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Jesuanische
Strategie
Predigt
entlang Mt 9,36-10,8
11. Sonntag im Jahreskreis A - 11./12.6.2005 in Tübingen und Bühl
(Thomas Steiger)
Die Ernte ist groß,
aber es gibt nur wenige Arbeiter.
Was sich wie eine Situationsanalyse über den Priesternachwuchs
liest und was in der Vergangenheit auch häufig nur auf diese Frage
fokussiert wurde, das ist in Wirklichkeit Jesu treffsichere Beschreibung
über das Mißverhältnis von menschlicher Not und dafür
zur Verfügung stehender Hilfe überhaupt: Die Ernte fahren
wir alle ein, und Arbeiter dabei könnte ebenfalls
jeder von uns sein. Nie gibt es hier einen Ausgleich; stets gab
es mehr Leid und daraus entstehende Fragen als Linderung und Antwort.
Zur Zeit Jesu war das so und heute nicht anders. Ja, es scheint gar
so, als ob die Schere immer mehr auseinander zu klaffen droht: weniger
soziale Leistungen des Staates, eine schrumpfende Kirche, vor allem
in den reichen Ländern stehen gegen viele Menschen, die müde
und erschöpft sind, die keinen Hirten haben, der sie weidet
- wie es das Matthäus-Evangelium for-muliert.
Ich will mich heute einmal nicht auf den Versuch einer aktuellen Analyse
dieser Situation einlassen, wie ich es schon etliche Male auch in der
Predigt versucht habe. Mein Interesse gilt auf dem Hintergrund des Mt
der jesuanischen Strategie, mit dieser Situation umzugehen: Welche Maßnahmen
ergreift Jesus? Und lassen sich diese hilfreich auf unsere Zeit übertragen?
Jesus sieht und empfindet
Mitleid
Wohl hier bereits beginnt ein signifikanter Unterschied zu dem unter
uns üblichen Lebensstil: Unsere Gesellschaft und wir in ihr schauen
in aller Regel eben nicht genau hin, sondern weg, wir konzentrieren
uns auf die eigenen Probleme, die es gewiß gibt, wir sind es nicht
gewohnt, auszuharren und uns auf eine Sache oder eine einzelne Person
zu konzentrieren. Und vermutlich liegt in der Konsequenz davon auch
die Schwierigkeit, echtes Mitleid zu empfinden, also ein Sympathieträger
zu werden für andere. Mit-Leid meinte dann eben gerade nicht das
kurze Gefühl, sondern den langen Atem, sich in die Fragen und Bedrängnisse
eines anderen Menschen hineinzudenken, den ich dann begleite, Wegstrecken
mitgehe, stütze und wieder frei lasse, trage und mehr und mehr
nur ermutige, auf eigenen Beinen zu stehen. Für wen könnte
ich so ein Sympathieträger sein?
Der zweite Schritt Jesu ist
- und das nun ist wohl noch ungewöhnlicher - die Bitte an Gott,
das Gebet. Das heißt: Er gesteht sich und den anderen von
vornherein zu, daß aus bloß menschlichem Vermögen heraus
das Dilemma zwischen den vielen Hilferufen und der begrenzten Zahl an
Helfern nicht zu bewältigen sein wird. Die Ordnung von Gottes Schöpfung
scheint ganz grundsätzlich ein solches Mißverhältnis
in sich zu tragen: die bleibende Sehnsucht nach Verbesserung, nach Heil.
Und wenn dem so ist, dann muß sich Gott dafür auch ansprechen,
mehr noch, in Pflicht nehmen lassen. Nur in innerer Abstimmung mit ihm
und indem jeder, der Arbeiter sein will, ihn, Gott, als den Besitzer
des Ackers und den Herrn der Ernte anerkennt, kann etwas gelingen. Das
Ziel der Zwiesprache mit Gott ist in der Strategie Jesu eindeutig: Mehr
Arbeiter! Trauen wir ihm das zu, liebe Schwestern und Brüder,
daß Gott so den Menschen für sich in Beschlag nehmen kann,
für das Wohlergehen seiner Schöpfung, für Jüngerschaft,
für Heilung? Unsere Diözese und die vielen Strategen der Kirche
im reichen Westen verlegen sich in der aktuellen Misere auf Strukturprogramme
und Veränderungen des Systems. Aber wo entsteht denn eine Berufung,
wo wird ein junger Mensch von Gott gepackt und wie wächst die Freiheit
in ihm, für andere da zu sein, zu helfen, Hirte zu werden (nicht
nur als Priester, sondern im umfassenden Sinne)? Kann ich darum Gott
bitten, dafür beten?
