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         Schwäbisches 
          Tagblatt/Südwestpresse,  
          Montag, 10. November 2008, S.23. 
        Neue Formen 
          der Erinnerung  
          
        Tübingen gedachte am 
          Synagogenplatz, vor dem Rathaus und in der Stiftskirche der Pogromnacht 
           
          
        Mit einem Gang vom Synagogenplatz 
          zum Rathaus und einer Gedenkstunde in der Stiftskirche erinnerte Tübingen 
          gestern an Opfer und Täter der Pogromnacht vor 70 Jahren.  
        Autor: 
          Achim Stricker 
           
             
        Simon Hayum, vergangene Woche 
          per Lichtinstallation auf die Kuppel des Rathausbalkons projiziert, 
           
        Bild: Hantke 
          
          Am Synagogenplatz erinnerte Martin Ulmer an den Brand der Tübinger 
          Synagoge in der Nacht zum 10. November 1938.  
        Bild: Faden 
        Tübingen. Der 
          Erinnerung ein Gesicht geben. Das ist ein zentrales Anliegen des Tübinger 
          "Netzwerks gegen das Vergessen". Besonders dort, wo jüdische 
          Kultur so umfassend ausgelöscht wurde wie am Synagogenplatz in 
          der Gartenstraße. Dort, wo in der Nacht zum 10. November 1938 
          die Synagoge geschändet und in Brand gesteckt wurde, versammelten 
          sich gestern am späten Sonntagnachmittag 150 Menschen. 
        Martin Ulmer von der Geschichtswerkstatt 
          schilderte die Vorgänge der Tübinger Pogromnacht und den Verlust 
          jüdischen Lebens in der Stadt. Ulmer machte aber auch deutlich, 
          dass es nicht nur darum gehe, der Opfer zu gedenken. Auch auf der Täterseite 
          herrsche nach wie vor Erinnerungsbedarf: Ein Teil der Täter ist 
          bis heute namentlich unbekannt. 
        In der Nacht zum 10. November 
          1938 kam eine Gruppe SS- und SA-Leute von einem Fest aus dem Museum, 
          drang gegen Mitternacht in die Synagoge ein und verwüstete sie. 
          Eine zweite Tätergruppe steckte gegen vier Uhr morgens das Gebäude 
          in Brand, Schaulustige fachten das Feuer am nächsten Morgen immer 
          wieder an. In den diversen Kirchengemeinderatssitzungen am darauffolgenden 
          Abend wurde der Vorfall schlicht ignoriert. Nur ein einziger Protest 
          kam - von einem SA-Studenten. 
        Der Erinnerung ein Gesicht 
          geben: Vergangene Woche wurde jeden Abend mit Einbruch der Dämmerung 
          das Gesicht eines anderen vertriebenen oder ermordeten Tübinger 
          Juden auf die Rathausfassade projiziert. Da und doch kaum zu fassen, 
          schwebten sie unwirklich über den Konterfeis der prominenten Stadtsöhne 
          Dann, Osiander oder Uhland. 
        Nicht "überstrahlt" 
          wurde Graf Eberhard im Bart, obwohl er 1477 die Juden des Landes verwiesen 
          hat. Am Sonntag wurden fünf Transparente mit den Namen aller 101 
          Tübinger Jüdinnen und Juden ausgerollt: Familien wie Spiro, 
          Zivi, Katz, Marx, Koppel, Lion, Erlanger oder Bernheim. 80 Mitglieder 
          dieser Familien sind 1939 in die USA oder nach Palästina emigriert, 
          20 wurden deportiert. Nur zwei der Verschleppten überlebten. Hanna 
          Bernheim konnte 1939 in die USA emigrieren. Zu der Gedenkveranstaltung 
          am Sonntag war ihre Tochter Doris Doktor mit Tochter Ruth und Enkelin 
          Leigh aus den Staaten angereist. 
        300 Menschen versammelten 
          sich auf dem Marktplatz, wo Oberbürgermeister Boris Palmer auf 
          die "jüngste Tübinger Stadtgeschichte" verwies: 
          "Wir haben bis heute gebraucht, um diesen Teil der Geschichte aufzuarbeiten." 
          Der KZ-Überlebende Viktor Marx stellte bereits 1949 auf dem Wankheimer 
          jüdischen Friedhof eine Gedenktafel für die Opfer auf. Eine 
          Tafel von städtischer Seite hat Palmer erst in diesem Jahr eingeweiht. 
          Auch er stellte klar, dass der Prozess des Erinnerns längst nicht 
          abgeschlossen sei: "Die Debatte ist nicht zu Ende, wir werden diese 
          Diskussion weiter führen." Nicht nur gehe es nach wie vor 
          um die Frage: "Wie gehen wir um mit der Schuld, die wir auf uns 
          geladen haben?" Für viele Opfer des Dritten Reiches "haben 
          wir noch keine Form des Erinnerns gefunden", meinte Palmer mit 
          Verweis auf den Tübinger Liberaldemokraten Simon Hayum. Derzeit 
          arbeitet die Kommission "Kultur des Erinnerns" das Schicksal 
          vertriebener jüdischer Stadträte auf. 
        Sprecher(innen) des "Netzwerks 
          9. November" verlasen zuletzt die Namen aller vertriebenen und 
          ermordeten Tübinger Jüdinnen und Juden. 
        Gewalttat und Hader in der 
          Stadt
        Musik von jüdischen 
          Komponisten rahmte die anschließende Gedenkstunde der Arbeitsgemeinschaft 
          Christlicher Kirchen in der Stiftskirche, zu der rund 600 Besucher zusammenkamen. 
          Organistin Heidi Grözinger spielte Werke von Louis Lazarus Lewandowski 
          und Paul Ben-Haim, der Stephanuschor unter Hans-Walter Maier sang zwei 
          Motetten von Mendelssohn. 
        Friedhilde Dieterich, Irene 
          Kosel und Hartmann Doerry schilderten noch einmal die Vorgänge 
          der Tübinger Pogromnacht und ihre Folgen. So kassierte der Staat 
          von allen Juden eine kollektive Geldstrafe und bei der Emigration eine 
          "Reichsfluchtsteuer" - insgesamt zwei Milliarden Reichsmark. 
          Aber auch die Bevölkerung bereicherte sich, und in Tübingen 
          "freute man sich über manches Schnäppchen". 
        Daniel Felder vom Tübinger 
          jüdischen Verein "Bustan Shalom" sprach von der "Effizienz 
          und Berechnung einer von jeglicher Menschlichkeit losgelösten Bürokratie". 
        Zentraler Text war der 55. 
          Psalm: "Gewalttat und Hader in der Stadt". "Der Psalm 
          fordert uns heraus", meinte Stephanuskirchenpfarrer Ulrich Zeller: 
          "Die Kirche hat Seite an Seite mit dem Volk Gottes zu stehen, wir 
          sind im Namen Jesu zur Demut gegenüber dem Judentum angehalten, 
          zur Dankbarkeit für die Teilhabe im Glauben an den Gott Israels". 
          Die Gedenkstunde schloss mit dem gemeinsamen "Ose shalom bimromav" 
          aus dem jüdischen Kaddisch als Segen für die Toten. 
         
