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Predigt zu
Hesekiel 37, 1-11 am Pfingstsonntag, 4.6.2006 in der Eberhardskirche (Braunschweiger)
Liebe Gemeinde!
Ich kenne kein Buch, das den Menschen und die Welt so realistisch beschreibt
wie die Bibel.
Und ich wüsste von keinem anderen Buch, das so voller begründeter
und beglaubigter Bilder der Hoffnung ist wie die Bibel.
Die Bibel weiß davon,
daß die Schöpfung insgesamt noch in Wehen liegt. Daß
sie auf ein großes Ziel zugeht. Sie seufzt noch und stöhnt
unter ihrer Vergänglichkeit, schreibt der Apostel Paulus an die Römer.
Und vielleicht gehört das Beben der Erde, wie neulich wieder in Java,
das so viel Not und Tod gebracht hat - vielleicht gehört auch das
zu den Wehen der Schöpfung.
Aber auch die Menschheitsgeschichte
liegt in Wehen. Noch ist nicht sichtbar, was der Mensch sein soll: nämlich
Ebenbild des unsichtbaren Gottes. Ebenbild der Liebe.
Noch herrscht der Mensch über seinesgleichen und bringt Schrecken
über die Schöpfung. Denn, so heißt es in den ersten Kapiteln
der Hl.Schrift: Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist
böse von Jugend auf.
Das ist der Realismus der Bibel. Von keinem anderen Buch darin übertroffen.
Aber am Ende dieses Buches, wo das Bild der Vollendung der Schöpfung
und der Heimholung der Menschheit gemalt wird, da heißt es:
"Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei
ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen,
wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren
Augen, und der Tod wird nicht mehr sein
"
Kennen Sie, liebe Gemeinde, ein schöneres Hoffnungsbild? Ich jedenfalls
nicht.
Und nun feiern wir Pfingsten.
An Pfingsten wird gleichsam das Angeld, der Vorschuss auf diese herrliche
Zukunft ausgeschüttet.
Noch wohnt ja Gott nicht inmitten seiner Geschöpfe. Aber der Geist
Gottes ergreift Menschen, wohnt in ihnen und macht sie zu Werkzeugen seiner
Liebe und seines Friedens. Zu Zeichen dafür, daß Gott mit seiner
Menschheit noch Großes vorhat.
Israel und die Kirche sollten solche Zeichen sein. Aber sind wir es?
Der Geist klärt uns darüber auf. Und er tut es heute mit Worten
aus dem Buch des Propheten Hesekiel.
Dort hören wir im 37. Kapitel:
"Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus
im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag
voller Totengebeine.
Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr
viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt.
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, daß diese
Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt
es.
Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen:
Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort!
So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch
bringen, daß ihr wieder lebendig werdet.
Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und
überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, daß ihr wieder
lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, daß ich der HERR bin.
Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als
ich weissagte, und siehe, es regte sich, und die Gebeine rückten
zusammen, Gebein zu Gebein.
Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf, und sie
wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen.
Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und
sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier
Winden und blase die Getöteten an, daß sie wieder lebendig
werden!
Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie,
und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße,
ein überaus großes Heer.
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus
Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere
Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns."
Liebe Gemeinde!
Die Worte, die wir soeben hörten, die rollen heran, so gewaltig wie
ein Erdbeben. Ihre Bilder sind so ungeheuer, so furchtbar und zugleich
so schön, daß einen der Schwindel packt.
Aber nicht der Schwindel, sondern des HERRN Hand kam über den Propheten
und führte ihn hinaus im Geist. Der Prophet war also "außer
sich". Ich will nicht lange davon reden, was das heißt: Ekstase
- Außersichsein.
Es genügt zu wissen: nicht der Mensch, nicht sein Geist, sondern
ein anderer Geist übernimmt dabei die Führung. Bei Hesekiel
war es der Geist Gottes.
Und wenn sein Geist führt, dann geht's zur Wahrheit. Hesekiel sieht
die Wahrheit, zunächst eine grausige Wahrheit: der Tod beherrscht
das Feld:
"Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und
siehe, sie waren ganz verdorrt."
Fürwahr ein ganz und gar
hoffnungsloses Bild! Ein Bild der totalen Geistlosigkeit. Ja, geistlos
war, was der Prophet sah: Das Leben war verdorrt und ausgetrocknet bis
auf die Knochen.
So, liebe Gemeinde, so ist das Leben, unser Leben, wenn der Geist fehlt.
Unser Text spricht vom Odem Gottes. Ruach steht im Urtext, im Hebräischen.
Die Ruach Gottes schwebte am Uranfang über dem Chaoswasser, so lesen
wir in der Schöpfungsgeschichte.
Die Ruach, das ist der Sturmwind Gottes, der aus Chaos Kosmos schafft.
Die Ruach, das ist der schöpferische Geist-Braus, wie Martin Buber
übersetzt.
Die Ruach, das ist Gottes beseelender Atem, der Luft- und Lebensstrom
aus der Ewigkeit.
