Predigten

   
 

Die dunklen Seiten Gottes? - Fastenpredigten in St. Michael 2010

Sonntag, 14 März, 19 Uhr: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" - Der Tod Jesu (Mt 27, 35-50) (Marlies Mittler-Holzem)

Matthäus, 27, 35-50

"Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, warfen sie das Los und verteilten seine Kleider unter sich. Dann setzten sie sich nieder und bewachten ihn. Über seinem Kopf hatten sie eine Aufschrift angebracht, die seine Schuld angab: Das ist Jesus, der König der Juden.
Zusammen mit ihm wurden zwei Räuber gekreuzigt, der eine rechts von ihm, der andere links.
Die Leute, die vorbeikamen, verhöhnten ihn, schüttelten den Kopf und riefen: Du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Wenn du Gottes Sohn bist, hilf dir selbst, und steig herab vom Kreuz!
Auch die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Ältesten verhöhnten ihn und sagten: Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen. Er ist doch der König von Israel! Er soll vom Kreuz herabsteigen, dann werden wir an ihn glauben. Er hat auf Gott vertraut: der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat; er hat doch gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
Ebenso beschimpften ihn die beiden Räuber, die man zusammen mit ihm gekreuzigt hatte.

Von der sechsten bis zur neunten Stunde herrschte eine Finsternis im ganzen Land. Um die neunte Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: Er ruft nach Elija.
Sogleich lief einer von ihnen hin, tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf einen Stock und gab Jesus zu trinken. Die anderen aber sagten: Lass doch, wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihm hilft.
Jesus aber schrie noch einmal laut auf. Dann hauchte er den Geist aus."


Dies ist der Punkt, der Plot, auf den das ganze Matthäus-Evangelium zuläuft: Der Gottessohn Jesus stirbt am Kreuz, verlassen von der begeisterten Menge, verlassen von seinen treuen Freundinnen und Freunden, und - als wenn das noch nicht genug wäre - verlassen von Gott.
Schon der Spott der Mächtigen Israels konzentriert das Ungeheuerliche in einen Satz: "Er hat auf Gott vertraut: der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat; er hat doch gesagt: Ich bin Gottes Sohn." Für sie ist die Kreuzigung der Beweis, dass Jesus einfach nur ein Spinner ist, eben nicht Gottes Sohn.

Aber für uns? Wir, die wir uns Christen nennen, weil wir genau als den Mittelpunkt unseres Glaubens betrachten, dass Jesus der Christus, der Messias, der Sohn Gottes ist - wie können wir das zusammendenken? Dass Gott diesen besonders geliebten Sohn nicht einfach nur dem Tod überlässt, wie alle anderen Menschen, sondern dass diesem geliebten Sohn ein besonders grausamer, quälender, langsamer und einsamer Tod vorbehalten ist.

Und dass Jesus, der im Garten Gethsemani genau vorauszusehen scheint, was auf ihn zukommen wird, der Todesangst hat und gern davonkommen würde, sich trotzdem vollkommen in die Hände dieses Gottes begibt: "Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst."
Ist das nicht ein krankhaftes Vater-Sohn-Verhältnis: Ein Vater, der - obwohl er könnte - den Sohn nicht vor brutalsten Qualen schützt und alles tut, um das Leben des Sohnes zu retten, und ein Sohn, der sich diesem Vater anvertraut, obwohl er weiß, was dann passieren wird?
Und - die Spitze: Der dann in seiner größten Not nicht mehr spürt, ob oder dass Gott mit ihm ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Kann man wirklich nicht tiefer fallen als in Gottes Hand? (Oder ist das nur ein frommer Spruch?)

Diese Frage lässt sich nicht "reibungslos" beantworten, keine Exegese, kein Textstudium, keine Erklärung führt zu einem einfachen und beruhigenden "ach so", einer Auflösung oder Harmonisierung dieses Geschehens.


