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Predigt zu
Hebräer 9,15.26b-28 am Karfreitag, 14.4.2006 in der Eberhardskirche
(Braunschweiger)
Und darum ist Christus auch
der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist
zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die
Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch
sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.
Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das
Gericht:
So ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen;
zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern
denen, die auf ihn warten, zum Heil.
Liebe Gemeinde!
Beim Bedenken des Textes kam
mir ein Gespräch in den Sinn, das ich vor einigen Jahren mit einer
Frau hatte, einer Marxistin.
Sie hatte nicht nur ihren Marx, sondern auch die Bibel gut studiert. Und
so kamen wir schnell auf Wesentliches zu sprechen.
"Ihr Christen habt Geschichten", sagte sie, "Symbole, Mythen,
Urzeichen, die wichtig sind und weiterhelfen und dem Menschen eine Richtung
weisen. Und dieser Jesus, das war ein ganzer Mensch."
Als wir dann aber auf das Kreuzesgeschehen
zu sprechen kamen, wehrte sie entschieden ab: "Nein, nicht diesen
Gekreuzigten, nicht dieser Gestorbene; der hilft uns nichts; nicht dieses
Blutbad!"
Ja, das ist schon die Frage,
die Kardinalfrage, warum ausgerechnet in diesem Gekreuzigten, in diesem
Leiden und Sterben, in diesem schrecklichen Tod dieses Einen das Heil,
die Hilfe für uns, für alle Welt liegen soll.
Warum? Warum musste dieses Blutbad geschehen?
Liebe Gemeinde,
eine Antwort, die unser Verstand fassen, die er begreifen könnte,
werden wir darauf nicht bekommen. In immer neuen Anläufen versucht
das Neue Testament, versucht die Theologie diesem Geheimnis von Golgatha
nachzudenken, dieser so schwer auf der Welt lastenden Frage nach dem Warum.
Alle Antwort darauf bleibt
Stückwerk. Und doch brauchen wir solche Antwort und müssen dem
Geheimnis nachdenken, denn dazu ist uns das Wort Gottes, das Wort der
Bibel gegeben.
Denken wir also nun der Antwort nach, die uns der unbekannte Verfasser
des Hebräerbriefes hinterlassen hat. Gebe Gott, daß diese Gedanken
uns nicht nur durch den Kopf, sondern auch zu Herzen gehen.
Denn allein das Herz kann etwas von einem Geheimnis fassen, ohne es zu
zerstören.
Zunächst fällt auf,
daß alles, was sonst in der Passionsgeschichte eine Rolle spielt,
beiseitegerückt ist als wäre es Nebensache.
Herodes, judäischer König von Roms Gnaden, Pilatus, die politische
Gewalt, die Hohenpriester als religiöse Instanz und die als Stimmvieh
gekaufte Masse, die Soldaten, die ihr blutiges Handwerk tun und die mutigen
Frauen, die von den Freunden Jesu allein noch unter dem Kreuz ausharren.
Das alles bleibt im Dunkeln.
Es ist als ob ein überirdisch helles Licht nur auf einen einzigen
Punkt gerichtet wäre, auf das Opfer, auf Christus.
Und hierin liegt schon eine erste Antwort auf die Frage, warum im Opfer
dieses einen allein unsere Rettung liegt.
Wenn hier am Kreuz nur ein Mensch hängt, einer unter vielen, und
sei es der beste Mensch, der einmal auf Erden seine Spuren hinterließ,
dann allerdings ist es unsinnig und absurd, von diesem Gekreuzigten mehr
zu erwarten als von irgendeinem der großen Gestalten der Geschichte.
Dann wäre und bliebe alles beim Alten. Es wäre bestätigt,
daß der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und bleiben wird. Daß
die Welt eine Mühle ist, die sich nur um sich selber dreht. Und wer
sie aufhalten will, der wird in ihrem Mahlwerk erbarmungslos zerrieben.
Dagegen hilft kein Marx und
kein Mohammed und auch die Worte des Bergpredigers, die so menschlich
und so weise sind, auch sie sind dann in den Wind gesprochen.