Und wo dieser Geist-Braus Gottes fehlt, da mag die ganze menschliche Intelligenz
und Vitalität auf einem Haufen beisammen sein, und doch ist das Leben
so, wie Hesekiel es sah: verdorrt, vertrocknet, öde, morsch - eben
geistlos. Und dann ist sozusagen - im Bild gesprochen - der Teufel los.
D.h. andere Geister übernehmen die Führung und es weht nicht
der beseelende Geistwind Gottes, sondern der kalte Wind des Todes.
Weltweit ist es. z.Zt. vor
allem der Geist des Mammons, der Geist des Kapitalismus', der Not und
Elend produziert, der buchstäblich auf Teufel komm raus die Profitgier
bedient, Menschen entwürdigt, die Schöpfung ruiniert und der
jungen Generation die Zukunft verbaut.
Aber nun geht es ja in dieser
Vision des Propheten um die Geistlosigkeit in einer besonderen Gestalt:
"Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel."
Es geht also um die Geistlosigkeit und den Tod des Gottesvolkes.
Nun könnte vielleicht
einer seufzen und sagen: Bleib uns damit vom Leib. Von der Ohnmacht und
dem Sterben der Gemeinden brauchst du uns nichts zu erzählen. Die
haben wir ja vor Augen.
In manchen Regionen werden Kirchen schon verkauft. Und in den Großstädten
schrumpft die Zahl der Kirchenmitglieder - katholisch und evangelisch
zusammen genommen - unter 50 %.
Aber eine andere Stimme könnte dagegenhalten: Es gibt durchaus auch
wachsende Gemeinden. Aktive Gemeinden, wo was los ist, wo die Begeisterung
zu spüren ist.
In den USA gibt es die Megakirchen, wo sich regelmäßig Tausende
zu den Gottesdiensten versammeln.
Welcher Geist führt sie zusammen? Ich weiß es nicht. Der amerikanische
Theologe Reiner Niebuhr sagte einmal: "Das Christentum erlebte häufig
sichtbare Erfolge gerade dann, wenn es die Gebote seines Begründers
ignorierte."
Und dieser Begründer, Jesus, lässt in der Offenbarung des Johannes
der Gemeinde in Sardes ausrichten: "Ich kenne deine Werke: Du hast
den Namen, daß du lebst, und du bist tot."
Offensichtlich hatte diese Gemeinde nach außen hin großen
Erfolg. In ihr war was geboten, aber innerlich war sie morsch, geistlos,
tot. Sie vertraute nicht auf ihren Herrn, sondern auf sich selber, auf
ihre Werke, ihre sichtbaren Aktivitäten.
Wann ist eine Gemeinde lebendig,
wann lebt sie kraft des Geistes Gottes? Wann ist sie morsch, geistlos,
tot? Kann man das an irgend welchen äußeren Zeichen ablesen?
Vermutlich kann nur ein vom Geist aufgeklärte Prophet die Totenstarre
einer Gemeinde, einer Kirche sehen:
"Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und
siehe sie waren ganz verdorrt."
Wer sind die toten Glieder der Gemeinde? Sind es die Ausgetretenen? Sind
es die, die noch drin sind, aber keine geistliche Strahlkraft haben?
Und wo die Religion noch boomt und die Kirchen Zulauf haben, z.B. in den
USA, da wird im Namen Gottes Krieg geführt und dem Geist des Kapitalismus
gedient, wie sonst nirgends auf der Welt.
Wir leben in einer chaotischen, einer scheinbar von allen guten Geistern
verlassenen Welt.
Und wir alle sind Teil dieser Welt. Wir alle seufzen unter der Geistesarmut
dieser Zeit.
So wie auch Hesekiel, der mit seinem Volk an den Wassern Babels sitzt
und weint. Die Lieder sind verstummt. Die Zukunft ist düster. Gibt
es noch Hoffnung?
"Und der Geist des HERRN
sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, daß diese Gebeine
wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt
es."
Keine überschwängliche Antwort ist das. Aber eine, die offen
ist für Gottes Wunder.
Und mehr, liebe Gemeinde, mehr brauchen auch wir jetzt nicht mitzubringen
an diesem Pfingstfest als diese etwas ärmliche, bescheidene Antwort,
die hinweist auf unsere Armut im Geiste.
Und die Armen im Geiste, das sind die Menschen, die wissen, daß
sie ohne Gottes Geist auf verlorenem Posten stehen und darum schreien
sie nach dem Geist.
Und darum preist Jesus sie
auch selig:
"Selig sind die Armen im Geiste." Oder wie man auch übersetzen
kann: Selig sind die Bettler um den Geist.
Betteln um den Geist, das ist unsere vornehmste, die vorpfingstliche Aufgabe,
damit es Pfingsten werde, damit ein Rauschen durch unsere Reihen gehe
und ein Brausen durch unsere Köpfe und der Geist wie ein Sturmwind
durch die Kirchen fahre und am Ende dieses Sturmes die Gemeinden wieder
zu Oasen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe werden.
Diesem Geistbraus aber geht ein Hören voraus:
"Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht der
HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, daß
ihr wieder lebendig werdet."