Deshalb einige gedankliche Annäherungen
1. Nur weil Jesus diesen furchtbaren Tod als Mensch wirklich durchleidet, hat dieser Tod eine Bedeutung für uns als Menschen.
Die Passionsgeschichte, das gesamte Evangelium erzählt nicht von Jesus Christ Superstar! Jesus ist eben nicht Superman, der unverwundbar die Welt rettet. Matthäus erzählt in seinem Evangelium vom Menschen Jesus, der das Leben und die Erfahrungen vieler Menschen teilt: Der geboren wird in nicht wirklich wohlgeordnete oder wohlhabende Familienverhältnisse hinein, der anziehend heilsam wirkt auf Menschen, denen das Leben übel mitspielt, der die Auseinandersetzung nicht scheut und dann gleichermaßen konsequent und angstvoll seinen Weg zu Ende geht.

Die hebräische Bibel nennt Menschen, die unschuldig Opfer anderer Menschen werden, die unterdrückt, verspottet, versklavt, vergewaltigt werden, "leidende Gerechte". Ihnen wird von JHWH zugesagt, dass ihr Leid nicht das letzte Wort sein wird, dass die Bedrücker nicht endgültig triumphieren werden. Wenn Matthäus ausführlich Psalm 22 aufgreift, um die Folterung und Ermordung Jesu zu beschreiben, dann stellt er Jesus in die Reihe der "leidenden Gerechten" - und weckt gleichzeitig in den Hörenden die Idee, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende ist, dass noch etwas aussteht. Mit Jesus ist die Reihe der "leidenden Gerechten" nicht zu Ende. Wenn Kinder aus dem Erdbebengebiet in Haiti im ersten Durcheinander an reiche Amerikaner oder Europäer verkauft werden, wenn Kleinbauern ihr Land mit Gewalt weggenommen wird, wenn Kinder sexuell missbraucht werden, wenn Arbeiter, wie Sklaven angekettet, für einen Hungerlohn arbeiten müssen, wenn Frauen als Kriegsbeute vergewaltigt werden - dann wird jedes Mal der Mensch Jesus gekreuzigt.

2. Die Gottessohnschaft Jesu entfernt ihn nicht von uns als Menschen, sondern erinnert uns an unsere eigene Gotteskindschaft.
Von diesem Menschen Jesus sagt Matthäus, er sei Gottes geliebter Sohn.
Er meint damit, dass Jesus das Angebot der Gotteskindschaft, das uns allen gilt, in besonderer Weise angenommen und verwirklicht hat. In der antiken Umwelt der hebräischen Bibel war der Titel "Gottes Sohn" dem König vorbehalten und diente dazu, die Macht des Königs zu unterstützen. Die hebräische Bibel dagegen nennt "Kinder Gottes" diejenigen, die den Ruf Gottes, des Vaters, hören, das sind zuerst die Juden. Auserwähltes Volk zu sein, Kind Gottes zu sein heißt dann nicht, anderen vorgezogen oder verwöhnt zu werden, es heißt auch nicht, wie ein König Macht zu bekommen, sondern es heißt, im Vertrauen auf die Verheißung dieses Gottes einen Auftrag anzunehmen und, so gut es geht, zu erfüllen.

Welche Verheißung? Gott verheißt Leben in Fülle für alle Menschen. Die Bibel hält unzählige Bilder für diese Verheißung bereit, exemplarisch sei hier Offenbarung 21 zitiert, das selbst wiederum eine Zusammenstellung von Prophetenzitaten aus der jüdischen Bibel ist: "Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und Gott wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal."

Welcher Auftrag? Die "Kinder Gottes" erhalten den Auftrag, Gott bei der Errichtung des Gottesreiches zu unterstützen. Auch hier gibt es vielfältige biblische Text-Belege, ich zitiere Matthäus, der wiederum Zitate aus der hebräischen Bibel aufnimmt: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten".
In diesen Zusammenhang, dass die Gotteskinder am Gottesreich wirken sollen, stellt sich Jesus, indem er "in den Synagogen lehrt, das Reich Gottes verkündet und Krankheiten und Leiden heilt". Er tut dies so eindrücklich, dass sich für die Menschen in seiner Umgebung die Grenzen verwischen zwischen diesem geliebten Gottes-Sohn und Gott, dem Vater, selbst. Matthäus formuliert das so: "Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will."


