Predigten

 
 

Kann Gott Mensch werden -
und Gott bleiben?

Predigt zum Weihnachtsfest

25.12.2005 in Bühl und Tübingen (Thomas Steiger)

Recht betrachtet, liebe Schwestern und Brüder, dürfte es eigentlich keinen widersprüchlicheren Gedanken geben als den, daß Gott Mensch wird. Nachgerade absurd mutet die Vorstellung dieses Vorgangs an. Ist nicht Gott gerade deshalb Gott, weil er kein Mensch ist, nichts von dem an sich hat, was uns so wenig göttlich macht? Hat nicht die Religion wesentlich dies zum Ziel, daß sie etwas außerhalb der menschlichen Realität annimmt: kein Fleisch und Blut, kein Sterben und Tod, keine Sünde? Gott muß sich unterscheiden, um nicht zum Götzen zu mutieren, der von Menschen Hand gemacht, von unseren Gedanken erschaffen und in unsere Vorstellungen hinein geformt ist. Immer das Gegenteil sollte er sein von dem, was uns zu Menschen macht: allmächtig also und unsterblich, ewig und unbegrenzt. Und doch ist es eben jene Aussage der frühen Kirche, der jungen Christenheit, die das Profil unseres Glaubens ausmacht, haarscharf am Unerlaubten, am Gefährlichen des Irrglaubens vorbei, auf Messers Schneide stehend, das Göttliche zu zerstören, es zu verneinen, weil die Balance der menschlichen Vorstellung in eine Schieflage gerät: ist vom Himmel gekommen - hat Fleisch angenommen - ist Mensch geworden - so bekennt es die Kirche seit nunmehr 1600 Jahren. Und wir werden heute wieder in dieses Bekenntnis einstimmen (mit dem Chor zusammen), werden uns tief verneigen, niederknien gar, vor dieser so absurden, geheimnisvollen Kernaussage des Christenglaubens. Hart gerungen haben die Bischöfe und Theologen der jungen Kirche um dieses Bekenntnis. Sie wußten, daß es dabei nicht um eine Nebensächlichkeit geht, sondern sich daran entscheiden würde, ob der neue Glaube würde Bestand haben intellektuell und in profilierter Abgrenzung gegen das Judentum, aus dem er hervorging.
Dabei waren die gedanklichen Linien klar in diese Richtung ausgezogen, schon lange vorher: die Hoffnung auf einen Messias, der als König das erwählte Gottesvolk regieren und eine neue, eine bessere Welt hervorbringen würde; in den Ankündigungen der Propheten, besonders bei Jesaja, ist es die Gottesgeburt, die das Heil bewirkt; und bei den Evangelisten schließlich wird die Inkarnation unüberhörbar: das Kind im Stall bei Lukas, das Wort, das Fleisch wird, bei Johannes - Gott steigt in die niedersten Niederungen hinunter und will dort Gott sein. Gibt es etwas Absurderes? Dagegen erscheint sogar die Gott-ist-tot-Hypothese Nietzsches harmlos zu sein. Dann doch lieber gleich die Leugnung der Existenz Gottes überhaupt, als einen Gott, der Mensch werden muß, um Gott zu sein.

Und genau an dieser logischen Stelle, liebe Schwestern, liebe Brüder, genau hier wird es interessant. Denn in der Tat ist es jener vermeintliche Widerspruch, jene absurde Beziehung Gottes zu uns Menschen, die das Christentum unterscheidbar und damit einmalig macht. In der Absurdität selber liegt die größtmögliche religiöse Wahrheit begründet, die wir kennen, weil es der Weg ist, das Unmögliche zu denken, das Aberwitzige Wirklichkeit werden zu lassen. Welchen anderen Weg auch könnte das menschliche Gehirn finden, um das zu fassen, zu erklären, zu verdichten, was sich der endgültigen Erfassung entzieht. Albert Camus - manche von Ihnen werden ihn kennen als den Verfasser von La peste, als Vertreter des Existentialismus - Camus hat seinerseits in den absurden Vorgängen des Weltgeschehens den letzten und entscheidenden Sinn aller Existenz zu finden versucht. Allerdings konnte er seine Suche bis zuletzt nicht mit Gott in Verbindung bringen. Und genau dies ist meine Absicht: Was wir als paradox erfassen, eben darin mag sich die Wirklichkeit Gottes mehr als anderswo spiegeln. So verstehe ich die Anstrengungen der Kirchenväter, die Gottessohnschaft Jesu Christi einzufangen in Bekenntnissen und Predigten über das, was später die Weihnachtsbotschaft heißt: Gott wird Mensch, damit wir Menschen an Gottes Nähe glauben, ohne Wenn und Aber, damit die Welt, seine Schöpfung, ihn nicht mehr übersehen, an ihm vorbei denken kann.

Es sind zwei Pole, liebe Schwestern und Brüder, zwischen denen sich das Bahnbrechende des Christentums ausspannt: Gott wird geboren und Gott stirbt. Geburt und Tod: In diesen beiden grundstürzenden Ereignissen spürt der Mensch seine Ohnmacht am deutlichsten, zugleich aber ahnt er auch, daß er dabei ans Ewige grenzt. Und es sind diese beiden Grenzerfahrungen jedes Menschen, an denen unserem Glauben zufolge Gott selber sich ins Spiel bringt - in Jesus, seinem Sohn, der geboren wird und stirbt, und in jedem Menschen: indem er in jedem von uns geboren wird und mit jedem von uns stirbt. Diese unglaubliche Nähe, diese untrennbare Beziehung, diese unaufgebbare Verbindung zwischen Gott und jedem Menschen bedeutet Weihnachten!

Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist die, ob Gott denn trotzdem Gott bleibt, wenn er so menschlich wird, oder ob sich darin jene Falle auftut, die alle Religionskritiker der Existenz Gottes grundsätzlich unterstellen, und unsere beiden Schwesternreligionen, das Judentum und der Islam, in Abgrenzung zu uns: Daß nämlich dies allenfalls eine Spekulation des menschlichen Geistes sein könne, eine Projektion von Sehnsüchten, niemals aber wahrhaftiges Ereignis. Kann also Gott Gott bleiben und Mensch werden in einem? Unser christlicher Glaube wagt jene extreme Spekulation ins Absurde der religiösen Vorstellung hinein, weil er meint, damit die Wahrheit Gottes auf besonders treffliche Weise eingefangen zu haben und treibt damit das Paradoxe auf die Spitze. Erst durch seine Menschwerdung erweist sich Gott als wahrer Gott. Diese liebende Verströmung, solches Sich-Verschenken ist das Zentrum seines Wesens. Aus Liebe wagt er sich überall hin: in den finstersten Winkel seiner Schöpfung, in das von Schuld gezeichnete Herz des Sünders, in die zutiefst verletzte Seele, in den furchtbaren Tod. Dort will er geboren werden und dort mit sterben, dort den Tod bezwingen im Keim. Diese weihnachtliche Lektion Gottes sind wir aufgerufen zu lernen, liebe Brüder und Schwestern. Es fällt schwer sie zu verstehen, schwerer wohl noch, sie umzusetzen. Und doch ist es nichts anderes, was christlicher Glaube heißt: Mit dem Fleisch gewordenen Wort unter uns, mit dem Mensch gewordenen Gott in mir haben wir die Fülle des Lebens schon erhalten. Nur lesen lernen, mein Leben, in diesem Sinne, das müssen wir alle noch. Amen.