Predigten

 
 

Urteil

Fastenpredigten über den Kreuzweg Jesu Christi

Predigt I über die Stationen 1 und 2
5.3.2006 - 19.00 Uhr St. Michael Tübingen (Thomas Steiger)

Klangschale - Einzug in Stille
Orgelvorspiel
Liturgischer Gruß
Lied GL 182,1-10
Introitus zur Kreuzwegandacht GL 775
Einführung
Lied GL 183,1-5 V/A
Gebet

Klangschale -
Schriftlesung Mt 27,22-31
Hymnus GL 174 V/A
Predigt
Orgelmeditation

Klangschale -
Beten aus der Kreuzwegandacht GL 775,1-2
Stille (1')
Lied GL 178,1-4
Fürbitten mit Ruf GL 205,1
Vaterunser
Segen und Entlassung
Orgelnachspiel

Klangschale - Auszug in Stille


Einführung

Die Kreuzwegandacht zählt zu den zentralen Motivandachten im Kirchenjahr. Sie ist Gedächtnis an das Leiden Jesu und über dieses auch Gedächtnis an das Leiden der Menschen und der Welt zu allen Zeiten - bis heute.
Es ist eine alte christliche Tradition, den Kreuzweg Jesu zu betrachten, d.h. sich in die berlieferten 14 Stationen seines Weges von der Verurteilung vor Pilatus bis zur Grablegung hineinzustellen, um sich mit der eigenen wie der fremden Not in das Geschehen
einzulassen. Sie ist aus dem Herzen des Menschen entstanden, aus seinem Drang, sich in die Geheimnisse der Erlösung leibhaftig hinein zu versenken. Wahrscheinlich sind schon die Christen der Urgemeinde in Jerusalem in Erinnerung den Weg wieder gegangen, den Jesus damals hatte gehen müssen. Und dabei ist vor ihrem inneren Auge lebendig neu entstanden, was sich zugetragen hatte. Sie haben ihre Erinnerung an andere weiter gegeben, und diese wieder an andere. Später haben die Jerusalem-Pilger an den Orten Halt gemacht, und wieder später kam der Gedanke auf, die Ereignisse der Leidensgeschichte abzubilden, und die Bilder in Kirchen oder auf Wegstrecken anzubringen (vgl. Wurmlinger Kapelle). So wurde die geistlichen Erfahrung jedem zugänglich.
Kreuzweg-Beten, das meint nicht: Jesu Leben, Jesu letzte Wegstrecke aus der Distanz anschauen. Kreuzweg-Beten, das meint: einsteigen, (emotionale) Nähe wagen, mich in das Geschehen hineinziehen lassen, es aushalten - und mitgehen.
Immer und überall ist das Leben begleitet vom Tod in seinen vielfältigen Formen. Den Tod zu begreifen als Weg durch Schmerz und Dunkelheit zur Fülle des Lebens ist der Sinn des Mitgehens an Jesu Seite - und damit an der Seite seiner geringsten Brüder und Schwestern (vgl. Mt 25,35ff.).
In den Bildern, die die14 Wegstationen des Weges Jesu evozieren, wird das Leid der Menschen heute gegenwärtig: Die zu unrecht Verurteilten, die Unterdrückten und Niedergetretenen, die Trauernden und Klagenden und die zur Mitleidenschaft Befähigten begegnen uns. Und auch die Unbeteiligten, die Nichtstuer, die Stumpfsinnigen und Gewalttäter stehen uns plötzlich gegenüber. Ganz nah. Sie alle fragen uns zugleich:
Wo stehe ich?
Wo komme ich auf dem Kreuzweg Jesu vor?

