|
Advent,
die Zeit der Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit
Predigt vom 2. Advent
(4.12.2005) - Jes 63, 15 - 64,3 - Beate Schröder
Liebe Gemeinde!
Für mich ist die Zeit des Advent eine Zeit der Sehnsucht. Sehnsucht
nach einer Welt voll Frieden und Gerechtigkeit, Sehnsucht nach einem
Gott, der auf die Erde kommt und die aus den Fugen geratene Welt wieder
in Ordnung bringt. Diese Sehnsucht finde ich wieder in den Liedern und
Texten der Adventszeit. So auch in dem Klagelied eines unbekannten Beters
aus dem Buch des Propheten Jesaja, ein Lied, das mehr als 2000 Jahre
alt ist und doch in unsere Zeit spricht. Ich lese aus Jes 63:
15 So schau nun vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein
Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält
sich hart gegen mich.
16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts,
und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; "Unser
Erlöser", das ist von alters her dein Name.
17 Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser
Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück
um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!
18 Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher
haben dein Heiligtum zertreten.
19 Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest,
wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge
vor dir zerflössen,
641 wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht,
dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Völker
vor dir zittern müssten,
2 wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten - und führest
herab, dass die Berge vor dir zerflössen! -3 und das man von alters
her nicht vernommen hat.
Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer
dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.
Liebe Gemeinde!
Sehnsucht spricht aus diesem Lied, und Zorn. Zorn auf Gott, der dem
Elend seines Volkes Israel zusieht und nicht eingreift. Nicht Menschen
werden hier zur Rechenschaft gezogen, nicht Feinde beschuldigt. Nicht
Selbstkritik wird geübt.
Gott selber wird angeklagt.
Gott wird verantwortlich gemacht für das Elend seines Volkes.
Gott soll umkehren, nicht die Menschen.
Gott soll sich daran erinnern, dass er Vater des Volkes Israel ist:
"Du, Gott, bist unser
Vater,
unser Erlöser, das ist von alters her dein Name.."
Wenn das dein Name ist, dann
komm und tu etwas
Steig herab von deiner herrlichen Wohnung,
und sei bei deinem Volk wie in früheren Tagen.
An diese früheren Tage erinnert der Beter in den Versen, die unserem
Lied vorausgehen. Wie eine Liebesbeziehung beschreibt er das Miteinander
von Gott und seinem Volk:
- Seinen herrlichen Arm ließ
er zur Rechten des Mose gehen und er spaltete die Wasser vor ihnen her.
- Er führte sie durch die Fluten, wie Rosse, die in der Wüste
nicht straucheln,
- er erlöste sie, weil er sie liebte und Erbarmen mit ihnen hatte...
- er nahm sie auf und trug sie allezeit von alters her,
- und sein Geist führte sie und brachte sie zur Ruhe.
Diese Zeiten sind längst
vergangen. Der Beter selber hat sie nicht mehr erlebt. Aber er weiß
davon. Sie gehören zu seiner Geschichte.
Doch dies Geschichte scheint nicht mehr zu zählen. Diese Vergangeheit
hat keine Bedeutung mehr für die Gegenwart. Das macht den Beter
zornig und verzweifelt. "Wir sind geworden wie solche, über
die du niemals herrschtest, wie Leute über die dein Name nie genannt
wurde."
Es gibt kein Erinnern mehr, keine Sehnsucht nach vergangener Liebe und
Gemeinschaft. Deswegen können auch die Väter nicht mehr helfen.
"Abraham weiß von uns nichts und Israel kennt uns nicht."
Enttäuscht und resigniert klingen diese Worte. Was mich beeindruckt:
Der Beter stielt sich aus der Gemeinschaft des Volkes nicht heraus.
Er bleibt einer von ihnen. Er bleibt bei seinem "Wir". Er
trennt nicht zwischen sich, dem Rufer und den anderen, die verstockt
sind.
Er bringt seine Klage vor Gott, obwohl es einen Ort für die Klage
schon nicht mehr gibt. Das Heiligtum, der Tempel ist zerstört,
die Menschen verstreut in alle Lande.
Liebe Gemeinde!
Ich fühle mich dem einsamen Rufer sehr nahe. Ich verstehe seine
Enttäuschung und Verzweiflung. Seine Klage erscheint mir erstaunlich
aktuell.
Sind nicht auch unsere Herzen verstockt? Sind nicht auch wir abgeirrt
von seinen Wegen?
Ich denke an die Klimakonferenz, die vergangene Woche in Montreal getagt
hat. In keinem Jahr zuvor gab es so viele Tornados und Hurrikans wie
in diesem. Veränderungen unseres Klimas werden unsere Kinder und
Kindeskinder noch viel stärker zu spüren bekommen als wir
heute. Das wissen auch die Verhandlungspartner in Montreal. Doch hilflos
stellen sie fest, dass die Verabredungen von 1997 in Kioto, den Ausstoß
von Treibhausgasen zu reduzieren, von vielen Industrieländern nicht
eingehalten worden sind.