Und dann gilt, was in einer
großartig gestalteten Szene der kirgisische Schriftsteller Tschingis
Aitmatow in seinem Roman "Der Richtplatz", Pilatus zu Jesus
sagen lässt:
"Die Welt wird geführt von den Mächtigen, anders kann es
nicht sein
Der Stärkere hat die Macht, und immer und ewig werden
die Starken die Welt beherrschen. Und diese Ordnung ist unwandelbar wie
die Sterne am Himmel. Sie wird niemand versetzen. Vergebens ist deine
Sorge um das Menschengeschlecht, vergeblich das Opfer deines Lebens. Den
Menschen ist nichts beizubringen, weder mit Predigten in Tempeln noch
mit Stimmen vom Himmel. Sie werden immer den Mächtigen folgen, sie
werden vor der Stärke und dem Wohlstand in die Knie gehen
"
Ja, so ist es und so wird es
bleiben, wenn an diesem Kreuz nur ein Mensch hängt,
einer von Abertausenden von Märtyrern und Weltverbesserern, mit deren
Blut die Erde getränkt ist.
Und dann wird die Geschichte enden, wohin sie mit ihrem Blutbad treibt:
In das Chaos, in den Abgrund, in die Gottverlassenheit des Nichts.
Und daran wird kein Idealismus
und kein Kommunismus und schon gar kein Fundamentalismus oder sonst einer
der Ismen etwas ändern. Wie die Geschichte zeigt, sind es ja gerade
dieses Ismen, diese Ideologien, die das Blutbad noch vergrößern.
Und wir alle sind irgendwie daran beteiligt. Wir alle sind hineingeflochten
in die Schuld- und Schicksalsgemeinschaft eines Volkes. Aber nicht nur
eines Volkes, sondern des gesamten Menschengeschlechtes.
Die griechische Antike hat
diese Schuld- und Schicksalsverflochtenheit als Verhängnis gedeutet
und das Menschenleben deshalb als Tragödie beschrieben.
Der Mensch ist Täter und Opfer zugleich - unwissentlich-wissentlich.
Es gibt kein Entrinnen. Keine Erlösung. Erlösung wäre,
nie geboren zu sein.
Ganz anders die biblische Sicht
des Menschen. Es ist ein Glück geboren zu sein. Der Mensch ist zum
Ebenbild Gottes berufen und mit freiem Willen ausgestattet. Er soll der
freie Sohn, die freie Tochter Gottes sein. Kinder der göttlichen
Liebe, begabt mit der Vernunft, die guten Weisungen Gottes zu vernehmen,
beauftragt, die Schöpfung zu bebauen und zu bewahren, und dazu ordiniert,
die Liebe Gottes weiterzugeben.
Aber, liebe Gemeinde, betrachten
wir den Weltenlauf, dann müssen wir voller Schrecken und Trauer erkennen:
die Geschichte des Menschengeschlechtes ist eine Geschichte voller Krieg
und Haß, voller Neid und Eifersucht, voller Raffgier und Mord.
Gewiß, es gibt auch eine Geschichte der Liebe und der Leidenschaft
für das Leben. Aber gerade diese Geschichte ist ja eine Leidensgeschichte.
Wer liebt, hat unter der gewaltförmigen Welt zu leiden
Das Dunkle scheint das Lichtvolle zu verschlingen.
Und wenn ich in mein eigenes Herz hineinschaue, dann entdecke ich mit
Schrecken neben dem Lichten auch das Dunkle, das Abgründige. Mein
Leben ist nicht nur ein Leben der Liebe, sondern auch eines der egoistischen
Triebe.
Warum ist das so? Auf den ersten
Blick scheinen die Wissenschaften eine Erklärung zu haben. Die Psychologie
redet von der Triebstruktur des Unbewussten, und die Biologie vom sogenannten
Bösen, dem Aggressionstrieb, dem Überbleibsel unserer tierischen
Vegangenheit im Kampf ums Überleben.
Aber das kann nur dem eine zureichende Antwort sein, der von keinem Schöpfer
weiß.
Da wissen die Mythen der Völker mehr. Und auch die Deutung der Menschheitsgeschichte
als Tragödie ist hellsichtiger. Bis heute ist das auch der Grundton
der Dichter, wenn sie das Menschenleben beschreiben: Die Geschichte als
Verhängnis. Der Mensch als tragischer Held, der straucheln muß.
Der irische Dramatiker Samuel Becket, gestern wäre er 100 Jahre alt
geworden, Becket sagt: er habe an einem Karfreitag, nämlich am 13.
April 1906, - nicht das Licht, sondern die Nacht der Welt erblickt.
Liebe Gemeinde,
Becket ist Poet, ist Künstler. Und als solcher ist er ein Seismograph
der menschlichen Seele. Er spricht aus, was es heißt, ohne Gott
zu sein. Es geht das Licht aus und es wird Nacht in der Welt. Und es geschehen
die Taten der Nacht und der Finsternis.
