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Jubiläum
10 Jahre Kirch am Eck, 6.7.2008
Predigt
über Ex 16, 11-18
(Beate
Schröder)
Liebe Festgemeinde!
Es ist mehr als 10 Jahre
her, dass Menschen aus allen Teilen der Stadt Tübingen hierher
gezogen sind. Hier auf dem ehemaligen Gelände der Hindenburgkaserne
wurden sie ansässig. Kasernengelände - 1938 für den verheerenden
Weltkrieg erbaut. Die Bilder unserer kleinen Ausstellung drinnen in
der Kirch am Eck zeigen, wie es damals hier aussah, nachdem das französische
Militär abgezogen war: wüst und leer. Ohne Menschen, ohne
Bäume... Das Betongrau der Militärgebäude bestimmte die
Atmosphäre.
Es war ein bunter Haufen, der sich ins Hindenburgareal aufmachte: Leute
in Bauwagen, Händler wie Ivo Lavetti, Künstler wie Frido Hohberger
- Pioniere - Handwerker, Studierende, Männer, Frauen und viele,
viele Kinder... Sie brachten Leben und Farbe ins Viertel.
Auch wir als Kirchengemeinden
der Südstadt sind damals mitgezogen. St. Michael aus der Hechinger
Straße, die Eberhardsgemeinde aus dem Wennfelder Garten, wo wir
schon ein kleines Gemeindehaus hatten.
Auszug, Exodus - so heißt ein Buch in der Bibel, das zweite Buch
Mose. Es erzählt von einem ähnlich bunten Haufen, der auszog
aus der Knechtschaft in Ägypten, aus der Unterdrückung durch
den Pharao und seine Helfershelfer ins Gelobte Land, in ein Land, wo
Milch und Honig fließt. Kleine und Große, Alte und Junge,
Sklaven und Freie, Männer und Frauen und viele, viele Kinder.
Der Pharao wollte sie zunächst nicht ziehen lassen. Er wollte seine
billigen Arbeitskräfte nicht verlieren. Er setzte ihnen nach mit
eisernen Kriegswagen. Doch die Israeliten konnten entkommen. Nicht die
Flüchtlinge waren es, die im Meer ertranken, sondern die Verfolger
und Unterdrücker. Die Flüchtlinge erreichten trockenen Fußes
das rettende Ufer.
(Da nahm die Prophetin Mirjam die Pauke in die Hand. Sie wusste, wem
sie diese Rettung zu verdanken hatte: "Singt dem Herrn ein Lied,
denn er ist hoch erhaben. Ross und Wagen warf er ins Meer."
So sang sie und alle Frauen zogen hinter ihr her.) Ein aufregender,
ein verwegener Zug in die Freiheit war das!
Die Israeliten sind frei!
Doch wie lebt es sich in dieser Freiheit und mit dieser Freiheit, liebe
Gemeinde?
Die biblische Überlieferung ist ehrlich und realistisch genug,
dass sie jetzt nicht abblendet, sondern weitererzählt von der Wüste
und "den Schwierigkeiten der Ebene" (Berthold Brecht): Wir
hören davon im 16. Kapitel des 2. Buches Mose:
Ex 16, 2-3+11-18
"Es war der fünfzehnte Tag des zweiten Monats nach ihrem
Auszug aus Ägypten.
2 Die ganze Gemeinde der Israeliten murrte in der Wüste gegen Mose
und Aaron.
3 Die Israeliten sagten zu ihnen: Wären wir doch in Ägypten
durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen
saßen und Brot genug zu essen hatten. Ihr habt uns nur deshalb
in diese Wüste geführt, um alle, die hier versammelt sind,
an Hunger sterben zu lassen.
Liebe Gemeinde!
Es war noch nie leicht, in Freiheit zu leben und Freiheit auszuhalten.
