Predigten

 
 

Unerwartet heilig ... diese Familie

Ansprache über Lk 2,41-52 - Fest der heiligen Familie - 30./31.12.2006 in Tübingen und Bühl (Thomas Steiger)


Was für ein ungezogener Bengel, dieser Jesus! Einfach wegzulaufen von den Eltern, von zuhause. Und dann auch noch frech werden. Wie eine Beispielgeschichte aus dem Handbuch der Pubertät liest sich das, was Lukas festgehalten hat. Doch halt: Immerhin wird das von Jesus erzählt. Für ihn gelten doch andere Spielregeln, als für andere Jungs. Bei ihm steckt Gott dahinter; alles folgt einem höheren Plan, auch der Widerstand gegen die festgelegten Pläne der Eltern, der Abnabelungsprozeß, die nötige Auflehnung, das Austarieren von Nähe und Distanz. Tatsächlich?

Das Evangelium bildet, meine ich, in erster Linie einen handfesten Konflikt ab, wie er sich in jeder Familie abspielt. Kinder gehen andere Wege als ihre Eltern. Daran ist zunächst nichts Außergewöhnliches; es bedarf vorläufig keiner religiösen Überhöhung dieses Geschehens. Das Heilige im Fest-Titel "Heilige Familie" müssen wir erst noch suchen. Was Lukas über Jesus aussagt, rückt den heranwachsenden Gottessohn noch einmal ganz weihnachtlich sehr in die Nähe unserer Erfahrung. Er ist Mensch geworden, hat alles angenommen, was auch wir an uns tragen. Beruhigend empfinde ich das in einer gesellschaftlichen Konstellation, wo die Familie in einer tiefgreifenden Krise steckt. Ich will drei Aspekte dazu aufgreifen:

1. Die Diskussion über die Qualität unseres deutschen Schulsystems will nicht abreißen. Und in der Tat lassen sich da Mängel ausmachen, denen abgeholfen werden muß. Allerdings lassen sich gewiß nicht alle Fragen der Erziehung ausschließlich auf die Schule übertragen. Nur in Kooperation mit der Herkunftsfamilie und auf der Grundlage, die ein Kind von dort mitbringt, werden Fortschritte zu erzielen sein.

2. Wir bemängeln in der deutschen Kirche mit gleich bleibendem Ernst, daß immer mehr Kinder ohne religiöse Voraussetzungen aufwachsen. Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 12 und 25 Jahren (wenn sie nicht gerade Ministranten sind) kommen in unseren Gemeinden so gut wie nicht vor. Zweifelsohne hat daran auch die konkrete Gestalt von Kirche ihren Anteil. Aber auch das Leben in den Familien, wo das Glauben eine völlig unterentwickelte Rolle spielt.

3. Um junge Menschen auf den Weg ins Berufsleben vorzubereiten, sind heute zusätzliche Unterstützungssysteme erforderlich, die genau das tun, was früher selbstverständliche Aufgabe in der Familie war: Benimmregeln, äußeres Auftreten, Sozialverhalten, Gespür für Situationen und ein angemessenes Verhalten.


In diesen Schlaglichtern bildet sich ab, was von Familie bislang erwartet wurde. Eben dieser Funktion kommt sie aber aus unterschiedlichen Gründen immer weniger nach, und andere Bereiche des sozialen Systems müssen für sie einspringen. Andererseits haben Kinder und Jugendliche sich von je her die Partner gesucht, die ihrem innersten Bedürfnis entsprachen, die zu den Wegen paßten, die einzuschlagen sie willens waren. Und das waren keinesfalls immer die Eltern. Für mich liegt an dieser Stelle die entscheidende Brücke zu der Frage, was denn eine Familie zur Familie macht und was die Heilige Familie heilig macht. Es ist die innere Freiheit, die ihren Mitgliedern daraus erwächst, daß sie die wesentlichen Fragen ihres Lebens keinesfalls in Abhängigkeit von fremd bestimmten Erwartungen zu treffen haben, sondern im Abgleich mit dem, was sich in ihrem tiefsten Inneren regt. Dies erst einmal heraus zu finden, ist schon schwierig genug, und nicht wenige Jugendliche scheitern an dieser Herausforderung. Dann aber auch noch von sich selbst zu abstrahieren und nach einer höheren Ordnung, einem an mich heran getragenen Willen, einer Bestimmung für mein Leben zu fragen, grenzt an eine Kunst des Lebens, die zumindest gut begleitet sein will.

