sondern sozial sehr unterschiedlichen Rollen ausgeht, ist es wichtig,
sich die androzentrische Perspektive des Textes, die wahrscheinlich
auch mit dem pharisäisch-jüdischen Herkunftsmilieu des Matthäus
zusammenhängt, klar zu machen. Geschieht dies, kann der Text im
Gespräch auch als Katalysator dienen, durch den hindurch man die
eigene Situation besser versteht und fragt, wie hier und heute die Kreisläufe
der Gewalt ablaufen und die Impulse Jesu, sie zu durchbrechen, wirksam
werden könnten.
Mit der letzten Bemerkung
zur Herkunft des Matthäus aus einem pharisäisch-jüdischen
Milieu kommen wir zu zwei abschließenden Beobachtungsreihen, die
an die Fremdheit der Bergpredigt für uns Christen aus der Völkerwelt
anschließen. Wenn Matthäus "seinen" Jesus im Proömium
zu den "Antithesen" erklären lässt: "Bis Himmel
und Erde vergehen, wird nicht ein Jota oder Häkchen von der Tora
vergehen" (Mt 5,18), ist das für das Bild, das wir uns von
der "judenchristlichen" Gemeinde des Matthäus machen,
ernst zu nehmen: Die Tora galt in ihr insgesamt weiter, auch den Sabbat
zum Beispiel hielt sie (vgl. Mt 24,20). Aber die Tora - so der hermeneutische
Grundsatz des Evangelisten - enthält "wichtige" und weniger
wichtige Gebote - die weniger wichtigen sind zum Beispiel die pharisäischen
Traditionen der "Verzehntung" von Speisen, die "schweren"
dagegen "Recht, Barmherzigkeit und Treue: Man muss das eine tun,
ohne das andere zu lassen", erklärt er (Mt 23,23). Für
das Verständnis der sog. "Antithesen" im ersten Abschnitt
des Hauptteils der Bergpredigt folgt daraus:
Die jeweils an zweiter Stelle
stehenden Worte Jesu (eingeleitet mit: "Ich aber sage euch")
heben die in den Vordersätzen genannte Weisung der Tora (in der
Regel dargeboten in pharisäischer Deutung) nicht auf, sondern bringen
sie auf den Punkt, indem sie den mit ihnen verbundenen eigentlichen
Willen Gottes herausstellen. Es handelt sich also - in der Terminologie
des Matthäus - um die wahrhaft "wichtigen" Weisungen,
auf die alles ankommt: Verzicht auf tötende Aggression, Versöhnungsbereitschaft,
Treue in der Ehe, Wahrhaftigkeit im Wort, Verzicht auf Durchsetzung
des eigenen Rechts und als Klimax von allem die Feindesliebe.
Nun weiß Matthäus
zu seiner Zeit um 80/90 n. Chr. auch um heidenchristliche Gemeinden
in der Kirche, die sich nicht mehr an die Tora insgesamt gebunden wussten,
sondern im Doppelgebot der Liebe schon die Erfüllung der Tora sahen.
Von ihr nahmen sie - auf der Linie des Völkerapostels Paulus -
an, dass sie von der Einhaltung spezifisch jüdischen Lebensstil
betreffenden Weisungen dispensierte. Umso sympathischer ist der liberale
Standpunkt des Matthäus, der solche Christen nicht verdammt oder
vom Heil ausschließt, sondern ihnen nur einen geringeren Platz
im Himmelreich zugesteht. Ausgedrückt hat er dies nach einer plausiblen
Deutung des schwierigen Verses im Proömium zu den "Antithesen",
und zwar in Mt 5,19: "Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten
auflöst und lehrt die Menschen so, der wird der Kleinste heißen
im Himmelreich"; wer es aber tut und lehrt, der wird groß
heißen im Himmelreich". Mit anderen Worten: Wer sich an die
weniger "wichtigen" Gebote der Tora nicht mehr hält und
sie andere auch nicht mehr lehrt, wird vom Himmelreich nicht überhaupt
ausgeschlossen, was nur geschähe, wenn er die wirklich wichtigen
Weisungen wie "Recht, Barmherzigkeit und Treue" verraten würde.