        Texte der 
          Feierstunde zur Reichspogromnacht in der Stiftskirche am 9. November 
          2008, 18 Uhr:
        Programm 
        Liedblatt 
        Texte 
          der Feierstunde 
         
         
        Schwäbisches 
          Tagblatt/Südwestpresse,  
          Samstag, 8. Dezember 2007, S. 34. 
        Frieden 
          und Freude  
          nur für kurze Zeit
        Heute vor 125 
          Jahren weihte die Tübinger jüdische Gemeinde in der Gartenstraße 
          ihre Synagoge / Von Hans-Joachim Lang
        "Dank verschiedener 
          privater Initiativen gibt es einen Synagogenplatz, wo seit 29 Jahren 
          wenigstens erinnert wird, was an diesem Platz fehlt und seit neun Jahren 
          auch, warum. Am heutigen Samstag wird erstmals seit 1932 von einem Tübinger 
          jüdischen Verein an die Einweihung der alten Synagoge gedacht. 
          Darin liegt viel Wehmut und Trauer, aber auch Hoffnung für die 
          Zukunft." 
           
         
        Mehr über die Synagoge 
          in der Gartenstraße 33  
        und den Synagogenbrand: 
        http://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_%28T%C3%BCbingen%29 
        http://www.alemannia-judaica.de/tuebingen_synagoge.htm 
        http://www.tuepedia.de/index.php/Synagoge 
        http://www.gedenkstaetten-bw.de/gedenkstaetten_anzeige.html?&tx_lpbgedenkstaetten_pi1[showUid]=510&cHash=8d72affe6d 
        http://www.bonhoeffer-gemeinde.de/juden/denkmal_ortsgeschichte.htm 
        http://www.tuebingen.de/1560_10984.html 
        http://www.tuebingen.de/1560_8026.html 
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