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Predigt in
der Eberhardskirche zu Lukas 9,10-17 am Sonntag, den ... 2007 (Heinrich
Braunschweiger)
Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große
Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich, und er zog sich mit ihnen
allein in die Stadt zurück, die heißt Betsaida.
Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er ließ sie zu sich
und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung
bedurften.
Aber der Tag fing an, sich zu neigen.
Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Lass das Volk gehen, damit
sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und
Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste.
Er aber sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben
nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, dass wir
hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen.
Denn es waren etwa fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern:
Lasst sie sich setzen in Gruppen zu je fünfzig.
Und sie taten das und ließen alle sich setzen.
Da nahm er die fünf Brote und die zwei Fische und sah auf zum Himmel
und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk
austeilten.
Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was
sie an Brocken übrig ließen, zwölf Körbe voll.
Liebe Gemeinde!
Der letzte Vers ist für mich der schönste in dieser schönen
und wundersamen Geschichte:
"Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt,
was sie an Brocken übrig ließen, zwölf Körbe voll."
Wenn man das doch von allen Menschen auf dieser Erde sagen könnte:
"Sie aßen und wurden alle satt." Manche von uns Älteren
haben vielleicht noch geschmeckt, was das heißt, zu hungern, weil
die Tagesration eine Brotscheibe oder zwei Kartoffeln war.
Das andere aber ist uns allen vertraut: der Überfluss. Hier sind
es 12 Körbe voll, die noch nach der Mahlzeit gesammelt wurden. Was
soll denn diese Notiz am Ende dieser schönen Geschichte? Soll das
heißen: Nichts blieb liegen auf dem Rastplatz? Nichts soll verkommen?
Wenige Kapitel zuvor erzählt
der Evangelist davon, dass Jesus gefragt wurde, warum seine Jünger
im Gegensatz zu den Jüngern der Pharisäer und Schriftgelehrten
nicht fasten, sondern festen, also feste essen und trinken. Da antwortet
Jesus:
"Ihr könnt die Hochzeitsgäste nicht fasten lassen, solange
der Bräutigam bei ihnen ist."
Liebe Gemeinde,
wenn Jesus da ist, dann ist Hochzeit. Wenn Gott sein Volk besucht ist
hohe Zeit. Und jeder weiß, wenn ein Fest gefeiert wird, dann gibt
es ein Festessen, bei dem sich die Tische biegen ob der Fülle der
Köstlichkeiten. Und am Ende bleibt immer noch vieles davon übrig.
Denn zum Feiern gehört die Verschwendung, und zum Festessen gehört
der Überfluss.
"Und es wurde aufgesammelt, was sie an Brocken übrig ließen,
zwölf Körbe voll."
Diese 12 Körbe voller Brocken waren also keine Reste, sondern sie
weisen hin auf die Fülle im Reiche Gottes, von dem wir schon in der
Schriftlesung aus dem Jesajabuch hörten:
"Und der HERR wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes
Mahl machen, ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin
keine Hefe ist."
Das ist die Vision von einer Zeit, in der der verborgene und so fern scheinende
Gott ganz nah und offenbar ist. Wo er, wie es im letzten Buch der Bibel
heißt, mitten unter den Menschen wohnen wird. Wo die bitteren Tränen
der Enttäuschten und Geschlagenen getrocknet werden. Wo nicht mehr
Leid, sondern nur Freude, nicht mehr Hunger, sondern die Fülle sein
wird.
Fülle, erfülltes Leben. Wo Leib und Seele und Geist nicht mehr
hungern müssen, sondern satt werden am Bilde Gottes, wie es
in Psalm 17 heißt.
Und unsere Geschichte sagt:
Mit Jesus, dem Christus, ist diese Zeit schon gekommen, ist die Ewigkeit
in die Zeit eingebrochen. Das aber wurde erst offenbar an Ostern. Ostern
ist das Siegel, ist die Beglaubigung dieser Vision. Und darum ist diese
Speisungsgeschichte eine österliche Geschichte. Und die 12 Körbe
stehen nicht für eine Resteverwertung, sondern für die nie mehr
endende österliche Speise, für das fette Mahl, das der Prophet
Jesaja schon schauen durfte.
