Predigten

 
 

Entscheidung und Wahrheit

Predigt über Dtn 18,15-20
4. Sonntag im Jahreskreis B – 31.1./1.2.2009 in St. Michael Tübingen
(Thomas Steiger)

Stellen Sie sich vor, liebe Schwestern und Brüder, mein Vorgänger als Pfarrer, hätte sich vor elf Jahren dazu entschieden, ein Mitglied aus dem Kirchengemeinderat auszuschließen. Natürlich unter Angabe von Gründen, die er mit anderen Autoritäten der Kirche abgestimmt und der Gemeinde offen gelegt hätte. Der Betreffende hätte sich immer weiter von den inhaltlichen Schwerpunkten des Gemeindelebens entfernt. Er wäre gegen die Ökumene mit der Evangelischen Kirche dezidiert eingetreten. Die Offenheit unserer Gemeinde gegenüber Fremden und Andersdenkenden hätte er scharf verurteilt. Am Leben der Gemeinde hätte er nicht mehr teilgenommen und auch nicht an den Gottesdiensten, deren Form er ablehnte. Schließlich hätte er die Autorität des Pfarrers und des Bischofs geleugnet und begonnen, um Anhänger für seine Position in der Gemeinde zu werben.

Und nun, stellen Sie sich vor, - wir bewegen uns ja im Reich der Phantasie, vermeintlich, - und nun würde ich den Ausgeschlossenen, wieder in den KGR zurück holen. Aus lauterer Absicht, versteht sich, um der Einheit der Gemeinde willen, die ein hohes Gut ist, weil die Gemeinde wie ein Leib Christus selbst symbolisiert, der ungeteilt ist. Um der Versöhnung willen, die Jesus seinen Jüngern augetragen hat, sieben Mal siebzig Mal, also ohne an ein Ende zu gelangen, wieder und wieder, weil die Versöhnung so ein starkes Zeugnis für die Tat der Liebe ist, in der wir Gott selber unvermittelt begegnen. Und dennoch: Ich täte dies ohne Gesinnungsänderung des Ausgeschlossenen und ohne Einvernehmen mit dem Rat und der Gemeinde. Welche Kraftprobe wohl daraus entstünde?

Sie haben längst verstanden, liebe Brüder und Schwestern, daß ich versuche, die jüngste gesamtkatholische Zerreißprobe, aus ihrer universalkirchlichen Entfernung in die Nähe unseres Vorstellungsbereichs zu holen. Was weltweit für Irritationen sorgt, können wir uns leicht auch für den kleinen Radius unserer Ortskirche vorstellen. Dieselben Irritationen, die jetzt dem Papst entgegen schlagen, träten auch in Tübingen auf. In einer Welt der Transparenz und der Mitbestimmung gelten gewisse Spielregeln, die einzuhalten notwendig ist, um die Einheit nicht bloß einseitig zu suchen. Autoritäten sollten keine einsamen Entscheidungen treffen, sondern diese abstimmen und für deren Plausibilität werben; das gilt auch für den Papst, dessen Autorität in einer Welt der fehlenden persönlichen Autorität so wichtig ist. Die ganze Welt sollte ein Interesse daran haben, daß der Papst als moralische Instanz seine Integrität nicht einbüßt. Deshalb gehören seine Entscheidungen klug vorbereitet, um ein Verständnis von möglichst vielen zu erzielen. Wenn es um den inneren Zusammenhalt einer Gruppe geht, sind dabei vielfältige Kräfte zu berücksichtigen, Interessen und Meinungen. Gerade in der Katholischen Kirche mit ihrer hierarchischen Ordnung, die sinnvollerweise keine demokratischen Entscheidungsprozesse in Glaubensfragen kennt, wollen wir, will die ganze Menschheit nachvollziehen, warum und wie eine Entscheidung zustande kommt, zumal wenn diese einen disziplinarischen Hintergrund hat.

