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Der wunderbare Tausch
Predigt über das
Verhältnis von Gott und Mensch
an Weihnachten 25.12.2001 in Bühl und St. Michael Tübingen
Was ist der Mensch? So heißt
eine Unterrichtseinheit, die im Lehrplan für Religion in der neunten
Klasse vorgesehen ist. Und auch in meinem Oberstufenkurs am Gymnasium
soll ich mich ein halbes Jahr lang mit der Frage nach des Menschen Freiheit,
mit seiner Schuldfähigkeit und seinem Gewissen auseinander setzen,
also mit den Punkten, die offenkundig die Existenzweise des Menschen
auszeichnet gegenüber jeglichem anderen Leben auf unserer Erde.
Anthropologie heißt im Fachjargon dieses Spezialgebiet im Kanon
der Wissenschaften.
Wo da anfangen, ist für
mich jedesmal die etwas unsichere Frage, bei der Suche nach des Menschen
Gestalt, nach seiner im ihm selber begründeten Wahrheit, nach seinem
Ziel? Wo anfangen hieße das ja auch bei einer Frage, mit der ich
selber, als Mensch, ins Zentrum meines Nachdenkens gerate, wo zuletzt
anfan-gen also bei mir selber? Wo würden meine Schüler, junge
Menschen, 16jährige anfangen, wenn sie grundlegend von sich sprechen
müßten?
Bei der Entstehung der Welt und des Menschen könnte ich beginnen,
also den biologischen Aspekt der Evolution als Ausgangspunkt nehmen,
und damit we-nigstens den körperlichen Zustand des Menschenwesens
treffend zu charakterisieren versuchen.
Ich könnte eine Situationsanalyse anfertigen, aktuell, festhalten,
was das Menschengeschlecht gerade beschäftigt: Im zu Ende gehenden
Jahr 2001 ist dies zweifellos die Entwicklung im Bereich der Gentechnologie
mit allen ethischen Fragen, die unser Bischof gestern in seiner Weihnachtsbotschaft
im Schwäbischen Tagblatt erneut aufgeworfen hat. Sicher auch -
und der Chefredakteur des eben genannten Blattes, Christoph Müller,
unkt ja hämisch, kein Prediger könne an Weihnachten daran
vorbei - sicher also auch das Ereignis vom 11. September, das uns die
Frage nach unseren Grenzen, nach der globalen Verschränkung der
Welt und nach dem Wert von Religion neu und erschreckend überlebens-wichtig
stellen läßt. Dann gewiß die unmittelbaren Existenzsorgen:
Rezession, Arbeitslosigkeit, Rente, Schulbildung ...
Als Theologe könnte ich natürlich biblisch beginnen, mit dem
Anfang der Bibel, mit Adam und Eva, mit dem Menschen als Krone von Gottes
Schöpfungsplan und dem unmittelbar damit verknüpften Sündenfall.
Aufgezeigt wäre so mit einem Schlag, welche himmelsteigenden Möglichkeiten
der Mensch in sich trägt, und wie er im gleichen Atemzug dazu neigt,
diese zu mißbrauchen, sie zu vertun.
Oder aber ich könnte - und dieser Gedanke fasziniert mich nicht
nur, seit er mir mit Blick auf diese Predigt in den Sinn kam, sondern
er wird mir auch logischer, zwingender, je länger ich ihn zu fassen
suche - oder aber ich beginne mit Weihnachten, eben mit jenem Ereignis,
welches das Christentum ursächlich begründet, und damit mit
jenem Text, der geradeso beginnt wie das Schöpfungslied in Genesis:
Im Anfang ... Johannes, der meisterlich und kenntnisreich glaubende
Inbrunst und denkerische Logik miteinander verknüpft, bezieht sich
wörtlich auf die ihm geläufige Offenbarung Gottes und setzt
doch einen Kontrapunkt. Die Schöpfung findet nicht mit dem Menschen
ihren Abschluß, sondern sie beginnt mit ihm. Alles, was sich ereignet,
geschieht mit Blick auf ihn. Die ganze Ordnung der Welt ist auf ihn
hin ausgerichtet. Der Mensch steht im Mit-telpunkt. Allerdings - und
das ist nun der entscheidende Punkt - allerdings nicht aus eigener Kraft,
nicht aus dem Willen des Fleisches! Der im Zentrum steht ist ein Mensch,
gleicher unter gleichen, nur daß er im Keim das in sich birgt,
was wir so oft mit Füßen treten und nicht sehen wollen, zuweilen
wohl auch nicht können: das Ewige, das Unzerstörbare, das
Heilige, ja, das Göttliche.
Insofern ist dieser von mir favorisierte Ansatz über den Menschen
nachzudenken, einer, der gar nicht beim Menschen ansetzt in seiner schnöden
Alltäglichkeit, sondern bei Gott und seinem Bild vom Menschen,
namentlich bei Jesus, dem Christus. Der vorrangige Blick auf den Menschen
ist ein göttlicher. Die Anthropologie gründet in der Theologie.
