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Predigt am
24. Dezember 2006 (Heilig Abend - Christvesper) in der Eberhardskirche
(Heinrich Braunschweiger)
Liebe Gemeinde!
Was geschieht, wenn ein Kind entdeckt, dass nicht das Christkind die Geschenke
bringt, sondern die Eltern?
Vielleicht können Sie sich selber noch erinnern.
Eines Tages oder genauer:
Eines Hl. Abends - die Mutter hatte noch gesagt: Niemand darf in der nächsten
Stunde in die gute Stube gehen, denn das Christkind wird sicher bald kommen
und die Geschenke unter den Christbaum legen. Und dem darf man auf keinen
Fall zusehen.
Aber die Neugier war stärker als die Angst. Das Kind schlich sich
an die Wohnzimmertür, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute
durchs Schlüsselloch und sah die Bescherung: der Vater schmückte
den Christbaum und die Mutter packte die Geschenke ein.
Das Wunder war natürlich geworden. Das Kind war über die Schwelle
der Erkenntnis getreten, um es gelehrt zu sagen. Es wusste nun mehr als
vorher und es wusste weniger, wie das an mancher Schwelle der Erkenntnis
zu sein pflegt.
Mir kommt dabei eine andere
Geschichte in den Sinn. Die Geschichte vom Paradiesgarten. Von Adam und
Eva, die im Garten Eden ganz in Einklang mit Gott leben. Denen nichts
zu ihrem Glück fehlt. Und die doch aus Angst, es könnte ihnen
noch etwas fehlen, eine Grenze überschreiten, die Gott zu ihrem Schutz
gezogen hatte.
Und bei dieser Grenzüberschreitung, so erzählt diese Geschichte,
gingen ihnen die Augen auf und sie sahen, dass sie nackt waren.
Auch hier also ein Erkenntnisgewinn und ein Erkenntnisverlust. Und was
für ein Verlust!
Sie sind aus der Einheit mit Gott herausgefallen hinein in eine ziel-
und bodenlose Geschichte. Sie sehen sich jetzt in ihrer ganzen Nacktheit.
Und das ist kein Fall für die Textilbranche, sondern für die
Seelenkunde. Ihre Verletzlichkeit und Bedürftigkeit liegt offen zu
Tage. Sie haben die Gewissheit verloren, dass sie gewollt und geliebt
sind. Dass ihr Dasein einen Grund hat.
Sie flechten sich Schurze aus Feigenblätter. Ein notwendiger und
doch sehr notdürftiger Schutz vor den Blicken des anderen.
Gott entfremdet ist er sich selber fremd geworden, der Mensch. Vertrieben
aus der Welt, wo das Geheimnis wohnt, leben wir nun unter einem Himmel,
der keine Antwort gibt, in einer Welt , die verschlossen ist und in der
scheinbar nur der blinde Zufall und ein willkürliches Schicksal regieren.
Aber: Es ist Weihnachten geworden.
Und d.h.: "Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen
Paradeis; der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob, Ehr und
Preis."
Es ist also Antwort da. Antwort aus höchster Höhe. Das Geheimnis
Gottes ist nicht mehr verborgen hinter himmlischen Mauern. Es hat Fleisch
und Blut angenommen in einem nackten, verletzlichen Menschenkind.
Gott selber zeigt sich in seiner Verletzlichkeit und Bedürftigkeit.
Was aber ist das für eine Macht, die sich so ohnmächtig, so
klein machen kann?
Es ist die Allmacht der Liebe. Es ist das Wesen Gottes. Sein innerster
Glutkern.
Und diese Liebe lehrt uns, das Leben als Geschenk zu nehmen und uns selber
zu betrachten als etwas von Gott Gesegnetes.
Liebe Weihnachtsgemeinde,
wenn wir an diesem Abend einander Gaben als Geschenk verehren, dann eigentlich,
um uns wechselseitig zu sagen, dass wir uns so fühlten und betrachteten
wie ein Geschenk des Himmels, das wir voller Dankbarkeit empfangen.
Kein Mensch kommt auf die Welt
ohne die Frage, ohne das fast unstillbare Bedürfnis, in der Liebe
eines anderen zu hören und zu wissen, dass er mit seinem Dasein etwas
Erwünschtes, geradezu Notwendiges ist.
Nur dann wird er sich selbst wagen und mutig in sein Leben treten.
Eben deswegen betrachten wir das Geheimnis der Heiligen Nacht als den
Anfang unserer Erlösung.
Denn seit den Tagen von Adam und Eva - d.h. von Anfang an ist es keinem
Menschen selbstverständlich, dass er erwünscht, gemocht, geliebt
ist.
Dir muss gesagt sein, dass
du mit deinem kleinen, armen Leben ein Geschenk an diese Welt bist, mit
der Gott deine Mitmenschen segnet.
