Predigten

 
 

Gottes Wort im Herzen

Nachdenkliches auch über Dtn 6,4-12 am
Altjahrsabend 31.12.2006 - 17.00 Uhr St. Michael Tübingen (Thomas Steiger)

Liebe Schwestern, liebe Brüder aus St. Michael und aus St. Pankratius!
Der letzte Abend des Jahres markiert eine Zäsur. Er führt uns an eine Grenze heran, von der wir ahnen, daß wir sie bewußt überschreiten sollten - nicht achtlos, nicht ohne innere Bewegung. Natürlich verändert sich der Fortschritt der Zeit dadurch nicht; die Sekundenzeiger gehen in derselben Geschwindigkeit wie stets, Neujahr wird es so oder so. Und doch verlangt der Altjahrsabend von uns eine Entscheidung. Diejenige nämlich, abzuschließen und neu anzufangen, loszulassen und anzupacken. Wir können auch einfach hineinschlittern in das Jahr 2007. Nur daß dies auch eine Entscheidung wäre, eine unbewußte womöglich, gleichwohl eine getroffene, deren Folgen an uns haften.

Vielleicht fällt manchen unter uns die Entscheidung in diesem Jahr, an diesem Tag schwer. Es gäbe zuvor noch etwas zu erledigen - ein längst fälliges Gespräch, eine Aussöhnung. Die Bilanz des Lebens sieht nicht gut aus; es geht schlechter als jemals zuvor. Für das, was kommt, gibt es keine rechte Perspektive, den Willen schon, aber kein klares Ziel. Und gerade für diese Fälle, für die Zweifel und Bedenken, die unsere Biographie bevölkern, ist es wichtig, an Silvester eine bewußte und möglichst klare Zäsur zu setzen. Wie auch immer alles war, was kommen mag von morgen an: Ich habe es zuletzt nicht in der Hand. Ich bin nicht der letzte Maßstab und auch nicht der Verantwortliche für alles, was war und was geschehen wird. Der Mensch der Moderne, deren einer wir sind, ob wir es wollen oder nicht, neigt mehr dazu, sich selbst an die entscheidende Stelle der Welt zu stellen - und gehört doch gerade dort nicht hin.

In aller Unmißverständlichkeit betont dies der Zentraltext der Tora, der Weisung Gottes an sein erwähltes Volk im Buch Deuteronomium: die Städte, die Häuser, der Besitz. Nimm dich in Acht, daß du den Herrn nicht vergißt, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat. Gott gehört alles, was du bist und hast. Du bist nur der Verwalter, dem dies alles geschenkt, anvertraut ist. Für den, der glaubt, verbirgt sich dahinter nämlich die größte und gefährlichste Versuchung. Er könnte seinen Gott vergessen, ihn aus Versehen entmachten, und sich an diesen Zustand gewöhnen. Das Leben geht weiter, auch ohne Gott, möchte einer dann denken, und es sich gut gehen lassen. Mehr als alle Jahrhunderte zuvor, ist vor allem die europäische und nordamerikanische Gesellschaft dabei, dieser Versuchung zu erliegen. Und die Menschen dort, deren Teil wir selber sind, ahnen erst, zu was dies führt: kein Gottesbezug in der europäischen Verfassung, keine Achtung auf die Maßgabe des Evangeliums und eines von Gottes Willen geprägten Menschenbildes bei der Hinrichtung von Saddam Hussein, kein Gott in der Schule, im Kindergarten...

Liebe Schwestern und Brüder, es ist zuletzt immer diese Entscheidung, die uns von neuem abverlangt wird, und deren Bekräftigung ausdrücklich am Ende eines Jahres im Blick auf das bevorstehende aussteht: Ich muß so denken, so eingestellt sein, so handeln und empfinden, alles in allem so leben, daß Gott darin vorkommt, daß er ist. Und ich darf dabei nicht an den Formen des oberflächlichen Bekenntnisses hängen bleiben, an der Rede von Gott, die ihn als inhaltsleeren Platzhalter mißbraucht. Vordringen muß ich stets bis an den Punkt, wo die Existenz Gottes mein Leben prägt, verändert. Im Falle der Hinrichtung von Saddam wäre das so offenkundig geworden: Ein Richter, ein Politiker, der an Gott glaubt, der seine Entscheidungen von Gott abhängig macht, kann der Vollstreckung der Todesstrafe nicht zustimmen, schon allein deshalb nicht, weil er sich nicht an die Stelle Gottes setzen darf, der allein Herr ist über Leben und Tod, weil die Botschaft Jesu in diesem Punkt mehr als eindeutig ist, den Feind zu lieben. Also muß jede Berufung auf Gott der muslimischen Richter im Irak, des christlichen amerikanischen Präsidenten eine Farce sein, die den Namen Gottes lästert, wenn er damit in Verbindung gebracht wird.