Und erst gestern konnte man in der Zeitung von neuen erschreckenden
Forschungsergebnissen lesen: Messungen haben ergeben, dass durch die
Erwärmung der Arktis der Golfstrom an Kraft verliert. Wird er schwächer,
kann das zur Folge haben, dass es hier in Mitteleuropa nicht wärmer,
sondern immer kälter wird.
Die Ursachen des Klimawandels sind bekannt, doch wir machen weiter als
wäre nichts geschehen. Wir kehren nicht um. Wir wissen, dass die
Schöpfung nicht ewig belastbar ist und hören nicht auf, sie
zu zerstören. Wir ahnen, was das für nachkommende Generationen
bedeutet, und verdrängen diese Ahnung, weil sie uns Angst macht.
Wie der Beter kann auch ich mich aus dem "Wir" nicht heraus
stehlen. Ich fahre Auto, ich fliege zu Freunden, wenn es mir wichtig
ist. Ich bewohne und beheize ein großes Haus.
"Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen und unser Herz
verstocken, dass wir dich nicht fürchten?"
Warum fährst Du nicht darein mit deiner ganzen Kraft, unübersehbar
und unüberhörbar, dass die Himmel zerreißen und die
Berge vor dir zerfließen?
"Du, Gott, bist unser
Vater, "unser Erlöser seit ewig" ist dein Name."
Liebe Gemeinde!
In diesem Satz lese ich die Hoffnung, die den Beter nicht aufhören
lässt zu klagen, die ihn aufgeben lässt: "Du, Gott, bist
unser Vater, "unser Erlöser seit ewig" ist dein Name."
Das hebräische Wort meolam wird im Deutschen immer wieder anders
übersetzt: von alters her, ewig, immer schon. Deswegen spüren
wir im Deutschen nicht, wie oft es in der Klage des unbekannten Beters
vorkommt. In ihm drückt sich ein Vertrauen in einen Gott aus, der
beständig bleibt, wie unruhig und vergänglich die Welt auch
sein mag, in einen Gott, der sein Volk letztendlich zur Ruhe führen
wird nach Zeiten der Verwüstung und Zerstreuung.
Mag Gottes Güte und Hilfe auch bisweilen verborgen sein - sie wird
immer wieder in Erscheinung treten. Ohne diese Hoffnung wäre jede
Klage sinnlos. Sie hätte keinen Adressaten.
Indem der Beter Gott anklagt, findet er die Gewissheit, dass er von
ihm gehört wird. Seine Klage wandelt sich in Vertrauen. Sie endet
mit den Worten:
"Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer
dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren."
"Der Mensch muss zu Gott schreien und ihn Vater nennen, bis er
sein Vater wird." (Predigtmeditationen S. 8) So hat Martin Buber
diesen Weg von der Klage zum Vertrauen beschrieben.
Liebe Gemeinde!
Teilen wir dieses Vertrauen? Glaube ich, dass Gott sich finden lässt,
wenn ich nur wirklich bereit bin, ihn zu suchen ?
Advent heißt Ankunft.
Gott ist auf die Erde gekommen. Nicht so wie der Beter unseres Liedes
es sich ersehnt hat und wir es uns vielleicht auch manchmal wünschen,
durch zerrissene Himmel und zerflossene Berge, sondern unscheinbar,
verborgen im hintersten Winkel der Weltgeschichte, so dass selbst die,
die nach ihm suchten, ihn zunächst nicht fanden.
"Du, Gott, bist unser Vater" - der Vater Israels ist zum Vater
Jesu Christi geworden. Durch ihn dürfen auch wir sagen: "Abba,
lieber Vater",
Gott ist auf die Erde gekommen. Er hat sich mir gezeigt im Kind in der
Krippe von Bethlehem, im Zimmermannssohn von Nazareth, im umher ziehenden
Rabbi, der Kranke heilte, Traurige tröstete und den Armen das Evangelium
verkündete
Gott ist auf die Erde gekommen und die Völker mussten nicht erzittern.
Das Evangelium, die frohe Botschaft erreichte auch sie. Auch sie, auch
wir sind jetzt gemeint.
Wir dürfen es halten wie der Beter unseres Evangeliums.
Wenn wir nicht weiter wissen, wenn alles um uns dunkel ist, wenn wir
enttäuscht sind von denen, die uns einmal nahe waren, wir traurig,
zornig oder verzweifelt sind dann dürfen wir unser Leid vor Gott
bringen.
Und dann geht es uns vielleicht so wie dem Beter in dem Klagelied: Unsere
Klage wandelt sich in Vertrauen, das uns Ruhe schenkt, und unsere Sehnsucht
verwandelt sich in Liebe, die uns handeln lässt für Frieden
und Gerechtigkeit. Amen
|