Am Anfang des Johannesevangeliums
heißt es: "Das Licht scheint in die Finsternis, aber die Finsternis
hat es nicht ergriffen
Er, der göttliche Logos, kam in sein
Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf."
Das ist der Zustand der Welt und der Grund für die Gewaltgeschichte.
Und das ist die Antwort auf die Frage, warum die Geschichte der Liebe
eine Leidensgeschichte ist.
Die Bibel nennt diesen Zustand
Sünde. Sünde heißt: der Mensch will nicht Sohn, nicht
Tochter sein, nicht Ebenbild des Vaters, der ewigen Liebe. Er hat andere
Bilder, denen er entsprechen will, und aus denen er seine eigenen Götter
formt.
Also spricht der Mensch Gott,
dem Vater, sein Misstrauen aus. Er glaubt nicht, daß Gott für
ihn nur das Gute will. Er vertraut nicht darauf, daß Gottes Gebote
nichts anderes sind als die Sicherung seiner Freiheit und der Schutz des
Lebens in der Gemeinschaft.
Er vertraut nur dem, was er selbst als das Gute für sich selbst setzt.
Er macht sich selber zum Gesetz. "Der Mensch - das Maß aller
Dinge", sagen die Griechen, die daraus und deshalb die Tragödie
dichteten.
Ja, dieses Rebellentum gegen
Gott könnte in der Tragödie enden. Denn der Mensch, der sich
selber Gesetz und Grund sein will, reißt einen Abgrund auf - zwischen
sich und dem Schöpfer, zwischen sich, der das Maß aller Dinge
sein will, und Gott, dem wirklichen Maß und Grund aller Dinge.
Und nun gähnt ihn das Nichts aus dem Abgrund an, das die Dichter
beschreiben, die Seismographen und Archäologen unserer Seelenabgründe.
Die Ängste, die uns zuzeiten
überfallen, sind die Ausgeburten dieses Nichts: die Angst um uns
selbst, die Angst ein Nichts zu sein, die Angst vor der Sinnlosigkeit,
vor der Leere, der horror vacui.
Und es bleibt bei diesen Ängsten
und das Menschenleben ist eine Tragödie.
Es sei denn, es kommt da einer, der diesen Abgrund überbrückt,
es kommt einer aus dem Jenseits von Zeit und Raum, der einbricht in diese
durch das Nichts umstellte Welt und Leben. Einer, der uns herausführt
aus dem von Menschen nicht lösbaren Zusammenhang von Schicksal, Schuld
und Tod, aus der Tragödie also.
Und so verstehe ich das, was
unser Text aus dem Hebräerbrief so sagt:
"Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen,
durch sein Opfer die Sünde aufzuheben."
Am Kreuz, da ist die Welt der
Gottferne an ihr Ende gekommen. Am Kreuz ist Endzeit. Und hier, am Kreuz,
ja, da fließt Blut, wie der Hebräerbrief betont. Hier fließt
alles Blut, das durch die Geschichte geflossen ist und noch fließen
wird und mit dem die Erde getränkt ist und das zum Himmel schreit
- das Blut der vielen zu Opfern gemachten Menschen und auch das der übrigen
Kreatur fließt an diesem Kreuz auf Golgatha zusammen.
Denn an diesem Kreuz hängt
der Mensch, der das wahre Ebenbild Gottes ist. Und in diesem einen Menschen
wohnt, o Geheimnis, o Wunder, die Schöpfermacht selber, der Ursprung
des Lebens. Am Kreuz hängt der wahre Mensch und der wahre Gott. Am
Kreuz hängt die Liebe.
Können wir Erdenbürger
überhaupt ermessen, was das heißt?
Hier am Kreuz demaskiert sich die Welt als verkehrte, als widergöttliche
Welt. Aber hier zeigt sich auch schon die andere, die neue, die gottentsprechende
Welt.
Die Welt des göttlichen Vaters, der seine Arme ausstreckt nach seinen
rebellischen Söhnen und Töchtern, die er sehnlichst zurückerwartet
aus der Verlorenheit, aus der Fremde.
Die neue Welt, die schon aufleuchtet in den Worten des einzig wahren,
weil am Heilswillen Gottes festhaltenden Sohnes: "Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun!"
Ja, die Liebe Gottes ist keine harmlose Liebe. Sie kann lodern vor Zorn,
wenn sie sieht, wie die Menschen das Leben erniedrigen, beleidigen, quälen
und zerstören.