Der Blick zurück verkommt allzu schnell zur Nostalgie. Die Vergangenheit,
selbst die Sklaverei, erscheint als erstrebenswerte Idylle. Genug zu
essen hatten sie ja - ohne Zweifel - damals in Ägypten: Fische,
Melonen, Kürbisse, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch. So erzählt
die Bibel (4.Mose). Und je mehr sie sich die Leckereien ausmalten, je
mehr ihnen das Wasser im Mund zusammenlief, desto lauter knurrte der
leere Magen. Und wer ist Schuld, dass sie jetzt hier in der Wüste
hungern müssen?? Natürlich die Anführer - Mose und Aaron.
Schuld sind die, die Initiative ergreifen und Verantwortung übernehmen.
Nie die Mitläufer: Die wissen, wie man sich geschickt im Hintergrund
hält und nicht auffällt. Schuld sind für sie immer die
Anderen.
Liebe Festgemeinde,
jeder und jede, die oder der einmal aufgebrochen ist, kennt diese Mühen
der Ebene, kennt die Wüstenzeit. Sich in der Gruppe zusammenraufen.
Bei allen verschiedenen, auch konträren Interessen - das ist mühsam,
das führt nicht selten zu Streit. Doch man ist aufeinander angewiesen.
Es gibt keinen Weg zurück.
Das kennen auch alle, die sich in einer Baugruppe auf ein Konzept für
ein gemeinsames Gebäude einigen mussten.
Das kennen auch wir von Eberhard und St. Michael in der Entwicklung
der Kirch am Eck. Wir mussten uns verständigen.
Wie groß sollen die Tische sein, welche Farbe sollen die Stühle
haben? Wie können wir gemeinsam ökumenisch Gottesdienst feiern?
Welche Gruppen sollen Platz finden in den neuen Räumen?
Nicht eine Kathedrale im Zentrum des Viertels ist entstanden, eher eine
Hütte am Rande. Eine Kirch am Eck, die den beiden Gemeinden an
einem Tag wie heute nicht einmal genug Raum bietet. Eine Hütte
für "Kirche bei Gelegenheit".
Wir haben uns zusammengerauft. 10 Jahre sind seither vergangen. Sehnen
wir uns auch manchmal zurück wie die hungrigen Israeliten?
Lassen Sie uns hören, wie die Geschichte im Buch Exodus weiterging.
Sie kann uns Mut machen.
Gott lässt Mose und Aaron nicht allein. Er setzt sie nicht dem
Volkszorn aus. Und er lässt auch das Volk Israel nicht allein.
Er weiß: Zuerst kommt das Essen, dann kommt die Moral.
11 Der Herr sprach zu Mose:
12 Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sag ihnen: Am Abend
werdet ihr Fleisch zu essen haben, am Morgen werdet ihr satt sein von
Brot und ihr werdet erkennen, dass ich der Herr, euer Gott, bin.
13 Am Abend kamen die Wachteln und bedeckten das Lager. Am Morgen lag
eine Schicht von Tau rings um das Lager.
14 Als sich die Tauschicht gehoben hatte, lag auf dem Wüstenboden
etwas Feines, Knuspriges, fein wie Reif, auf der Erde.
15 Als das die Israeliten sahen, sagten sie zueinander: Was ist das?
Denn sie wussten nicht, was es war. Da sagte Mose zu ihnen: Das ist
das Brot, das der Herr euch zu essen gibt.
16 Das ordnet der Herr an: Sammelt davon so viel, wie jeder zum Essen
braucht, ein Gomer je Kopf. Jeder darf so viel Gomer holen, wie Personen
im Zelt sind.
17 Die Israeliten taten es und sammelten ein, der eine viel, der andere
wenig.
18 Als sie die Gomer zählten, hatte keiner, der viel gesammelt
hatte, zu viel und keiner, der wenig gesammelt hatte, zu wenig. Jeder
hatte so viel gesammelt, wie er zum Essen brauchte."
Am Abend kommen die Wachteln.
(Kleine Zugvögel auf ihrer Reise aus dem Inneren Afrikas. In Scharen
kommen sie und man kann sie mit den Händen greifen.)