3. Jesus erfüllt den Willen Gottes; aber es ist nicht Gottes Wille, dass Jesus von anderen Menschen systematische gefoltert und hingerichtet wird.
Eindrücklich beschreibt Matthäus, wie Jesus im Garten Getsemani um seine nächsten Schritte ringt. Er betet, dass, wenn es irgend möglich ist, er mit dem Leben davon kommen möge: "Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber." Und er ringt sich zu der Entscheidung durch, in mehreren quälenden Anläufen, seinen Willen dem Willen des Vaters nachzuordnen. Was der Wille des Vaters ist, ist weiter oben schon gesagt: "Leben in Fülle für alle Menschen". Der zweite Teil ist die Herausforderung: Nicht Leben in Fülle für mich auf Kosten anderer, sondern gerechte Lebensmöglichkeit für alle. Das bedeutet, auch mal zurückzustehen, abzugeben, von sich selbst absehen, den eigenen, unbedingten Lebens- und Durchsetzungs-Willen zu zähmen mit Rücksicht auf die anderen. Gottes Wille ist das Anti-Programm zu Darwin und auch zu jeder Form von Sozial-Darwinismus.

Wie Jesus diesen Willen Gottes erfüllt, wie er sich ganz den Menschen zuwendet, wie er Ausgegrenzte in den Mittelpunkt stellt, Kleine groß macht, das beeindruckt Menschen, auch solche, die keiner oder einer anderen Religion angehören, bis heute. Wer jedoch den Blick über die Einzelgeschichten auf die Gesamt-Erzählung der Evangelien lenkt, wird hineingezogen in sich zuspitzende Dynamik. In dem Maß, in dem die Armen und Benachteiligten als Menschen gewürdigt werden, fühlen sich die Einflussreichen und Mächtigen angegriffen und in Frage gestellt. Die Mächtigen stellen die Machtfrage - und Jesus bleibt konsequent: Er gibt nicht klein bei, flieht nicht, versteckt sich nicht; und: er bekämpft Gewalt nicht mit Gewalt. "Gehorsam sein", das ist eine andere Umschreibung für "den Willen Gottes tun", bedeutet also, konsequent das als richtig Erkannte auch weiterzuverfolgen - selbst wenn es zum eigenen Nachteil ist. Selbst wenn es, wie bei Mahatma Gandhi, Sophie Scholl, Bischof Romero und unzähligen anderen "leidenden Gerechten" das eigene Leben kostet.

An keiner Stelle aber drückt Gott seinen Willen einfach durch und zwingt einen Menschen in den Gehorsam. Dieser Macht-Verzicht Gottes macht Ernst mit der Freiheit von uns Menschen. Ob und wie wir dem Willen Gottes zum Durchbruch verhelfen, das müssen wir ständig neu entscheiden.

4. Die Klage ist Ausdruck der Würde und der Gottebenbildlichkeit der Leidenden.
In dieser tödlichen Konsequenz leben nur wenige Menschen den Willen Gottes. Matthäus beschreibt detailliert, wie immer mehr Menschen Jesus verlassen als die Mächtigen ihre Macht brutal durchsetzen: Judas verrät ihn; seine Jünger verstecken sich, die Frauen schauen von Weitem zu, die Menge, die früher für ihn geschrien hat, schreit jetzt gegen ihn und einige aus der Menge, sowie die Mächtigen Israels verhöhnen und verspotten ihn. Hier wird jemand radikal vom Leben abgeschnitten, erst von Gemeinschaft, Unterstützung, Freundschaft, Solidarität - und dann existenziell durch Folter und Hinrichtung. Leben, oder gar "Leben in Fülle" ist nicht mehr spürbar und Jesu Schrei: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", drückt genau dies aus: Wo Leben abgeschnitten wird, ist Gott nicht spürbar. Der Anschrei aber ist kein Einverständnis, kein Hinnehmen dieser Situation, keine Resignation, sondern in der Anklage, im Vorwurf an Gott das Erinnern an die Verheißung.