Am Kreuz aber, lodert der brennende Zorn gleichsam nach innen, er verglüht
im Meer der göttlichen Liebe.
Und nun ist der Abgrund, den
der Mensch durch sein Misstrauen, sein Rebellentum gegen Gott aufgerissen
hat und in den er zu versinken droht, zugedeckt, er ist gewissermaßen
gefüllt mit der überströmenden Liebe Gottes.
"Gott war in Christus und versöhnte so die gottfeindliche Welt
mit sich selbst", heißt es beim Apostel Paulus.
In Christus fängt Gott nocheinmal ganz neu an mit der Welt, mit uns
Menschen.
"Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes", sagt der
Hebräerbrief.
Er also, Christus, der Gekreuzigte,
ist der Mittler des Neuen, gleichsam der Katalysator, das Ferment, das
unbedingt dazu getan werden muß, damit etwas Neues entsteht, damit
das Alte verwandelt wird.
Ohne diesen Christus bleibt alles beim Alten. Bleibt es bei den Tränen
und dem Leid und dem Geschrei und dem Tod des Menschen. Es bleibt bei
der Tragödie. Und die übrige Kreatur seufzt und sehnt sich vergeblich.
Mit ihm aber und durch ihn
wird alles verwandelt in Neues, in den Neuen Menschen, hineingerissen
in die Neue Welt, in ein neues Verhältnis zu Gott, in den Neuen Bund,
wo der Mensch wieder Sohn und Tochter Gottes sein darf.
Christus, der Gekreuzigte,
ist gleichsam der Ort, an dem ein neuer Schöpfungssturm losbricht,
der das Chaos in Kosmos verwandelt, die Finsternis in Licht, das Nichts
in Sein.
Und darum lautet das letzte
Wort Jesu am Kreuz nach dem Evangelisten Johannes: "Es ist vollbracht!"
Vollbracht ist das Opfer der Liebe, der Sprung in den Abgrund. Und aus
diesem Opfer wächst das Neue.
Aus diesem Opfer auch wachsen neue Gedanken und neue Bücher, und
neue Taten der Liebe, die jetzt schon auf dieser alten, blutgetränkten
Erde ein Hinweis darauf sind, daß die Verwandlung der dem Tod verfallenen
Welt begonnen hat.
Noch einmal denke ich an meine
Gesprächspartnerin, an die Marxistin, die in Jesus einen großen
Menschen sieht, der das Kreuz aber nur ein Gräuel ist und der Gekreuzigte
ein hilfloser Toter.
Was wäre noch zu sagen?
Ja, ein Blutbad ist dieses
Kreuzesgeschehen. Denn darin gipfelt die Weltgeschichte. Und wenn wir
allein auf uns schauen und nur unserem Verstand und seinem Vermögen
trauen, dann bleibt unverrückbar gültig, was Tschingis Aitmatow
seinen Herrn Pilatus zu Jesus sagen lässt:
"Die Welt wird geführt von den Mächtigen, anders kann es
nicht sein
Dem Menschen ist nichts beizubringen, weder mit Predigten
in Tempeln noch mit Stimmen vom Himmel. Sie werden immer den Machthabern
folgen, und sie werden vor der Stärke und dem Wohlstand auf die Knie
gehen
"
Das ist das eherne Gesetz der
Welt. Nun aber hat der Schöpfer selber in Christus dieses Gesetz
ein für allemal aufgehoben, hat uns ein Zeichen gegeben, ein Ur-Zeichen
aufgerichtet über der Welt, das Zeichen des Kreuzes.
Darin endet alle Geschichte.
Darin endet alle Macht der Welt.
Darin endet die Kraft des Verstandes.
Darin endet auch unser Sterben und unser Tod.
Und darin beginnt ein Neues.
Das verheißene ewige Erbe. Und dahinein wird die Welt mit der Kraft
der Liebe von neuem geboren.
Und wer von ihr, der Schöpfermacht der Liebe, ergriffen ist und auf
die Knie sinkt vor diesem Geheimnis, vor diesem Wunder des Karfreitags,
der wird schon im Alten das Neue sehen und er wird verstehen und kommt
ins Singen:
"O Wunder ohne Maßen/ wenn man's betrachtet recht/ es hat sich
martern lassen/ der Herr für seinen Knecht,/ es hat sich selbst der
wahre Gott/ für mich verlornen Menschen/ gegeben in den Tod."
Amen
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