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Predigt am "Misereor"-Fastengottesdienst in St. Michael (1./2.4.2006) (Martin Günter)- Gestaltung: Ausschuss 'Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung

Thema: "Die Fülle des Lebens teilen"

Faltblatt: Informationen und Texte. Seite 1 - Seite 2

Liebe Gemeinde,

"die Fülle des Lebens" - ein vielschichtiger, schillernder Begriff; ein Begriff, mit dem jede und jeder ganz unterschiedliche Dinge verbindet, je nach der eigenen Lebenssituation, entsprechend den eigenen Empfindungen, den eigenen Erfahrungen, den eigenen Sehnsüchten. Einige Gedanken dazu haben Sie vorher in den kurzen Statements gehört - so vielfältig und individuell wie die Personen, die sie vorgetragen haben. Bei unseren Überlegungen waren wir uns einig, dass die Fülle des Lebens nicht nur mit Schönem, Angenehmem in Verbindung gebracht werden kann, sondern dass für uns auch manch dunkle Seite des Lebens, manche schmerzliche Erfahrung und manche Herausforderung zu dieser Fülle gehört; so, wie viele Gegensätze erst das Ganze ausmachen, so gehören auch verschiedene Pole des Lebens zur Ganzheit, zur Fülle dazu: Licht und Schatten, Freude und Trauer, Glück und Leid... und manchmal kann gerade auch in schwierigen Erfahrungen etwas von der Fülle des Lebens erspürt werden, z.B. wenn ich mein Leid mit Anderen teilen kann, auf offene Ohren und Herzen treffe, oder wenn ich lerne, mich Unangenehmem zu stellen, mit Konflikten sinnvoll umzugehen, wenn ich an Problemen wachsen kann und mit Schwierigkeiten leben lerne...

"Die Fülle des Lebens" - ein vielschichtiger und schillernder Begriff. Und doch bleibt unsere Frage vom Anfang: Was würde ein Mensch aus den ärmsten Ländern des Südens darunter verstehen, was eine Frau beispielsweise aus dem Sudan? Könnte sie auch auf einzelne Glückserfahrungen zurückgreifen, oder würde sie eher aus dem Mangel heraus argumentieren, aus dem, was ihr tagtäglich am nötigsten fehlt und wonach sie sich deshalb am allermeisten sehnt? Was würde sie zur "Fülle des Lebens" sagen?

Tatsächlich ist die Kluft zwischen unseren reichen Industrienationen und den armen Ländern der Erde schon groß genug - aber noch größer ist sie im Blick auf die Situation der Frauen in diesen Ländern, denn Armut und Leid treffen sie am meisten. Frauen stellen zwar die Hälfte der Weltbevölkerung und erbringen knapp 65% der geleisteten Arbeitsstunden, erhalten jedoch nur 10% des Welteinkommens und besitzen weniger als 1% des Eigentums; 70% der von Frauen geleisteten Arbeit ist unbezahlte Arbeit - bei den Männern beträgt dieser Anteil nur 25%; von all den Kindern, die keine Schule besuchen, sind weltweit 70% Mädchen; ganz abgesehen davon, dass allein in Südasien jährlich eine Million Mädchen kurz nach der Geburt oder in den ersten Lebensjahren sterben, weil sie von ihren Eltern ausgesetzt oder vernachlässigt werden; während die Geburt eines Jungen der Familie aufgrund festgefügter Geschlechterrollen Ansehen und Ehre bringen, wird die Geburt eines Mädchens eher als Last empfunden, weil sie teuer verheiratet werden müssen und der Familie später als Arbeitskraft fehlen; leider sind Mädchen und Frauen auch im weiteren Leben weitaus mehr die Opfer gewalttätiger Übergriffe als Jungen und Männer; und auch die Neuinfizierung mit AIDS trifft inzwischen immer mehr Mädchen und Frauen; ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren weltweit verdoppelt - nicht zuletzt infolge von patriarchalen Unterdrückungs-mechanismen, die durch gesellschaftliche Rollenklischees gestützt werden.

Wer jetzt allerdings angesichts dieser Tatsachen nur mit dem Finger auf die armen Länder unserer Erde zeigt und die Schuld empört einseitig den dortigen Verhältnissen zuschiebt, sollte sich zuerst an die eigene Brust klopfen. Auch bei uns sind viele Frauen Opfer gewalttätiger Übergriffe - denken Sie nur an die vielen Zwangsprostituierten in den Bordellen unserer westlichen Nationen, deren Zahl zur Fußballweltmeisterschaft gerade in Deutschland gehörig aufgestockt wird; auch bei uns werden im Berufsleben in vielen Sparten Männer Frauen gegenüber unter der Hand bevorzugt; auch bei uns gibt es in vielen Bereichen immer noch keinen gleichen Lohn für die gleiche Arbeit zwischen Männern und Frauen, und auch bei uns sind alleinerziehende Mütter überproportional häufiger arbeitslos oder unterhalb des Existenzminimums beschäftigt.... Die Frage nach einer Einlösung der Rechte der Frauen geht ganz sicher auch uns etwas an in den westlichen, reicheren Ländern der Erde.