Ob es uns besser gelingt, Gott an den ihm zustehenden Platz zu rücken, besser: ihn dort sein zu lassen und nicht zu verdrängen? Dem frommen Juden hilft es seit tausenden von Jahren, sich diese Verse vorzusagen, die im Buch Dtn festgehalten sind. Achtzehn Mal am Tag spricht er sie aus, macht er sie zu seinem Gebet: Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott lieben. Und es bleibt nicht bei ihm allein; alles Individualistische ist dem Juden, der als Volk berufen wurde, fremd. Jeder soll sehen, daß dieser Satz zutrifft, und er soll weitergegeben werden an die Nachkommen, an Freund und Feind - Gott zur Ehre. Auch ist dieses Gebot keine Utopie. Es hat seinen Ort überall auf der ganzen Welt, weil es die entscheidende Realität bedeutet für alles Leben.

Der Altjahrsabend, liebe Brüder und Schwestern, ist eine passende Gelegenheit, um an einigen wesentlichen Stellen zu hinterfragen, ob die Verhältnisse dieser Realität Gottes gerecht werde, wo unser Engagement ansetzen müßte. Für sein persönliches Leben muß jeder dies alleine tun oder sich die Hilfe beschaffen, die ihm dienlich ist. Für unser gemeinsames Leben als Christen und unsere Verantwortung in der Gesellschaft will ich einige Bereiche nun noch exemplarisch ansprechen, die im heute zu Ende gehenden Jahr eine Rolle spielten und im kommenden unsere Aufmerksamkeit und Anstrengung verlangen werden:

1. Sehnsucht nach Glauben
Insgesamt gesehen scheint das Treffen einer verbindlichen Lebensentscheidung nicht die Stärke des modernen Menschen zu sein. Viel eher zieht dieser sich zurück auf Projekte, schnelle Erledigung, die kurzfristige Befriedigung seiner Bedürfnisse. Die Entscheidung für Gott ist aber eine absolute und totale, die zwar Zweifel, aber wieder und wieder zuletzt keine Halbheit erlaubt. Auch der Mensch der Moderne ahnt dies, und er kann sich doch im selben Moment nicht festlegen, sucht Halt, aber im Weichen, im Unverfänglichen. In vielfältigen Formen der Suche nach Orientierung, nach Spiritualität drückt sich dieser elementare Wunsch aus, oftmals recht diffus, bis ins Esoterische hinein. Es ist richtig, daß die Kirche und wir als Kirche am Ort dies wahrnehmen und nach gangbaren Wegen suchen, um Orte der Gottesbegegnung zu schaffen - gerade für Enttäuschte, Außenstehende, Verletzte. Dazu müssen wir den Spagat zwischen Klarheit und Öffnung wagen: Die Kirche Jesu Christi will in der Absicht ihres Stifters ein Ort für Jedermann sein, durchlässig für Neues. Und zugleich stehen wir für die Wahrheit einer Existenz, die nichts weniger ist als beliebig, sondern eindeutig in ihrem Gebot, bei allem Gott in die Mitte zu stellen um des Menschenwohles willen. Dazu müssen wir deutlicher sagen, was dieses Gebot für Konsequenzen hat: in Fragen der Gleichheit und Gerechtigkeit, der inneren Freiheit, des Widerstands gegen jegliche Form des Todes. Viele Menschen suchen die Entscheidung, sie wagen sich nur nicht daran.

2. Jahr der Berufung
Seit dem Christkönigssonntag vor sechs Wochen haben wir in Verbindung mit dem Jahresthema unserer Diözese auf die Frage der Berufung des Christen einen Schwerpunkt gelegt. Das ganze kommende Jahr über wird uns das begleiten. Jeder von uns soll sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen, ob sein Leben dem Ruf entspricht, den er von Gott her vernommen hat - in der Erziehung seiner Kinder, im partnerschaftlichen Zusammenleben, beim Mittun in der Gemeinde, in seinem Beruf. Für die Katholische Kirche bei uns stellt es darüber hinaus eine entscheidende Herausforderung dar, daß es nicht genügend junge Frauen und Männer gibt, die die Entscheidung für einen kirchlichen Beruf treffen wollen; insbesondere für die Ordensgemeinschaften gilt dies und für das Priesteramt. In absehbarer Zeit wird dies das Gesicht unserer Kirche und damit auch der Gemeinden verändern. Diese Entwicklung hat längst begonnen, wenn die Schwestern ihren Standort in Lustnau aufgeben mußten, wenn ich als ihr Pfarrer für drei Gemeinden und 9000 Menschen Verantwortung tragen soll. Nicht nur, was die Arbeitsbelastung angeht, bedeutet dies eine Überforderung; es führt zwangsläufig auch zu einer Entfremdung, zu Distanz in den Beziehungen. Und das ist Gift für das Leben im Geiste Jesu. Ich meine: Entweder die Kirche muß sich in dieser Frage bewegen, sich ändern, oder die Kirche wird sich verändern - spürbar, schmerzhaft. Wir müssen alles Mögliche dafür tun, daß junge Menschen sich diese Entscheidung zutrauen. Gott ruft sie. Und sie hören. Aber ...