Ich erlaube mir festzustellen, daß zu viel davon im konkreten Fall der Versöhnung mit den Bischöfen, die der Piusbruderschaft angehören, nicht beachtet wurde. Es handelt sich um die einsame Entscheidung einer vatikanischen Abteilung. Diese hat unsauber recherchiert, was zudem zu einem politischen Skandal mit weltweitem Ausmaß geführt hat. Die Absicht zur Integration einer ultrakonservativen Gruppe in unserer Kirche kollidiert mit der ausstehenden Versöhnung mit anderen Personen und Gruppen, etwa denen der Befreiungstheologie. Von Seiten der Ausgeschlossenen selbst gibt es keine Zeichen, sich den wesentlichen Positionen der Kirche nach dem II. Vatikanum anzuschließen. Ohne Vorbereitung derer, die solche Entscheidungen vor Ort mittragen sollen, mußte die Nachricht wie eine Bombe platzen, deren Scherben nun doch die Gemeinden zusammen kehren müssen.

Nun spielt für die Kirche jedoch noch ein weiterer wesentlicher Faktor eine Rolle, mit den nun endlich eine Stelle der Heiligen Schrift aus dem Texten dieses Sonntags ins Spiel kommt. Gottes Stimme, seine Offenbarung, das Wort, welches er an uns richtet – zuletzt also: die Wahrheit, die sich nur in und aus Gott finden läßt. Zweifellos ist diese Faktor der schwierigste von allen. Entzieht er sich doch unserem unmittelbaren Zugriff und erlaubt keine letzte Eindeutigkeit. Andererseits ist er aber gerade so unverzichtbar und wichtig für das innere Wesen der Kirche. Gründet sie ihre Entscheidungen doch auf das, was Gott in und mit ihr tun will.

Das Buch Deuteronomium beschreibt eine scharfe Diskrepanz, die sich um das richtige Hören und Verstehen und Verkündigen von Gottes Wort rankt: Da gab und gibt es die selbst ernannten Propheten, die eine zu treffende Entscheidung nicht dem letzten Gericht Gottes unterwerfen, welches die eigenen Interessen über den Haufen werfen kann. Diesen Stachel der negativen Wahl darf sich keine Autorität der Kirche selber ziehen. Er sitzt vielmehr bleibend im menschlichen Fleisch des Papstes und des Pfarrers, des Theologieprofessors und aller Gremien. „Entspricht meine Festlegung der Wahrheit wirklich dem Willen Gottes? Verkünde ich sie so, daß deutlich wird, ich könnte mich trotz aller Bemühung irren?“ Ich trete keineswegs für einen Relativismus der Wahrheit ein. Verstehen Sie mich nicht falsch, Schwestern und Brüder! Aber ich fürchte mich sehr vor Wegweisungen, die sich nicht mehr der Kritik des Wortes Gottes unterziehen. Davor nämlich warnt Mose sein Volk, weil er sich bewußt ist, daß er und kein Mensch auf der Welt, die donnernde Stimme des Herrn (…) noch einmal hören und dieses große Feuer (des Dornbuchs …) noch einmal sehen können wird. Mose weiß, daß wir fortan vielmehr auf die Vermittlung angewiesen sind. Menschen werden der Wahrheit Gottes sich nähern, als Propheten, als von Gott gesandte Retter. Ein großer, aber gefährlicher Auftrag.
Was also sagt Gottes Wort zur jüngsten Entscheidung des Papstes? Ich vermute, wir werden in ihr auch Spuren des Geistes Jesu entdecken, aber nicht die ihm eigene Klugheit, Menschen durch Offenheit und Weite für sich zu gewinnen – und auch nicht seine Demut, sich ausschließlich dem Willen Gottes zu unterwerfen. Von einem Propheten nach Art des Mose dürfen wir jedenfalls mehr Gespür für die Vielfalt des Geistes Gottes und seines Volkes erwarten.