Der junge Jesus sucht nach den Antworten auf diese Fragen im geistigen Raum, den ihm seine Eltern eröffnet haben, bei Gott. Er sucht sie wohlgemerkt nicht in den Worten seiner Eltern, nicht in der Eindeutigkeit familiären Traditionen, sondern in der inneren Zwiesprache mit sich selbst, wo er Gott zu begegnen hofft. Und eben dies nun ist das Heilige an der Geschichte.
Wußtet ihr nicht, daß ich dem sein muß, was meinem Vater gehört? Wie manche Pubertierende hat der zwölfjährige Jesus einen untrüglichen Sinn dafür, was ihm wichtig ist, was ihm entspricht, was sein Weg ist. Die Ungerührtheit, mit der Jugendliche ihre Prinzipien bisweilen vertreten, wird von den Erwachsenen als arrogant bewertet, und damit nicht selten mißdeutet. Schnell gehen wir Älteren von uns selbst aus, setzen unseren Blickwinkel absolut und verstehen dabei gar nicht, daß es völlig normal, ja notwendig für junge Leute ist, sich auf diese Weise zu positionieren. Wie sollten sie sonst ihren Standpunkt finden, wie selbständig werden und Verantwortung übernehmen - aus eigener Kraft, und auf einem Fundament, das in ihnen selbst ruht, und nicht wie mein Kartenhaus bei nächstbester Gelegenheit zusammenfällt, weil andere ihnen gesagt haben, was für sie richtig und wichtig ist?

Jesus folgt dem Ruf seines Herzens. In ihm sieht er Gott am Werk. So kommt das Heilige in sein Leben hinein; das, was allein Gott dem Menschen offenbaren will. Das alles spielt sich im Tempel in Jerusalem ab, nicht in Nazareth, nicht im Elternhaus. Natürlich sind Maria und Josef für die Grundlagen verantwortlich gewesen. Sie waren unverzichtbar, daß es so weit kommt. Das ist der innere Sinn jeder Familie Dann aber müssen sie loslassen, dem Eigenen des anderen, dem Größeren Raum geben. Wie die meisten Eltern tun sie sich damit schwer, zeigen Unverständnis: Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Als ich den Wunsch geäußert habe, Priester zu werden... Wenn ein 16jähriger trotz guter Leistungen das Gymnasium aufgibt... Wenn ein Mädchen das Kind behalten will, das sie ungeplant erwartet... Wenn ein Junge einen Jungen liebt... Wenn der Sohn den elterlichen Betrieb nicht übernehmen will... Wenn die Tochter so anders denkt und fühlt als das in der Familie von je her üblich war... Dann, ja, dann sollten wir uns überlegen, was unser Familienleben heilig macht. Es sind nicht die überkommenen moralischen Vorstellungen, die ohnehin zumeist mehr von kulturellen Gepflogenheiten geprägt sind, als daß sie den Maßstäben entsprächen, mit denen Jesus seine Anhänger im Evangelium konfrontiert. Heilig macht unser Leben das Hören auf Gott, das Empfinden für seinen Willen und das Befolgen seines ersten und wichtigsten Gebots: ihn und den nächsten zu lieben. Und das, meine ich, würde den Rechten und Pflichten in unseren Familien doch noch einiges abverlangen an Wandel.
Amen.