Predigt

Die Verurteilung

Mit der Begegnung zwischen Jesus und Pilatus kommt der Lebensweg Jesu an dem Punkt an, von dem aus es ein kein Zurück mehr gibt. Solche Punkte sind selten, aber es gibt sie in jeder Biographie: das Geständnis, einen Menschen zu lieben; der Tag, an dem ein Kind gezeugt wird; der Umzug in eine andere Stadt; die Entscheidung, sich ewig zu binden - in der Ehe, in der Priesterweihe, als Ordensfrau; oder aber - wie bei Jesus - der Mut, sich dem zu stellen, was einer vertritt, sich damit der Öffentlichkeit auszusetzen, der Allgemeinheit, dem Bürgersinn, der landläufigen Meinung, der geltenden Rechtsprechung, dem Urteil der Mächtigen.
Jesus wird zum Tode verurteilt - so heißt nüchtern und hart die Überschrift über die erste Station des Kreuzwegs. Von Pilatus ist da nicht die Rede, nicht von anderen Personen und auch nicht von Gründen. Alles scheint ganz und gar selbstverständlich zu sein, so, als gäbe es nichts, das logischer sein könnte. Da hat einer gelebt und geglaubt, und am Ende steht die Konsequenz dessen, was zuvor war: der Tod. Anders können die Menschen offenkundig nicht umgehen mit dem, was Jesus gepredigt und was er getan hat. Alle Mißverständnisse, alle verqueren Hoffnungen, das falsche Hören und Verstehen, sie lassen nur dieses Ende Jesu zu. Und Unterschiede zwischen Jesus und seinen Jüngern, dem Gehörten und dem Gesagten, gab es wahrlich genug. Die Evangelien berichten etwas verschämt zwischen den Zeilen davon,

- wenn Jesus immer wieder einschärft, sich nicht an den Wundern festzubeißen, sie vielmehr als Ausweis seiner Glaubensstärke zu verstehen

- wenn er den Glauben und die innere Freiheit über die geschehene Heilung stellt

- wenn er sich nie an Äußerlichkeiten aufhält, sein Interesse allein sich an den inneren Menschen richtet

- wenn er alles gering achtet außer Gott

- wenn er nur mit dem Maßstab der Liebe abwägt und so seine Wegmarken setzt

- wenn er - und Petrus steht hier nur exemplarisch für die anderen und (!!) für uns - seinen ersten Apostel dreimal nach der Liebe fragt, weil er sich nicht sicher sein kann, ob dieser verstanden hat; wenn er ihn als Satan bezeichnet, weil er nur an sich denkt, und gar nicht die höhere Absicht Gottes in den Blick zu nehmen bereit ist.

Daran nahmen viele Anstoß; das haben seine engsten Jünger nicht begriffen; das ganze Leben von Jesus entpuppt sich ihnen als eine Kette von Mißverständnissen. Daß dies unausweichlich zu einem gewaltsamen Tod führen könnte, als dem Mittel, dessen Menschen sich bedienen, wenn sie sich selbst und ihre ach so bestallte Ordnung in Gefahr sehen, das haben sie alle begriffen. Aber nur Jesus selbst will sich dem nicht entziehen; nur er erkennt den inneren Zusammenhang. Allein Jesus kann sogar darin noch Gott am Werk sehen, und sich dem Willen seines Vaters unterwerfen - schweren Herzens gewiß, mit Angst, mit Zweifeln und Fragen - und doch zugleich mit klarem Blick für die göttliche Logik.

