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Fortschritt heißt: zurück zu Gott!
Predigt über Jer 8,4-7
Ökumenischer Gottesdienst am 18.11.2001 - 10 Uhr
in der Ev. Nikomedeskirche Weilheim
Haben Sie ein gutes Gedächtnis?
Wenn Sie JA sagen, dann gehören Sie zu einer verschwindenden Minderheit
rühmlicher Ausnahmen, oder aber Sie schwindeln - Entschuldigung!
Sagen Sie NEIN, dann bleibt Ihnen meine Predigt heute trotzdem nicht
erspart, und ich hoffe, wenigstens für dieses Mal geht die Amnesie
an Ihnen vorüber. Freilich spreche ich nicht vom schlechten Merken
beim Vokabellernen, nicht auch von den Tücken des Kurzzeitgedächtnisses
im Alter, überhaupt nicht von der Speicherkapazität unserer
grauen Zellen. Es geht mir um das Erinnerungsvermögen, das in die
Tiefe geht, um die Fähigkeit, sich Ereignisse, Bilder, Worte zu
behalten, die uns verändern: die Lebenseinstellung, das Denken,
den Glauben, mein Gottesbild. Darum geht es mir: um ein gutes Gedächtnis,
das Sie und ich zum Überleben brauchen, zum besser-Sein als bisher,
also: um Fortschritte zu machen, und zwar in einem ganz anderen Sinne
als wir das gewohnt sind zu verstehen. Nicht nämlich als Steigerung
des Bruttosozialprodukts, als Anhäufung von Wissen oder Macht,
sondern um einen Fortschritt, der unsere Welt, die große des ganzen
Planeten und die kleine unserer Biographie voranbringt. Es geht mir,
noch einmal, um das dauerhafte Einverleiben von Widerfahrnissen/Erfahrungen/Ereignissen
- auf eine Art und Weise, die die englische Sprache viel treffender
ausdrückt, by heart sagt sie dazu, mit dem Herzen. Dort muß
das wirklich Wichtige sich festsetzen, das, was nicht mehr unter den
Tisch fallen darf, so wir denn nicht ständig bei null anfangen
wollen, wieder und wieder hinter das Erreichte oder, was viel gefährlicher
ist, hinter das Durchlittene zurückfallen wollen.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
schmerzlich ist mir unlängst ein Gedankenblitz in die Glieder gefahren
- wohl aus einer momentanen Frustration heraus, gewiß jedoch nicht
unbegründet -, daß unsere Welt sich gar nicht zum Guten entwickelt.
In vieler Hinsicht sieht es vielmehr so aus, als würden wir Rückschritte
machen; und das, obwohl unzählbare Menschen daran arbeiten zu helfen,
zu heilen, zu schützen, zu bewahren. Die Regierungen schreiben sich
das Wohl des Volkes auf ihre Fahnen, die Christen und die mit anderen
Mitteln an Gott Glaubenden entwickeln Strategien der Liebe. Nie waren
die technischen Fertigkeiten der Menschheit größer als heute.
Und was bekommen wir zu sehen:
- Terrorismus und Krieg zwischen Völkern und Religionen aus Verblendung
und Rache,
- die heraufziehende Klimakatastrophe,
- eine immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich
zwischen Süd und Nord und genauso im eigenen deutschen Land,
- die Gefahr, daß nur die schönsten und besten das Recht behalten
sich fortzupflanzen, genetisch "geläutert".
Die Symptome sind uns doch allen wohl bekannt. Wir sehen und hören
die Meldungen im Fernsehen, per Mausklick, aber: Sie erreichen nicht unser
Herz. Wir behalten sie eben nicht by heart! Ja, wir tun so, als gingen
sie uns im letzten gar nichts an. Und das, obwohl wir doch die allermeisten
Erfahrungen bereits durchlaufen haben.
Du sollst zu ihnen sagen:
So spricht der Herr:
Wer hinfällt, steht der nicht wieder auf?
Wer vom Weg abkommt, kehrt der nicht wieder zurück?
Warum wendet dieses Volk sich ab
und beharrt auf der Abkehr?
Warum hält es am Irrtum fest, weigert sich umzukehren?