Allerdings muss er entsprechend jüdischer Vorstellung damit rechnen,
dass es auch im Himmel unterschiedliche Rangstufen gibt und er mit dem
untersten Rang Vorlieb nehmen muss. Uns heute mutet diese Vorstellung
fremd und skurril an, aber Matthäus half sie, mit "heidenchristlichem"
Lebensstil, der ihm an sich fremd war, theologisch ohne Verdammungsurteil
umzugehen. Wichtiger noch als diese Vorstellung eines gestuften Himmels
ist allerdings sein hermeneutischer Grundsatz der Unterscheidung zwischen
"wichtigen" und weniger "wichtigen" Geboten - wir
würden sagen, seiner Einsicht in die Hierarchie der Werte, die
ihm erst seine Gelassenheit anderen Lebensstilen gegenüber erlaubte.
Solche Einsicht in die Hierarchie der Werte und Wahrheiten setzt nämlich
voraus, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen
vornehmen und auch frei sein sollten, sie vorzunehmen, wenn nur die
"wichtigen" Weisungen wie die der Barmherzigkeit, des Rechts,
der Treue und der Feindesliebe alles andere durchwirkt und beseelt.
Wir dürfen also festhalten:
Es gibt nach Matthäus
und seiner Bergpredigt tatsächlich unterschiedliche christliche
Lebensformen und Lebensstile in der einen Kirche, konkret den "juden"-
und den "heidenchristlichen" Lebensstil, und beide sind stark
genug, sich gegenseitig anzuerkennen. Ich meine, dass das hier zum Ausdruck
kommende Bild von Kirche für uns heute von allergrößter
Relevanz ist.
Die Ethik der Bergpredigt
ist nach dem bisher Gesagten ganz jüdisch geprägt. Das betrifft
nicht nur die Tora-Sätze der sog. Antithesen - "ihr habt gehört,
dass den Alten gesagt wurde" -, sondern auch die Worte Jesu. Zu
jedem von ihnen hat die Forschung Parallelen aus jüdischen Quellen
beigebracht, so dass die Frage im Raum steht: Wenn der Jesus der Bergpredigt
materialiter nichts Neues gesagt hat, worin besteht dann das
Neue seiner Botschaft? Darauf könnte man ganz einfach sagen: Das
Neue ist zunächst er selbst, seine Person. Hierzu nenne ich abschließend
nur drei Aspekte:
(1) Die Frage, wer Jesus
eigentlich ist, beantwortet Matthäus so: Er ist der in Israel erwartete
Messias, der Sohn Davids; seit seiner Auferweckung und "Inthronisation"
an Ostern ist er aber auch der Herr, dem "alle Macht im Himmel
und auf Erden verliehen wurde", ihm, der jetzt nicht nur Messias
Israels, sondern Herr aller Völker ist. Von daher ist auch der
Bergpredigt eine ungeheure Dynamik eingestiftet. Sie ist nicht nur Weisung
an das am Fuß des Berges stehende Gottesvolk Israel, sie ist seit
Ostern vielmehr Botschaft an die Welt, Angebot eines glückenden
Lebens im Angesicht Gottes.
(2) Als der Messias Israels
und Herr der Völker ist Jesus zugleich der Vertraute Gottes, sein
Sohn, der durch sein Leben und Wort des Vaters Heilsabsichten mit dem
Menschen in authentischer, unüberbietbarer Weise kundtut. Diese
Heilsabsichten des väterlich-mütterlichen Gottes kulminieren
darin, dass mit Jesus Gottes Herrschaft auf Erden insofern anbricht,
als sie die Menschen in der Nachfolge Jesu in den Durst und den Hunger
nach Gerechtigkeit hineinstellt. Mit Jesus, seinem Wirken und seiner
Botschaft ist eine Dynamik in diese Welt gekommen, die erst mit dem
Vollanbruch des Himmelreichs am Ende der Zeiten zu ihrem Ziel gelangt.