Doch lesen wir nun diese Geschichte,
die eine österliche ist, von Anfang an.
Jesus hatte die 12 Apostel ausgesandt, das zu tun, was er selber tat:
zu predigen von Gottes Barmherzigkeit und Liebe und von der Freiheit der
Gotteskinder. Und er gab ihnen Macht über alle Geister und dass sie
Krankheiten heilen konnten -, so lesen wir bei Lukas ein paar Verse zuvor.
Und nun kommen die Apostel also von ihrem Missionseinsatz zurück
und erzählen, "wie große Dinge sie getan haben".
Was das für "große Dinge" waren, wird nicht erzählt.
Vielleicht, damit die Hörer und Leser seines Evangeliums ihre eigenen
Erfahrungen da eintragen und erzählen können.
Aber, liebe Gemeinde, was könnten wir schon erzählen? Und dann
noch von "großen Dingen" in Sachen Kirche und Missionseinsatz!
Da ist z. Zt. eher von großen Problemen zu erzählen, von der
Entkirchlichung und Entchristianisierung Europas. Und davon, dass der
Papst in Rom aus lauter Angst vor dieser Entwicklung meint, seine römisch
katholische Kirche nur mit dem Geist des Mittelalters noch einigermaßen
zusammenhalten zu können.
Bei uns Protestanten sieht er zu viel Aufklärung und zu viel Verweltlichung.
Darum meint er, seine Kirche immer wieder gegen die evangelischen Kirchen
abgrenzen zu müssen.
Aber Furcht ist nicht in der Liebe, heißt es im 1. Johannesbrief.
Und der Geist Gottes lässt sich in kirchlichen Strukturen, auch wenn
sie sich katholisch und apostolisch nennen, nicht einfangen.
Aber vielleicht geschehen die
"großen Dinge" in Sachen Evangelium und Reich Gottes eher
im Verborgenen. Vielleicht hätte die eine oder der andere unter uns
durchaus von etwas Großem zu erzählen. Wie auch immer!
Jedenfalls scheinen die zurückgekehrten
Apostel von ihrem Einsatz sehr mitgenommen zu sein. Deshalb nimmt Jesus
sie zu sich und zieht sich mit ihnen in die Kur- und See-Stadt Betsaida
zurück.
Aber die Menge gibt keine Ruhe. Sie folgen ihm. Ihre Sehnsucht ist groß.
Ihre Seelen hungern nach Sinn und nach Trost.
Und Jesus lässt sie zu sich. Beim Evangelisten Markus heißt
es an dieser Stelle: "Und Jesus sah die große Menge;
und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.
Und er fing eine lange Predigt an."
Was hat er ihnen wohl gesagt? Welche Botschaft mag der Wind wohl zu der
Menge getragen haben?
Ich könnte mir denken, Jesus hat von den großen Verheißungen
gesprochen, von der neuen Welt Gottes.
"Schwestern, Brüder", sagt er, "ich sehe
eure grauen Gesichter in der Morgensonne.
Ihr seid gezeichnet von Sorge und Mühe, von Zweifel und Vergeblichkeit.
Ich sehe euer Leid, eure leeren Herzen, die Fülle der Probleme, die
euch erschlagen.
In euren Augen steht die Frage nach dem Sinn eures Daseins.
Und ich sage euch: Alles, was euch widerfährt, es hat seinen verborgenen
Sinn.
Der Sinn der Sinnlosigkeit ist dieser: diese Welt ist im Gehen und die
neue Welt ist im Kommen. Ihr lebt im Übergang. In der alten Welt
seid ihr die Verlierer. Aber ihr seid die Anwärter der Zukunft.
Die Satten haben ihren Lohn schon gehabt. Sie erwarten nichts mehr von
der Zukunft. Die Sehnsüchtigen brechen auf, das Leben zu finden und
zu feiern.
Ihr seid schon aufgebrochen. Ihr seid ja hier, vor mir an dieser Stätte.