Nicht der Zufall stand an deiner Wiege und nicht ein willkürliches
Schicksal lenkt deine Schritte.
Du kommst aus dem Geheimnis Gottes. Du bist ein Kind seiner Liebe.
Nicht dein Geld, nicht dein Titel, nicht deine Erfolge und deine Tüchtigkeit
geben dir das Recht auf Dasein und Würde, - das sind nur die Feigenblätter,
hinter denen du deine Angst und deine Verletzlichkeit verbirgst.
Was tust du, wenn die Blätter fallen im Herbst des Lebens und manchmal
schon früher?
Unverlierbar geborgen ist dein Daseinsrecht und deine Menschenwürde
allein im ewigen Ja-Wort Gottes, das dich in diese Welt gerufen hat.
Und auch das Nein des Todes ist diesem Ja der göttlichen Liebe nicht
gewachsen.
Dafür steht das Geheimnis
der Heiligen Nacht. Denn in dieser Nacht hat Gott sein Ja- Wort dem Schoß
einer jungen Frau anvertraut.
Die Mythen der Völker, in denen das Licht mit der Nacht ringt und
die Einheit des Göttlichen und Menschlichen beschworen wird -
Das Suchen der Philosophen nach einem Sinn der Geschichte, nach dem, was
die Welt im Innersten zusammenhält -
Die Träume und Visionen der Propheten, das Hoffen und Sehnen Israels,
-
In dieser Nacht hat Gott all dieses Suchen und Sehnen aufgenommen und
eine Antwort gegeben:
Ich bin da - das war schon der Name, den Mose am brennenden Dornbusch
in der Wüste gehört hatte.
Nun ist er da. Und Gott sagt uns:
Sucht mich nicht mehr in metaphysischen Welten, nicht mehr in euren abstrakten
Gedanken.
Sucht mich auf der Erde. Sucht mich im Antlitz des anderen.
Such mich in den Augen des Menschen, den ich dir an die Seite gegeben
habe.
Genau besehen, liebe Gemeinde, lehrt uns das Geheimnis dieses Abends,
fortan in jedem Menschen ein Wesensabbild Gottes zu sehen. Einander mit
der gleichen Ehrfurcht zu begegnen, mit der in der Ostkirche am Eingang
zum Heiligtum die Gläubigen eine Ikone, ein heiliges Bild, küssen
und berühren, -
wie um allen Staub von ihm zu nehmen und die Reinheit seines Goldglanzhintergrundes
gegen allen Ruß und Schmutz mit der Zärtlichkeit der Hände
und des Mundes hell und sichtbar zu machen.
Ja, der geschichtliche Mensch
ist die verrußte, verschmutzte Ikone Gottes. An Weihnachten ist
Gott in den Schacht der Geschichte gestiegen, um sie zu reinigen, die
Seelenikone, um ihr den ursprünglichen Glanz wiederzugeben.
"Ich bin gekommen, die
Welt zu retten - nicht sie zu richten", sagt der ewige Sohn, die
reine Ikone Gottes. Und wer retten will, der lässt sich ein auf die
Wirklichkeit wie sie ist. Gott hat nicht gesagt: "Räumt erst
einmal auf, bevor ich komme. Wascht euch erst einmal die Hände, ehe
ihr mich begrüßt. Legt erst die Messer weg, ehe ihr mir die
Tür aufmacht."
Nein, er kommt zu uns, so wie wir sind:
mit unseren Tränen und mit unseren Schmerzen;
mit allem Hunger nach Brot und mit allem Hunger nach Geborgenheit;
mit allen Geständnissen der Liebe und mit allen Flüchen der
Verbitterung;
mit allem Wunderbaren, was Menschen erdacht und geschaffen haben -
und mit allem, was Menschen kaputtgemacht haben in anderen und auf diesem
Stern;
aber auch mit allem, was Menschen einander geschenkt haben an Vertrauen
und Verständnis, an Toleranz und Geduld.
Das ist heute Abend die Botschaft:
Gott ist da und kommt zu dir, o Mensch, aber sein Kommen hört bei
dir nicht auf. Die Menschwerdung Gottes will sich fortsetzen in dir, indem
du seine Liebe weitergibst, d.h. seine Freude, die er an dir hat; sein
Vertrauen, das er zu dir hat; seine Geduld mit dir.
Wenn doch jede und jeder von uns das glauben wollte: Gott hat Freude an
mir. Er hat Geduld mit mir. Er vertraut mir immer noch.
Dann ist das Wunder von Weihnachten an uns geschehen.
Und einstens wird uns der ewige Sohn abholen in Gottes Weihnachtszimmer,
in seinen paradiesischen Glanz, in seine Freude, die kein Ende hat.
Amen
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