Sie, diese andere Denkart Gottes, auszublenden, liebe Schwestern und Brüder, hieße die Offenbarung in der Hl. Schrift gehörig miß zu verstehen. Es geht ja nicht um einen x-beliebigen Prozeß mit Zeugen und Geschworenen, mit einem unabhängigen Richter und nach rechtsstaatlichen Prinzipien. Nein, sogar das Urteil, das hier gesprochen wird, ist im Grunde nichts anderes als eine Gelenkstelle, die von höherer Warte gesteuert dem größeren Ganzen dient. Dieser Blick aber erschließt sich uns erst von rückwärts, wie stets in den Evangelien, aus der Warte der Auferstehung. Erst im nachhinein wird verständlich, daß Jesus auch im Untergang, im Leiden und der Schmach, im Tod(,) Gottes Werkzeug ist. Indem er alle in uns eingefleischten Verhaltensweisen, die Mechanismen des guten Tones und die systemstabilisierenden Strukturen übergeht, kommt das in den Blick, um was es ganz allein gehen soll: Um den Menschen zu retten, ist Gott kein Preis zu hoch. Aus Liebe zu uns ist er bereit, seinen Sohn zu opfern, ja, dieses Verschenken ist das eigentliche Ziel seines ganzen Erdenlebens - auf daß der Mensch erkenne: Auch er kann nur im Sich-Verschenken sein Leben finden und gewinnen!
Auf diese Weise wird Pilatus zum Schräubchen im Räderwerk des göttlichen Heilsplanes. Nicht daß er nötig wäre, nicht daß es um ihn als Person, als Statthalter des Imperium Romanum ginge. Weit gefehlt! Auch hier gilt, daß alle allzu menschlichen Gesichtspunkte Lügen gestraft werden sollen. Aber da er nun einmal historisch dazu gehört, wäre vor 2000 Jahren jede andere Inszenierung ein Umweg gewesen. Das Heil Gottes will sich inmitten der Weltgeschichte und gerade noch in seinen Niederungen zeigen. Die Gemeinheit des nach dem Blut des Unschuldigen schreienden Volkes offenbart dann das wahre Gesicht des Menschen und zugleich seine große Heilsbedürftigkeit. Der nur an Machterhalt interessierte Hohe Rat der Juden entlarvt die Gefahr, Gott und unsere menschlichen Interessen zu verwechseln und zugleich die untrennbare Bezogenheit beider Aspekte aufeinander. In der Feigheit der Jünger erkennen wir unsere Schnellebigkeit des Menschenherzens, unsere Wankelmütigkeit und unsere Sehnsucht. Pilatus offenbart sich als Philosoph und Staatsmann, als Machtpolitiker und Einzelkämpfer der eigenen Hilflosigkeit, fremd bestimmt und unfrei, seinem Gewissen zu folgen. Überhaupt das Gewissen: Es kommt ja in der Warte der Bibel nicht ausdrücklich vor, kann es nicht. Aber übervoll von Schuld und damit von zerrüttetem Gewissen zeigt sich der Leidensweg Jesu, der mit der Aufnahme des Kreuzes in ein neues, endgültiges Stadium eintritt. Der übergroße Ich-Sinn so vieler führt unabänderlich in die menschliche Katastrophe Jesu. Nur, daß dies eben nicht alles ist, was die Konsequenz des Kreuzestodes bedeutet. Denn eben dort, wo es nach menschlichem Maß nicht mehr weiter zu gehen scheint, dort setzt Gott mit seiner Lösung an. Und nirgends anders ist das Heil zu finden, nach dem der Mensch sich sehnt, als in solcher Liebe ohne Grenzen. Das erahnt Jesus, er weiß es und kann es doch kaum glauben, daß dies von ihm verlangt wird. Und im gleichen Moment unternimmt er nichts, um dieses Schicksal von sich abzuwenden: keine Flucht, keine Ausflüchte, keine Argumente, keine Beweise, kein Streit um die Wahrheit, keine Beziehungen, keine Hilfe von außen. Fast erscheint es so, als ob er sich in Stille zielsicher hineinmanövriert in seinen Tod - weil es keine andere Lösung, keine Erlösung auf anderem Wege gibt!