"Die Fülle des Lebens" - was würde unsere Frau im Sudan, was würde eine Osteuropäerin ohne Pass im westlichen Freudenhaus dazu sagen?

Aber das Motto der diesjährigen Fastenaktion geht ja noch weiter: "Die Fülle des Lebens teilen"...
Bei unseren Überlegungen ist uns aufgegangen, dass der Begriff der Fülle des Lebens zwei Ebenen hat: Einmal eine qualitative im Sinne des erfüllten Augenblicks - und dieser ist so vielfältig und so individuell unterschiedlich, wie es Menschen auf Erden gibt; erfüllte Augenblicke, Glücksmomente, in denen etwas von der Schönheit des Augenblicks aufscheint, in denen wir das Leben ganz intensiv erspüren können. Solche Erfahrungen sind nicht machbar, sondern immer Geschenk - selbst der reichste Mensch kann sie nicht herbeizwingen, und selbst der ärmste Mensch kann solche Momente erleben. Vielleicht zählen gerade hier ganz einfache Erlebnisse, ganz einfache Werte, die Manchem von uns im materiellen Wohlstand schon lange verlorengegangen sind...
Die zweite Ebene betrifft dann eher die Quantität, d.h. die Zahl von Lebensmöglichkeiten, die uns Menschen in unserem jeweiligen Umfeld zur Verfügung stehen: Also Fülle im Sinne von verschiedenen Chancen, die wir ergreifen können; Fülle als Anzahl der Möglichkeiten, die wir nutzen können, Fülle als Vielfalt an Wegen, die wir einschlagen können. Dass wir in den reichen Nationen hier klar im Vorteil sind, liegt auf der Hand.

Im Blick auf die Entwicklungsarbeit von Misereor setzt hier der Aufruf zum Teilen an - gerade im Blick auf mehr Geschlechtergerechtigkeit, gerade im Blick auf mehr Gleichberechtigung von Frauen und Männern weltweit. Denn nur wenn Frauen und Männer gleichberechtigt sind, kann die bedrückende Armut in vielen Ländern der Erde gemildert werden; nur dort, wo festgefügte soziale Rollenmuster verändert werden, ist nachhaltige Entwicklung möglich, von der dann alle, Frauen und Männer, profitieren. Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und Armut hängen in vielerlei Hinsicht zusammen. Armut gründet auf ungleicher Einkommensverteilung, auf ungleicher Verteilung von Vermögen, auf ungleichem Zugang zu bezahlter Beschäftigung, Bildung und Information, politischer Mitsprachemöglichkeit und Macht. Wie sollen Strukturen verändert, wie soll Bildung möglich werden und gesundheitliche Aufklärung funktionieren können, wenn Mädchen und Frauen - also die Mütter der heranwachsenden Generationen - davon ausgeschlossen sind? Das Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern berührt letztlich alle Lebensbereiche: Arbeit, Gesundheit und Bildung, Ernährung und Familie. All das gewinnt dort, wo Mann und Frau gemeinsame Sache machen; und nur dann können die Lebensmöglichkeiten die Fülle erreichen, die Gott in das Leben hineingelegt hat. Deshalb bittet das kirchliche Hilfswerk Misereor heute besonders um unsere Unterstützung für seine Projekte, die weltweit mehr Geschlechtergerechtigkeit und damit bessere Entwicklungsmöglichkeiten aus der Armut heraus fördern.

"Die Fülle des Lebens teilen" - dies kann für uns heute heißen, durch unseren Beitrag Anderen Chancen zu ermöglichen, Lebens-möglichkeiten zu eröffnen. Und vielleicht wird uns darin auch etwas von der Fülle des Lebens zuteil, die sich unserem Tun entzieht, die uns als Christen auf unserem Weg der Nachfolge aber von Gott immer wieder geschenkt werden kann. Amen.


Begrüßung und Hinführung:

Ihnen allen ein herzliches Willkommen zu unserem Gottesdienst heute am 5. Fastensonntag!
Früher nannte man diesen Tag Passionssonntag, denn von heute an lenkt die Kirche unseren Blick auf die Passion Jesu. Die Passion Jesu - die Leidenschaft, die Jesus beseelte - war es, Menschen mitzunehmen auf den Weg zu einem Leben in Fülle. Dafür ist er seinen Weg gegangen bis zur Hingabe am Kreuz. Im Bild vom Weizenkorn, das stirbt, um reiche Frucht zu bringen, stellt uns das heutige Evangelium den Weg Jesu vor Augen und lädt uns ein, ihm nachzufolgen in seiner Passion für die Menschen.
Die Fülle des Lebens teilen - so lautet das Motto der diesjährigen Fastenaktion von Misereor. Dabei wird unser Blick auf die weltweit fehlende Geschlechtergerechtigkeit zwischen Frauen und Männern gelenkt, die besonders in den armen Ländern nachhaltige Entwicklung verhindert. Der Ausschuss Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hat dazu diesen Gottesdienst vorbereitet und möchte sie gedanklich mit auf die Reise nehmen.


 

 

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