Und am Morgen liegt das Manna unter dem Tau, (entstanden aus dem Saft
der Manna-Tameriske, kleine weiße Kügelchen, frisch wie Koriander-Samen
und durchscheinend wie Bedolach-Harz. So wird es in der Bibel beschrieben.)
Die verzagten und hungrigen Menschen sammeln es ein. Sie können
es kaum fassen, dass es so etwas gibt. Sie sammeln für ihre Familien.
Für jeden Zeltbewohner einen Krug pro Tag, egal wie alt oder wie
groß er ist. Einige versuchen gleich für mehrere Tage zu
sammeln, vorzusorgen für die Zukunft.
Liebe Gemeinde,
Vorsorge ist heute in aller Mund. Dumm ist der, der nicht vorsorgt fürs
Alter, für die Rente. Wer weiß, was noch kommt?
Damals in der Wüste ging diese Rechnung nicht auf. Vorsorge war
unmöglich. Das gehortete Manna verdarb, es stank und war voller
Würmer.
Gott sorgt für sein Volk, jeden Tag neu. Tägliches Brot -
es reicht genau für einen Tag und nicht länger. Man muss dafür
nicht arbeiten. Man kann damit aber auch nicht handeln. Keinen Gewinn
erwirtschaften. Keine Zinsen verlangen. Alle haben gleich viel, egal
ob sie wenig oder viel gesammelt haben.
Liebe Gemeinde, hier - auf
dem Weg in die Freiheit - herrscht eine andere Ökonomie als die,
die wir kennen. Es ist die Ökonomie Gottes. Immer wieder scheint
sie durch in der Bibel. "Kommt her, die ihr kein Geld habt, kommt
her, kauft und esst. Kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch."
- heißt es beim Propheten Jesaja.
Das Land, wo Milch und Honig fließt. Noch haben die Israeliten
es nicht erreicht. Noch sind sie in der Wüste. Und das Manna wird
ihnen bald zum Halse heraushängen. Trotzdem - es hält sie
am Leben - 40 Jahre lang....
Liebe Gemeinde!
Auch wir hier im Franz-Viertel sind noch nicht angekommen im "Gelobten
Land". Obwohl - ich muss gestehen: "wo Milch und Honig fließt"
- was das heißt, das habe ich das erste Mal richtig verstanden,
als ich eine Honigwabe von Remigius Binder, dem Imker hier aus dem Viertel,
ausgelutscht habe, am Lagerfeuer bei Vollmond. Das war schon ein bisschen
wie ein Vorgeschmack auf das Paradies. Und Milch fließt hier auch.
Die Wagenburg-Kuh ist nicht weit und sie hat schon vielen Kälbern
und Menschen Milch gegeben.
Aber trotzdem: Wir sind noch nicht angekommen in diesem Land. Wir folgen
noch der Ökonomie dieser Welt und können uns nicht einfach
daraus verabschieden. Morgen müssen wir wieder arbeiten und Geld
verdienen, für unseren täglichen Bedarf, für unsere Kredite
und für unsere Renten.
Doch Gott sei Dank: es gibt sie, die heilsamen Unterbrechungen.
Es gibt Zeiten, in denn wir nicht arbeiten, in denen scheinbar nichts
Aufregendes geschieht und sich dennoch so viel entscheidet. Zeiten,
in denen uns das Wort Gottes erreicht und wir spüren, worauf es
ankommt im Leben... Gott sei Dank gibt es einen Sonntag. Auch einen
Sonntag wie heute, an dem wir erahnen:
Es könnte auch anders sein. Ohne Angst
- vor dem nächsten Tag,
- vor den Anforderungen der Arbeit,
- ohne Angst davor, die Kredite nicht zahlen zu können.
So wie an dem Tag, als abends die Wachteln kamen und am Morgen das Manna
unter dem Tau lag. Ein Tag, an dem wir verstehen:
Es ist genug für alle da,
- für Große und Kleine,
- für Arme und Reiche,
- für Frauen und Männer,
- für den ganzen bunten Haufen, der diese Erde bevölkert.
Beate Schröder
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