Diese Heilsdynamik ist es auch, die allem ethischen Tun des Menschen
und vor allem dem Leben der Kirche in dieser Welt im Zeichen der Bergpredigt
den großen Atem verleiht. Man kann also sagen: Obwohl viele Weisungen
auch außerhalb Nachfolge Jesu Sinn machen - und das spricht doch
nur für ihre innere Überzeugungskraft" - , so ist es
andererseits erst der übergreifende Motivationsrahmen der Botschaft
von der mit Jesus angebrochenen Gottesherrschaft, der den Weisungen
der Bergpredigt ihr spezifisches Kolorit gibt.
(3) Beim Jesus der Bergpredigt decken sich sein Wort und sein Leben, und diese Deckungsgleichheit ist es auch, die ihm Glaubwürdigkeit verschafft. Matthäus deutet das verschiedentlich in seinem Evangelium an. Wenn Jesus sagt: "Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben", so sagt er von sich selbst Mt 11,29: "Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir: denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig". Und Mt 21,5 heißt es über den auf einem Esel, keinem Schlachtross in Jerusalem einziehenden Jesus mit Sach 9,9: "Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers". "Barmherzigkeit" fordert Jesus nicht nur, er lebt sie auch selbst vor, zum Beispiel in seinem Umgang mit "Zöllnern und Sündern" und durch sein Verhalten am Sabbat (vgl. Mt 9,13; 12,7). Dadurch gerät er aber auch in eine Situation, die am Ende vonseiten seiner Gegner nur noch Schmähungen für ihn bereit hat (Mt 26,59f.;27,44), er also das erleidet, was er den "Jüngern" in seiner Nachfolge voraussagt. Die Deckungsgleichheit von Wort und Tat ist also für ihn als den Messias das Zeichen seiner Glaubwürdigkeit. Gleiches gilt nach Überzeugung des Matthäus auch für seine Kirche, wenn er Jesus am Ende der Bergpredigt sagen lässt: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten, und haben wir nicht mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben und mit deinem Namen viele Wunder vollbracht? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr, die ihr Ungesetzlichkeit wirkt" (Mt 7,21-23). Für uns als Kirche, die wir einst auch sagen können: Was haben wir nicht alles in deinem Namen getan! sind diese Worte eine Warnung, die ganze Bergpredigt freilich ein Zuspruch, der auf gelingendes Leben hoffen lässt.
(1) So die revidierte Zürcher Übersetzung; Luther: "Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre". Einheitsübersetzung (1979) im typischen Zeitjargon: "Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr betroffen von seiner Lehre".
(2) THOMAS BERNHARD, Auslöschung. Ein Zerfall (1986) (Suhrkamp taschenbuch 2558), Frankfurt am Main 1996, 128f.
(3) HARVEY COX, Das Fest der Narren, 1970.
AURELIUS AUGUSTINUS, Die
Bergpredigt (Christliche Meister 54), Johannes-Verlag, Einsiedeln-Freiburg
22010.
STIEWE, M./VOUGA, F., Die
Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums,
Tübingen-Basel 2001.
WENGST, K., Das Regierungsprogamm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2011.
H.-U. WEIDEMANN, "Vergeltet nicht dem bösen Mann!" Versuch einer konsequent androzentrischen Lektüre der Bergpredigt, in einer Studie zur Bergpredigt in der Reihe SBS (=Stuttgarter Bibelstudien), die in Kürze erscheinen wird: Stuttgart 2012.
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* Prof. Dr. Michael Theobald
ist Professor für neutestamentliche Exegese an der Katholisch-Theologischen
Fakultät der Universität Tübingen