Auf dieser Grundlage werden
im nächsten Schritt die Jünger von Jesus berufen
und mit den erforderlichen Vollmachten ausgestattet, damit
ihre Sendung etwas bewirken kann und nicht einfach verpufft. Damit eine
schwierige Aufgabe, wie die der Seelsorge, der verläßlichen
Hilfeleistung gelingen kann, damit Menschen die Hilfe eines anderen
anzunehmen bereit sind, braucht es heute mehr denn je Autorität.
Wir leiten diese üblicherweise aus erworbenen Kompetenzen ab, aus
Wissen, Ausbildungen, Ämtern. Bei Jesus müssen die Zwölf
nichts vorweisen an Zeugnissen und Kenntnissen; davon wird nicht geredet.
Daß sie von ihm kommen ist Legitimation genug und daß er
ihnen etwas mitgibt, ihnen Anteil gibt an Gottes Macht. Sie sollen vollbringen
können, zu was der Mensch alleine nicht fähig ist. Diese Stärkung
durch Gott macht sie zu Helfern, dadurch wird ihr Name und damit ihre
Person groß und interessant. Darauf zu bauen, ist sicher nicht
üblich heutzutage, auch in der Kirche nicht. Und daß dem
nicht so ist, dahinter verbirgt sich zuletzt doch das Mißtrauen,
ob denn Gott durch Menschen überhaupt wirken kann. An uns gerichtet,
an unsere Jüngerschaft, lautet die Frage deshalb: Weiß
ich um die Kraft, die Jesus mir durch die Taufe übertragen hat?
Lasse ich mich nutzbar machen als sein Werkzeug?
Damit die Hilfe auch zu denen
gelangt, die sie wirklich brauchen - nebenbei gesagt eines der großen
Fragezeichen unseres Sozialsystems - erteilt Jesus auch hier eine klare
Anweisung: zu den verlorenen Schafen werden die Jünger gesandt.
Ob wir die in unserer Gemeinde im Blick haben, ist eine schwer wiegende
Frage. Es steht zu befürchten, daß wir in unserer Jüngerschaft
viel zu sehr um uns selbst kreisen, die eigenen Wunden lecken, und viel
zu selten über den Rand des Innenlebens der Kirche hinaus schauen.
Ja, natürlich, gibt es auch dort Not und Leid und Verlusterfahrungen.
Aber unser Zeugnis, unsere Überzeugungskraft kann sich dort keinesfalls
erschöpfen. Und wenn einer, den ich oder Sie noch nicht gesehen
hätten, bei uns anklopft, dann hätte der Priorität gegenüber
dem Insider. So meine ich, müssen wir die Worte Jesu deuten, damit
seine Strategie wirksam sein kann. Deshalb: Wessen Verlust bedaure
ich? Und, wen will ich für Gott gewinnen?
Der Weg, dies zu tun, und
das ist die letzte konkrete Anweisung Jesu dabei, besteht in Verkündigung
und konkreter Hilfe: Heilung, Reinigung. Kein Wort interessanterweise
jetzt nochmals von Gebet oder Liturgie. Dem, der in Not ist, muß
praktisch geholfen werden, mit der Hand am Arm. Um ihrer Glaubwürdigkeit
willen, aber eben auch, weil Jesus dies so vorsieht, muß unsere
Kirche sich dahin entwickeln, in Deutschland zumal, und jede unserer
Gemeinden ist gut beraten, darauf ihr Augenmerk zu lenken: auf die gelebte
Nächstenliebe, auf Dasein für den, der bei uns anklopft. So
werden anderen die Augen geöffnet für Gott, für sein
Wirken heutzutage, für den Himmel, der nicht fern ist, sondern
im Hier und Heute anfängt. Eine kraftvollere Verkündigung
gibt es nicht, kein stärkeres missionarisches Zeugnis für
den Wert des Glaubens. Wo glaube ich so konkret?
Am Ende steht bei Jesus nun
kein Tip mehr, sondern eine Mahnung, die im Grunde eine Entlastung sein
will. Mein Leben habe ich in der Hand - und es ist doch zugleich nicht
mein Eigentum, sondern mir von Gott gegeben - umsonst. Ich kann
nicht alles allein machen, sondern nur mit dem Besitzer zusammen. Ich
darf zwar Ich sein, brauche mich jedoch nicht daran zu klammern. Wer
sich wirklich beschenkt weiß, der teilt: mit anderen, mit dem
neben mir, mit dem, der mich braucht. Umsonst: Das macht das
Leben leicht. Amen.
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