Dies ist der Blickwinkel, den uns die 1. Kreuzwegstation lehren will: Die wahre Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Jesu Leiden und den Leidenswegen vieler Menschen, zugespitzt auf das Leid der Unschuldigen liegt in keinem Buch beschlossen, nicht in der Bibel, Dogma und Lehramt können sie nicht nennen, keine Theologie der Theodizee. Warum sind zum Heil die fürchterlichen Umwege nötig, warum die Schuld? Dafür steht der Weg Jesu ans Kreuz, für diese Antwort. In diesem Weg spiegelt sich etwas von Gott selber in seiner Freiheit und von der Chance, daß ich als Mensch mich in bedingungslos anbetender Liebe darauf beziehe, daß ich mich weggebe an Gott. Er ist es, nur er, der die finstere Abgründigkeit des Leids erhellt, in seinem Sohn, der die personifizierte göttliche Liebe ist. Wo wir diese uns nicht schenken lassen, bleibt nur die nackte Verzweiflung über die Absurdität unseres Lebens und Leidens. Wenn wir also nicht stillschweigend zu Atheisten werden wollen, dann lohnt es sich, den Kreuzweg Jesu mitzugehen, ihn als Folie in meinem Innersten zu haben, mit dem ich die Welt und meine Existenz zu betrachten lerne, besser, tiefer. Ich weiß, liebe Schwestern und Brüder, damit sind wir eigentlich schon (wieder) am Ende angelangt, wo doch heute der Anfang des Kreuzwegs dran sein sollte. Nur, daß sich das nicht trennen läßt, daß das Ende den Anfang bestimmt. Das ist die Mitte der Mitte unseres Christenglaubens: daß der Auferstandene der Gekreuzigte und Gestorbene ist und umgekehrt, und daß wir die Antwort auf unser Gekreuzigtwerden, unseren Tod und unsere Auferstehung allein finden, indem wir uns in das Geheimnis Gottes in Jesus Christus übergeben.

Und dann sind wir sofort bei der 2. Station. Hier wollen wir lediglich noch einen Augenblick anhalten, und ganz genau hinschauen, was da geschieht: Jesus nimmt das Kreuz auf sich. Es geht mir nicht um die Bildqualität dieses Geschehens, nicht um die Größe des Balkens oder die blutverschmierte Stirn Jesu, auch nicht um die genauen Worte und Blicke der Umstehenden. Sehr wohl aber will ich Sie einladen, sich an genau dieser Stelle des Kreuzweges Jesu in ihn selber hinein zu denken. Und zwar, um zu spüren, ob Sie bereit sind, sich an ihn zu übergeben, nicht nur theoretisch und in stilisierter Frömmigkeit den Weg nach Golgatha mitzugehen, sondern absolut existentiell:

- Was nimmt Jesus auf sich, wenn er den Kreuzesbalken auf die Schultern nimmt?
Was müßte ich tragen, wenn ich an seiner Stelle wäre?

- Wie fühlt es sich an, dann den ersten Schritt zu tun, aufzubrechen, das schreckliche Ende vor Augen?
Habe ich mich überhaupt schon daran gemacht, diesen ersten Schritt auf meinem Kreuzweg zu gehen - bewußt, Gott unter den Füßen?

- Weiß Jesus, was auf ihn wartet?
Weiß ich es?

Für das geistliche Leben des Christen müßten das die wesentlichen Fragen überhaupt sein, wenn wir den Tod und die Auferstehung Jesu als das Zentrum unseres Glaubens betrachten. Nur dann nämlich wird die Auferstehung nicht nur ein frommer Wunsch bleiben, wenn wir ihr zu unseren Lebzeiten entgegenkommen - auf Jesu Art und Weise. Und das bedeutet ja wohl, indem wir - wie er - den entscheidenden Schritt machen, und das Kreuz aufnehmen, seines, unseres.
Vielleicht ist heute nicht der rechte Tage dazu. Vielleicht ist in meinem, in Ihrem Leben noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, es zu tun. Die Lebensgeschichte Jesu beginnt ja nicht mit der Kreuzigung. Allerdings läuft sie von Anfang an darauf hinaus. Und im entscheidenden Moment packt Jesus zu. Daß keinem von uns, Schwestern, Brüder es anders ergehen wird, das lehrt die Geschichte der Menschheit, auch die Erfahrungen mit Menschenleben in der Seelsorge lehrt dies. Und manchmal darf ich dabei sein, wenn ein Mensch sein Kreuz auf sich nimmt, und spüre, daß er es leichter trägt, wenn er Jesus dabei vor Augen hat.
So ist der Kreuzweg gedacht, um dies einzuüben.