Ich horche hin und höre:
Schlechtes reden sie,
keiner bereut sein böses Tun und sagt: Was habe ich getan?
Jeder wendet sich ab und läuft weg,
schnell wie ein Roß, das im Kampf dahinstürmt.
Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten;
Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr
ein;
mein Volk aber kennt nicht die Rechtsordnung des Herrn.
Jer 8,4-7
Liebe Brüder und Schwestern,
Banalitäten werden hier angeführt, bei Jeremia, dem anklagenden
Propheten, dem der eben gelesene Predigttext für diesen vorletzten
Sonntag im Kirchenjahr entstammt - damals Jerusalem, heute uns ins Herz
geschrieben. Was soll die Fragerei, möchten wir zurückfragen:
Natürlich steht der wieder auf, der hingefallen ist, und wer sich
verlaufen hat, will auf den richtigen Weg zurückkehren! Jeremia
bezweifelt nicht das Wollen. Aber das Vollbringen, die Umsetzung in
die Tat, das Lernen aus Fehlern überzieht er vehement mit schroffer
Skepsis. Sein Ansatzpunkt der Kritik ist eben jene vermeintlich unheilbare
Vergeßlichkeit der Menschennatur, die langsam, aber geradewegs
aufs Verderben, zumindest, für ein Menschenleben nachvollziehbar,
auf den Rückschritt zusteuert, anstatt auf das viel beschworene
Vorankommen.
Jeremia benennt auch den Grund: Sie haben Gott vergessen. An ihn, JHWH,
den Herrn, erinnern sie sich nicht mehr, seine Rechtsordnung und Vorschriften
haben sie aus ihrem Gedächtnis getilgt. Die Folge davon sind: Irrtum,
Unwahrheit, schlechtes Gerede, böses Tun. Wer sich nicht mehr mit
Gott Verbindung bringt, sein Leben nicht mehr im Horizont des Schöpfers
sieht, der fragt auch nicht mehr: Was habe ich getan?, so wörtlich
Jeremia, der lebt in den Tag hinein, haltlos, erinnerungslos, der verlernt,
daß es Falsches gibt und Schuld. Um dem zu entgehen, flieht der
Mensch, vor sich selbst, vor anderen, vor Gott. Jeremia: Jeder wendet
sich ab und läuft weg, schnell wie ein Roß, das im Kampf
dahinstürmt.
Fluchtverhältnisse gibt es zuhauf: Alkohol und Drogen, das Verdrängen
unserer Sterblichkeit, eine Gleichgültigkeit allem Sinn und jeder
Form von Verständigung gegenüber, den schönen Schein.
Dort muß keiner ICH sagen, die Wirklichkeit wird verschleiert,
das Gewissen spielt keine Rolle. Gedächtnis und Schuldfähigkeit
hängen miteinander zusammen: Wer sich nicht erinnern kann, mag
zwar verurteilt werden, Einsicht erlangt der Betreffende trotzdem nicht.
Liebe Schwestern und Brüder,
nun könnte einer zurecht den Einwand vorbringen, zu einem Fortschritt
der Menschheit bedürfe es keines Gottes. Und die negativen Stationen
der Weltgeschichte gäben ihm sogar recht. Allerdings sollten wir
auch hier nicht die aus Egoismus hervorgegangenen Fehlleistungen mit
einer echten Hinordnung auf Gott verwechseln. Der Prophet Jeremia bringt
die Probleme seiner Zeit unmittelbar mit der Abkehr des glaubenden Menschen
von seinem Gott zusammen. Wer sein Leben und seine Welt nicht mit den
Augen Gottes betrachten lernt, der wird nicht weiter kommen. Deshalb
lautet der Kern seines Aufrufs: Zurück zu Gott!
Ob es heutzutage andere Orientierungswege gibt, die uns helfen könnten,
voran zu kommen, die Welt bewohnbarer zu machen? Es scheint eher nicht
so. Die Politik hat offenbar nichts Konzeptionelles anzubieten, jedenfalls
zerfleischt sie sich in Grabenkämpfen anstatt Visionen zu entwickeln.