Und euer himmlischer Vater wird euch das Reich der Fülle vermachen,
wie er es mir vermacht hat."
So könnt er vielleicht gepredigt haben.
Und darüber ist es schon spät geworden. "Der Tag fing an,
sich zu neigen."
Und der Ort, wo Jesus gepredigt hat, ist karges Land. Vielleicht war Regenzeit.
Dann konnten sich die Leute wenigstens im Gras bequem machen.
Aber nachdem nun die Seele der Menschen Nahrung bekommen hat, knurrt der
Magen. Die Menge hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Sie ist hungrig.
Die Jünger schätzen die Lage völlig richtig ein. Sie machen
den Vorschlag, die Leute in die umliegenden Dörfer und Gehöfte
zu schicken, damit sie sich dort mit Lebensmittel eindecken können.
Die Seele braucht Nahrung. Der Leib aber auch. Für die Seele ist
Jesus zuständig. Um den Leib müssen sich die Leute selber kümmern.
Beides muss man sauber trennen. So jedenfalls denken die Jünger.
Und so haben Christen und Theologen im Laufe der Kirchengeschichte immer
wieder gedacht. Letztlich rührt von diesem Denken auch die moderne
Isolation des Glaubens vom Leben. Die Reduzierung der biblischen Botschaft
vom Reich Gottes, von der Freiheit eines Christenmenschen, vom Recht und
Frieden der neuen Welt auf das private Seelenheil.
Als ob Gott nur für die Seele zuständig wäre, als ob er
nicht als der Schöpfer auch der Erhalter und Ernährer der Menschen
und seiner Geschöpfe wäre.
Aber Jesus macht diese saubere
Trennung nicht mit. "Gebt ihr ihnen zu essen", sagt er zu seinen
Jüngern. Damit hat sich dieser bequeme Weg der Aufspaltung der Wirklichkeit
erledigt. Der Mensch ist der Mensch Gottes in allen Bereichen.
Und die Jünger glauben, das auch verstanden zu haben. Sie sind also
auch dafür verantwortlich, dass die Massen nicht hungern.
Und sie haben als versierte Praktiker auch schnell eine Lösung.
Wenn die Massen nicht weggeschickt werden dürfen, muss etwas vor
Ort organisiert werden. Zunächst muss man über den Daumen peilen,
wie viel Leute etwa überhaupt da sind; muss ausrechnen, wie viel
Brote man braucht, muss kalkulieren, was diese Brote kosten. Und dann
müssen sofort sämtliche Jünger sich auf die Beine machen,
um einzukaufen.
Beim Evangelisten Markus wird sogar der Betrag genannt, was die Verköstigung
kosten würde: 200 Denare. Die jüdische Rechsprechung hat als
Tagesbedarf für einen Armen ein Zwölftel Denar errechnet. 200
Denare bringen also 2400 Tagesrationen oder 4800 Halbtagesrationen. Das
kommt für 5000 hungrige Mäuler knapp hin.
Im Kopfrechnen sind die Jünger also phantastisch.
Und im Rechnen und Organisieren
waren und sind auch die Kirchen bis heute gut. Im neuesten EKD-Papier
"Kirche der Freiheit" sind einige der Rechner allerdings
so gut, dass sie dabei den Hl. Geist nicht mit gerechnet haben. Und der
wäre doch bei einer Kirche der Freiheit der wichtigste Teilnehmer,
bzw. Teilgeber.
Aber wir wollen die Jünger Jesu, auch die kirchlichen Organisatoren
nicht für ihr Talent nur schelten. Im Gegenteil!
Mit großem Talent und großem Eifer sind die Kirchen der Not
der Welt inzwischen auf den Leib gerückt. Sie haben begriffen, dass
sie den Armen nicht nur das Evangelium, sondern auch Brot geben muss.
Wir erleben in diesen Jahrzehnten, wie die großen kirchlichen Hilfswerke
in beeindruckender Weise Hilfe für die Hungernden organisieren. Der
zweite Lösungs-vorschlag der Jünger von damals ist inzwischen
in den Kirchen zum gängigen Modell geworden, Brot für die Welt
zu beschaffen.