Merkwürdigerweise kommt eine solche Gebetssprache in unserer offiziellen Liturgie kaum vor - und vermutlich auch nur wenig in stillen Gebeten. Vier Gründe könnten dafür ausschlaggebend sein: Zum einen eine Überbetonung des Glaubens als Gehorsam. "Was Gott tut, das ist wohlgetan"; als Mensch daran zu zweifeln, käme einer Gotteslästerung gleich. Zum zweiten die wachsenden Allmachtsphantasien der Menschen. "Jeder ist seines Glückes Schmied" - wer also benachteiligt ist, soll was ändern und nicht klagen. Zum dritten korrelieren zu den Allmachtsphantasien Gedanken der Macht- und Bedeutungslosigkeit Gottes: Wer erwartet schon ernsthaft, dass das Gottesreich anbrechen könnte, überraschend, hier, ausgerechnet zu meiner Lebenszeit. Schließlich ist die letzten zweitausend Jahr ja auch nichts passiert. Zum vierten der tiefe Verdacht, dass es durch das Eingreifen Gottes gar nicht besser werden kann. Warum Gott an die Verheißung des Gottesreiches erinnern, wenn wir gar nicht spüren, dass etwas fehlt?

Für die Psalmbetenden ist die Klage die letzte Möglichkeit, mit Gott in Kontakt zu bleiben. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" ist eine Paradoxie, wenn Gott als nicht-vorhanden dennoch angesprochen wird. Zu Gott gegen Gott klagen und schreien; darin steckt noch ein letzter Funken Erwartung, darin steckt der Anspruch auf Würde und Ansehen bei diesem Gott. Wo jemand noch klagen kann, haben Resignation, Sprachlosigkeit und Schweigen noch nicht die Macht übernommen.
Würden wir die Kraft der Klage, vor allem auch der Klage zu Gott gegen Gott in unserer Liturgie wiederentdecken, könnten wir in unseren Kirchen denen Stimme, Raum und damit Würde geben, die zu kurz kommen in diesem Leben, deren Lebenschancen beschnitten werden, die keinen Ausweg sehen, obwohl sie schon so viel probiert haben.
Und wir könnten unserer eigenen Klage Raum geben, der Klage über Machtlosigkeit, Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die wir täglich sehen, ohne etwas verändern zu können, der Klage über unsere alltäglichen Lieblosigkeiten und Nachlässigkeiten, die uns immer erst hinterher bewusst werden. Damit würden wir in uns gegen die Gefahr des Abstumpfens die Verheißung wach halten, die Erwartung eines Mehr, die Hoffnung auf ein Leben in Fülle für alle.

5. Wenn die Fastenzeit eine Zeit der Umkehr ist, also eine Zeit, in der wir Dinge anders tun und denken sollen, dann bietet unser Text folgende Anregungen dafür:

  • " Wir können umkehren von der Gewohnheit, Jesu Tod nur von der Auferstehung her zu sehen. Die Auferstehung Jesu rechtfertigt seine Hinrichtung nicht. Erst wenn wir unzeitige und gewalttätige Tode wirklich als Skandal wahrnehmen, erschließt sich die ganze Bedeutung der Osterbotschaft

  • " Wir können umkehren zu einer neuen inneren Unruhe: Täglich leiden Gerechte. Täglich wird Jesus verspottet, gefoltert, gekreuzigt. Täglich steht das Reich Gottes noch aus - und jeder Tag der vergeht, ist einer zu viel.

  • " Wir können umkehren und kritisch unseren Platz bei den täglichen Kreuzigungen reflektieren: Wann höhne oder spotte ich, wann verleugne ich, jemanden zu kennen, wann verschlafe ich die Todesängste anderer Menschen?

  • " Wir können umkehren und bei Gott die ausstehende Verheißung einklagen. Damit würden wir uns endlich unsere Ohnmacht eingestehen und glaubend daran festhalten, dass Gottes Wirklichkeit Möglichkeiten jenseits unserer Vorstellungskraft hat

 

 

 

 

 

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