Gelernt hat sie scheinbar weitgehend nichts aus der Geschichte, aus
eigenen Erfahrungen. Sonst wäre es kaum denkbar mit der Durchhalteparole
einer "uneingeschränkten Solidarität" als deutsches
Volk sich an einem Krieg zu beteiligen. Solche Totalität, solche
absolute Gefolgschaft kann ich keinem Menschen versprechen, nur Gott
allein. Ich bin davon überzeugt, daß einzig dieser Gottes-Horizont,
so denn ein Mensch sich in ihn eingebunden weiß, und mit dem einzelnen
die vielen, die gemeinsam weiterkommen wollen, daß allein die
Erinnerung an Gott uns rettend helfen kann, unsere Berufung/Bestimmung
nicht zu vergessen. Was Jeremia Rechtsordnung des Herrn nennt, ist ja
kein starres Gefüge aus Einzelvorschriften, sondern es ist die
Grundordnung, daß ich für mich selbst nicht das Maß
aller Dinge bin, daß wir als Deutsche es nicht sind, daß
wir vielmehr alle zusammen gehören und zusammenhängen, schicksalhaft,
die ganze Menschheit. Was der eine vergißt, hat notwendig Konsequenzen
für den anderen. Wer immer wieder den gleichen Fehler macht, im
Denken oder Handeln, schadet dem Fortschritt in unserer Welt.
Was also hindert uns letztlich
daran, liebe Schwestern und Brüder, aus der Geschichte zu lernen?
Was macht es offensichtlich unmöglich, unser Erinnerungsvermögen
einzusetzen? Ich meine, es fehlt uns so etwas wie das kollektive, das
gemeinsame Gedächtnis, eine Verbindung aus den eigenen Erfahrungen
mit denen anderer. Der Egoismus, diese in der Natur des Menschen so
felsenfest verankerte Ursünde, hindert uns daran, zu teilen, wie
den materiellen Besitz, so auch die geistige, womöglich die geistliche
Kapazität. Statt dessen wurstelt jeder vor sich hin: Der Biologe
will vom Theologen nichts wissen, der Deutsche interessiert sich nicht
wirklich für den polnischen Nachbarn. Dabei hätten wir uns
so viel zu erzählen:
- vom glücklichen
Leben der alten Frau, die bettlägerig noch ihr Leben geliebt hat,
und andere mit ihrer Güte beschenkte
- von den grausamen Erfahrungen des sog. III. Reichs (àheute:
Volkstrauertagà Nie mehr!)
- von boshaften Anfeindungen der Konfessionen bis vor einigen Jahren,
die uns von Gott entfernt haben
- von der eigenen Armut, die wir mit Hilfe anderer überwunden haben
- von den Gefahren einer übersteigerten Wissenschaftsgläubigkeit
- von den Wundern, die Gott wirkt, wenn er einen mit der Gabe beschenkt,
andere zu trösten.
Unsere Religion, wie die
jüdische, ist in ihrem tiefsten Wesen eine Gedächtniskultur.
Die Bibel will gelesen und weitererzählt werden. Bevor einer aufschrieb,
hat die Offenbarung Gottes so ihren Lauf genommen. Und Sonntag für
Sonntag kommen die Christen zusammen, um sich zu erinnern, was Gottes
Plan und Bestimmung für unsere Welt, nein, exakter, für jeden
einzelnen Menschen ist. Daran müssen wir festhalten: Nicht aus
religiösem Eigennutz, sondern weil wir davon überzeugt sein
müssen, daß dieses Nicht-Vergessen dabei hilft, unsere Welt
insgesamt voran zu bringen.
Liebe Schwestern, liebe Brüder, wir erinnern uns heute am Sonntag
daran, daß Gott mit Jesus, seinem Sohn, den Tod in der Welt besiegt
hat. Wenn wir diese Erinnerung ernst nehmen, sie nicht theoretisch behandeln,
sondern als Wahrheit für mich und für Dich, dann müssen
wir endlich lernen, das Tödliche nicht mehr zu wiederholen, wo
es in unserer Macht steht.
Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten;
Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr
ein;
Es ist Zeit für uns, für uns alle, und wir wissen es.
Amen.
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