Aber mir gibt jene Szene aus Dostojewskis Roman "Die Brüder
Karamasow" sehr zu denken. Jesus ist wieder auf die Erde zurückgekehrt
und lehrt die Massen. Und sie laufen ihm nach, wie damals am galiläischen
See. Das wird dem zuständigen Kirchenmann, dem Großinquisitor
zu gefährlich. Die Kirche hat doch alles im Griff. Die Armen werden
gespeist. Und die Liturgie wird gelesen. Ist doch alles bestens organisiert.
Dieser Jesus stört hier nur. Und er sperrt ihn ins Gefängnis.
Und in einem ungeheuer eindrücklichen, aber auch erschreckenden Rede
des Großinquisitors, bei der Jesus nur schweigt, macht jener ihm
deutlich: dass die Kirche die Taten Jesu nur verbessert hat; Freiheit
brauchen die Menschen am wenigsten. Ihnen reicht das Brot und bescheidenes
Glück. Dafür wird die Kirche sorgen. Am Schluss dieser ungeheuren
Szene heißt es: "Jesus nähert sich schweigend dem Greis
und küsst ihn still auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen.
Das ist seine Antwort. Der Greis zuckt zusammen, dann geht er zur Tür,
öffnet sie und sagt zu Ihm: Geh und komm nicht wieder
komm
nie, nie mehr wieder
niemals, niemals!'"
Ja, die Kirchen organisieren
viel Gutes. Aber was ist, wenn Christus nicht dabei ist? Wenn er sozusagen
wegorganisiert oder wegrationalisiert wird?
Eines ist jedenfalls sicher: Das Reich Gottes, das Reich des Friedens
und der Gerechtigkeit kommt nicht per menschlicher Rationalisierung und
Organisation. Es kommt und wird Wirklichkeit, wo Christus nicht fortgeschickt,
sondern reingebeten wird. Und wo sein Geist ist, da ist Freiheit.
Und da geschieht Wunderbares. Da wandelt sich die Welt. Da wird sie neu.
Aber, liebe Gemeinde, wo um
Himmels Willen wird sie denn neu? Wo geschieht denn die Verwandlung dieser
von Hunger und Not, von Katastrophen, von Kriegen und Krankheit, von zerbrochener
Herzen und zerstörter Existenzen gezeichneten Welt?
Ist hier in Tübingen vielleicht
etwas zu sehen, zu spüren?
Nun, ich denke: die sichtbare, umfassende, globalisierte Umwälzung,
die globale Revolution Gottes - das ist ein endzeitliches Ereignis. Das
findet nicht in der Geschichte statt. Das ist das Ende der Geschichte.
Aber dass davon da und dort und auch bei uns hier in der Tübinger
Südstadt jetzt schon etwas aufleuchtet, nämlich da, wo der Gekreuzigte
und Auferstandene hereingebeten wird - , das geschieht vermutlich täglich;
aber da es anders als z.B. die Demonstration von Jungnazis kein Aufsehen
erregt, findet es in den Nachrichten der Medien keine Aufmerksamkeit.
Ein einziger Baum, der gefällt wird, macht um vieles mehr Lärm,
als ein ganzer Wald, der wächst - so lautet ein chinesisches
Sprichwort. Und so ist es mit dem Kommen des Reiches Gottes auch.
Das Reich Gottes bricht sich in jedem Menschen Bahn, der durch den Geist
Christi aus inneren oder äußeren Zwängen befreit, wieder
Raum zum Atmen hat.
Unsere Aufgabe, liebe Gemeinde, ist es, den Weg des Christus zu uns offen
zu halten. Dafür zu sorgen, dass Er das Zentrum unserer Gemeinde
bleibt.
In unserer österlichen
Geschichte ist und bleibt Jesus jedenfalls das Zentrum.
Und er lässt das Volk sich lagern.
Und nun heißt es: "Da nahm er die fünf Brote und die
2 Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den
Jüngern, damit sie dem Volk austeilten. Und sie aßen und wurden
alle satt."
Amen
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