"Wo das Wort ist, da ist
Kirche" - heißt es bei Martin Luther. Und weiter: "Nur
durch das Evangelium wird die Kirche empfangen, gebildet, genährt,
gezeugt, erzogen, geweidet, gekleidet, geschmückt, gestärkt
kurz: das ganze Leben und Wesen der Kirche besteht im Wort Gottes
"
Wer mag das noch glauben von den vielleicht noch fünfundzwanzig Millionen
evangelischen Christen Deutschlands?! Irgendwo las ich, daß das
selbst viele, die mit dem Wort auf die Kanzel gehen, nicht mehr glauben.
Wen wundert's, daß die Kirche in Deutschland in der Leichenstarre
liegt? Was wäre, wenn die ca. 50 Millionen getauften Christen sich
dem Raubtierkapitalismus entgegenstellten, wenn sie ernst nähmen,
was Gott fordert: daß die Schwachen gestärkt werden und den
Armen und Elenden geholfen wird?
Wenn Jean-Claude Junker, Luxenburgs Ministerpräsident neulich auf
dem Katholikentag sagte: Europa muß das Projekt der kleinen Leute
werden -, dann ist er ganz nahe am biblischen Wort, das vom Gott der kleinen
Leute erzählt.
Gewiß: Man kann das Wort
lesen und sich ihm dennoch verschließen. Man kann es hören
und hört doch immer nur das, was man selber hören will. Man
kann es verdrehen, vergewaltigen, missbrauchen. All das ist ja geschehen
und geschieht noch immer.
Und dennoch gilt, daß Gott der Kirche durch nichts anderes als durch
sein Wort das Leben einhaucht, sie erhält, sie stärkt.
Viele, vielleicht gerade die
Aktivsten und Engagiertesten unter uns Christen glauben, die Bibel, unsere
christliche Tradition, die Gottesdienste - all das seien zu große
Umwege in einer Zeit, die doch brennt und die sofort alle Hände zum
Löschen braucht.
Ich glaube, daß wir immer weniger Zeit haben, uns diese Umwege zu
ersparen. Das Leben, die menschliche Gemeinschaft, ist so bedroht, daß
wir mehr als unsere eigene Phantasie, mehr als unseren Verstand und unsere
Kräfte brauchen zum Zeugnis gegen den Tod.
Täglich werden wir überschwemmt
von Bildern der Zerstörung und der Gewalt. Vor allem die jungen Menschen
sind ihnen hilflos ausgeliefert. Was nimmt es Wunder, daß auch an
den Schulen die Gewaltdelikte zunehmen?! Ich denke, es ist Mord an den
Seelen der jungen Menschen, sie allein zu lassen mit den trostlosen Bildern
der Zerstörung und Zukunftslosigkeit.
Wir sind ihnen auch die Gegenbilder schuldig. Die Bibel ist voller Hoffnungsbilder.
Und unsere Tradition hält Geschichten bereit, die von Menschen erzählen,
die im Vertrauen auf Gott ihre innere Würde und Freiheit bewahrten
und ihr Leben einsetzten für Gerechtigkeit und Frieden.
Und darum, liebe Gemeinde,
ist es unsere vornehmste Aufgabe zu hören, auf Gottes Wort zu hören.
Denn der Grundstrom seines Wortes ist Verheißung, ist ein Wärmestrom,
ist ODEM, der die Totenstarre aus unseren Köpfen bläst und den
Modergeruch aus unseren Seelen treibt.
Denn es heißt doch beim Propheten:
"Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten
sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer."
- Ist das Zukunftsmusik oder schon reale Gegenwart?
Wo ist es, dieses überaus große Heer? Bei unseren kleinen und
immer mehr zerbröselnden Gemeinden etwa? Aber ich will jetzt nicht
noch einmal die Trübsallitanei anstimmen.
Nicht nur, um die kirchliche Totenstarre zu sehen, bedarf es wohl prophetischer,
geistgeführter Augen. Auch das sehr große Heer der Erweckten
ist nur mit geistlichen Augen zu sehen.
Es ist da, dieses Heer. Wenn wir die alten Gebete sprechen und die Trost-
und Pfingstlieder singen, da gehören wir zu diesem Heer. Und wenn
wir beim Abendmahl das "Dreimal Heilig" singen, da umsteht uns
wieder eine Wolke von Zeugen. Da ist es, als sei die schmale Grenzwand,
die uns noch von der ewigen Welt Gottes trennt, schon gefallen. Da stehen
wir, die wir noch auf dem Wege sind, schon Schulter an Schulter neben
der Gemeinde der Verklärten, die vor Gottes Thron singt: "Heilig,
heilig, heilig ist der HERR Zebaoth. Alle Lande sind voll seiner Herrlichkeit."
Das ist schon reale Gegenwart.
Und zugleich ist es ein Lied auf die Zukunft der ganzen Schöpfung,
wenn es heißen wird: "Siehe da, die Hütte Gottes bei den
Menschen".
Amen
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