So zu denken, das will Weihnachten, das ist die Botschaft des Johannes,
und auch die des Lukas. Das kleine verletzliche Bündel Kind, notgeboren
zwischen Ochs und Esel, gefunden von namenlosen Hirten, irgendwo in
einem Nest im jüdischen Hinterland trägt alle Möglichkeiten
in sich, die das Leben eines Menschen gelingen lassen. Die Armut spielt
dafür überhaupt keine Rolle; ebensowenig wie die Umstände
der Schwangerschaft oder das Herkommen. Die ungünstigen Ausgangsvoraussetzungen
weisen vielmehr gerade darauf hin, daß es beim Menschen immer
und überall, wo es wirklich wichtig wird, nur darauf ankommt, was
bereits in ihm steckt. Von Anfang an: Gott spricht sein Ja zum Menschen.
Und er spricht es so grundsätzlich, wie es dem Menschen angemessen
ist. Er spricht es dorthin, wo keine äußere Ablenkung den
Zugang verstellt, hinter die Kulissen unserer zementierten Menschlichkeit,
die in Wahrheit so oft unmenschlich ist. Gott erschafft das, was den
Menschen zum Menschen macht, indem er sich selber gebiert. Die Gottesgeburt
ist der entscheidende Akt des gesamten Schöpfungsplanes. Weihnachten
ist der erste Tag des Menschen. Im Anfang war das Wort - und das Wort
ist Fleisch geworden - das wahre Licht, das jedem Menschen erleuchtet
- Jesus Christus. (> Der Tenor darf es bei Valentin Rathgeber nachher
alleine singen, das et incarnatus est, 28 Takte lang, solo, ein Mensch
trägt den gesamten Kosmos in sich, einer ist ausgespannt zwi-schen
Himmel und Erde, die sich berühren).
Für meinen Unterricht
und für meine Gespräche mit den Jugendlichen bedeutet das:
Ich muß versuchen, ihnen zu zeigen, daß ihr Leben sich bei
allem Realismus nicht nur in den Bahnen abspielt, die sie Tag für
Tag gehen; daß Freizeit, Fußball und Freunde wichtig sind
für ein glückliches Leben, aber nicht alles. Wo sie herkommen,
wo sie hingehen - sie wissen es nicht, und ich kann ihnen keine befriedigende
Antwort geben, weil ich es für mich selber nur ahne. Aber sagen
muß ich und ihnen nahebringen, daß nicht die eigene Geburt
aus dem Schoß ihrer Mutter das Entscheidende ist, sondern die
Geburt eines anderen. Weil Gott in diese Welt hinein sich geboren hat,
weil Jesus, der Gottessohn, ein Mensch wird, deshalb besteht eine Hoffnung,
grundsätzlich und für alles und für jeden Menschen. Unter
diesem Vorzeichen erst sollten sie und wir einen Blick auf ihr eigenes
Leben wagen. Und das Sichtergebnis wird anders ausfallen als zuvor;
davon bin ich überzeugt. Denn vor Gott hat Bestand das menschliche
Geschlecht, wie J. S. Bach am Schluß seines Weihnachtsoratoriums
geschrieben hat. Und nicht nur vor Gott, sondern in der Konsequenz vor
sich selber. Wer weihnachtlich denkt, der kann sich über sich selber
freuen, wie er ist, weil er auf einmal erkennt, daß an ihm alles
dran ist, was er braucht, daß er gar kein anderer zu werden braucht.
Für Jugendliche, die oft mit ihrem Sosein hadern, könnte das
eine höchst beru-higende Erkenntnis sein. Sie müssen die Welt
nicht neu erschaffen, weder die große, noch die kleine ihres eigenen
Geistes. Was an Licht notwendig ist, an Wahrheit, an Gnade - es ist
bereits da. Es kam an Weihnachten in unsere Welt und ganz direkt und
persönlich auch in ihr eigenes Leben - Jesus, Fleisch von und in
meinem Fleisch.
Die Kirchenväter, allen voran, Leo der Große, von dem die
berühmteste aller Weihnachtspräfationen stammt, haben diesen
Vorgang als wunderbaren Tausch bezeichnet: dein göttliches Wort
wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen
in Christus dein göttliches Leben.
Unser Leben, das menschliche Sein ist ein Geheimnis, weil Gott uns berührt,
und wir diese Berührung wahrnehmen können. So sind wir mit
einem Mal nicht mehr nur arme Sterbliche, Kranke, Sünder, Zerstörer
und Lügner, sondern auf Gottes Wort in Jesus hin Gerettete, und
zwar grundsätzlich, unwiderruflich, auf ewig. In St. Michael liegt
in der Hl. Nacht - manche, denen ich das erzähle, wollen's nicht
glauben - ein echtes Kind in der Krippe. Und dies nicht bloß als
Showeffekt, als barocke Inszenierung. Nein, in der Krippe kann jeder
von uns liegen. Es ist Gottes Platz und deshalb der unsrige. Das echte
Baby versichert uns, daß wir an Weihnachten mit Christus neu geboren
sind zum ewigen Leben. Heute kann der Tausch aufs neue beginnen, mit
dem wir uns der eingangs gestellten Frage annähern: Was macht den
Menschen zum Menschen? Die Antwort lautet: Gott.
Amen.
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