3. Christen und Muslime
Die Gottesfrage hat in den letzten Jahren an Bedeutung wieder zugenommen. Das ist nicht zuletzt ein Ergebnis der Globalisierung, die das Elementare an der menschlichen Existenz mehr in den Blick nehmen muß. Auf diesem Hintergrund kann kein Zweifel daran bestehen, daß vor allem der Dialog zwischen den Religionen, die die Gottesfrage stellen, und damit zwischen Christen und Muslimen in ein neues Stadium eintreten muß. Das ist eine überlebenswichtige Angelegenheit. Nicht zuletzt die Rede des Papstes in der Universität Regensburg vergangenen September hat dies ins öffentliche Bewußtsein gerufen (àDiskussion der Pastoralteams am 10.1.2007).
Nun ist es tatsächlich mit enormen Schwierigkeiten behaftet, diesen Dialog in Gang zu bringen und in auf verläßliche Beine zu stellen. Unsere Aufgabe als Kirche am Ort muß vor allem darin bestehen, den persönlichen Kontakt mit Muslimen zu suchen, aufzubauen und zu verbessern. Hier kann jeder von uns einen wesentlichen und in der Summe bedeutsamen Beitrag leisten. Besonders wichtig wäre es auch, unser Differenzierungsvermögen zu schärfen, um Informationen und Nachrichten klug und gelassen zu bewerten. Nicht alles, was uns in den Medien entgegen gebracht wird, nicht jedes Stammtischgespräch, nicht jede parteipolitische Aussage, auch nicht jede kolportierte Meinung ist richtig und hilfreich. Wir können nicht umhin, uns hier eine eigenständige Grundlage an Wissen über den Islam zu schaffen.

4. Christliche Ökumene
Sehr beruhigt bin ich über den Stand der Ökumene zwischen den Gemeinden der evangelischen Kirche und uns vor Ort. Das gilt für die Südstadt und Derendingen, für Weilheim, Kilchberg und Bühl - auch wenn wir mit unserer geringeren Personalausstattung nicht allen Erwartungen an allen Ortsteilen in gleicher Weise gerecht werden können.
Gleichwohl gibt es eine gewachsene Empfindlichkeit, die mit einem Schwund des Vertrauens in die Verläßlichkeit des anderen einher geht, die ich mit Sorge beobachte. Sie gilt für beide Seiten, und ich will nichts weniger tun, als hier Schuldzuweisungen zu treffen. Die Katholische Kirche läßt die evangelische recht unmißverständlich wissen, daß sie nicht der einzige Dialogpartner ist, ja gewissermaßen der Juniorpartner in einem weltweiten Gefüge. Die Evangelische Kirche reagiert gereizt auf die Präsenz unserer Kirche bei weltweiten Ereignissen wie dem Weltjugendtag, der Papstbesuche und seiner öffentlichen Auftritte. Fortschritte in der Praxis der Gemeinden werden von oben, aus Rottenburg und Rom, zurück gepfiffen, die EKD verweigert ihre Mitarbeit bei der Einheitsübersetzung der Bibel. Bischof Huber spricht in der Folge von einer Ökumene der Profile, und er mahnt damit eine größere Distanz an, nach dem Motto: "Wenn's enger wird, schau nach dem eigenen." Das Gebot Jesu ist ein anderes. Für die Bemühung um die Einheit gibt es keine Alternative. Und wir, Schwestern und Brüder, dürfen uns nicht irre machen lassen, müssen alle Schritte tun, die möglich sind, aufeinander zu - und vielleicht noch mehr!

5. Diakonisches Handel
Nirgends wird das Funktionieren der Ökumene deutlicher als im Dienst am Nächsten, wo sich ohnehin die Kraft der Entscheidung für Gott unübersehbarer macht als anderswo. Die meisten Bemühungen um Hilfen für Arme und Notleidende, Schwächere in unserem gesellschaftlichen Gefüge machen sich nicht mehr von der Konfession abhängig. Beispielhaft steht dafür das Projekt IBIS, wo sich Christen der Eberhardsgemeinde und von St. Michael zusammen getan haben, um zu Menschen zu besuchen, Eltern zu unterstützen und Schülern auf ihrem Weg ins Berufsleben zur Seite zu stehen. Auch die Aktion Sahnehäubchen und die Werkstatt unterm Kirchturm setzen Signale, daß das Evangelium praktisch Gestalt annehmen muß. Carlo Steeb, dessen 150. Todestag wir vor einigen Tagen begangen haben, weist uns den Weg in dieser Richtung auch in Zukunft; es ist gut, daß wir sein Bild nun auch in unserer Kirche haben (und, wer weiß, vielleicht auch bald noch eine echte Reliquie von ihm).

Liebe Schwestern und Brüder,
Gott will sein Wort in unser Herz schreiben. Schauen wir stets hin, was dort geschrieben steht. Und wenn wir's verstanden haben, dann laßt uns beherzt anpacken.

Amen.