Predigten

   
 

Die dunklen Seiten Gottes? - Fastenpredigten in St. Michael 2010

Sonntag, 21. März, 19 Uhr: "Du aber Herr, halte dich nicht fern / Du meine Stärke, eil mir zu Hilfe!" (Psalm 22) Bussgottesdienst (Claudia Guggemos und Stefan Müller-Guggemos)

Predigt

Eli, Eli, lema sabachtani? - Das ist vermutlich der einzige aramäische Satz, den die meisten Menschen auf der ganzen Welt kennen, liebe Brüder und Schwestern.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diese Worte klingen uns im Ohr, wenn wir an Karfreitag denken, oder wenn wir einen der vielen Jesus-Filme vor Augen haben: Halb geröchelt, mit letzter Kraft auf den blutigen Lippen des Sterbenden …
Heute Abend haben wir ihn wieder gehört, diesen Satz aus Psalm 22, von dem man zu spüren meint, wie er in der kalten, fernen Dunkelheit Gottes verhallt. - Ungehört?
Beim ersten Hören von Psalm 22 fällt auf, dass nicht das ganze Gebet im Ton der Verzweiflung gehalten ist. Im Gegenteil: Der Psalm endet im überschäumenden Jubel. Die Überschrift, die später für ihn gefunden wurde, benennt die beiden unvereinbar scheinenden Pole: "Gottverlassenheit und Heilsgewissheit" ist unser Psalm überschrieben. Gottverlassenheit und Heilsgewissheit, nicht Gottverlassenheit vor Heilsgewissheit, auch nicht nach. Beides scheint unauflösbar zusammenzugehören. Aber wie kommt es zu dieser Zusammengehörigkeit des scheinbar Unvereinbaren im Psalm 22?

Bevor wir dieser Frage nachgehen, lohnt es sich, noch einmal grundsätzlicher zufragen:
Was ist denn eigentlich ein Psalm?
Das weltweit von Millionen genutzte Internetlexikon Wikipedia sagt in seiner deutschen Ausgabe: Als Psalm (gr. psalmós "Saitenspiel") werden vor allem die 150 geistlichen Lieder in der Bibel bezeichnet, die im Buch der Psalmen zusammengefasst sind.

Und was wissen wir jetzt, wenn wir das wissen? Dass es sich um einen poetischen Text handelt, ein Lied. Diese Information kann helfen, die Sprache einzuordnen, die Kraft der vielen Bilder, aus denen dieses Gedicht besteht, die uns heute noch berühren.
Aber wozu wurden diese Lieder geschrieben? Die Antwort der Forscher im Alten Testament klingt prosaisch: Diese Lieder waren so etwas wie "Formulare" für das Gebet der Israeliten im Tempel. "Gebetsformular" - das klingt nach staubtrockenen Akten, blutleer und lebensfremd, nach Ankreuzen und Ausfüllen von Lücken und Zeilen. Wenn dem wirklich so wäre, dann müssten wir uns ernstlich fragen, warum unser Text so viele Jahrhunderte überdauert hat.

Machen wir uns auf die Reise und entdecken wir gemeinsam, was dieses Formular, dieses vermutlich mehr als zweieinhalbtausend Jahre alte Gebetsangebot der Jerusalemer Tempelliturgie über die Beziehung der Menschen zur dunklen Seite Gottes sagt: (Sie können dazu gern den Psalm mitlesen, der ausgelegt ist.)
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Nach diesen berühmten Worten der Verlassenheit wird die Klage der oder des Betenden noch vertieft: "Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort, ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe." Wir sind drauf und dran mit einzutauchen in einen Strudel der Hoffnungslosigkeit und Depression, der immer weiter abwärts führt.

Und dann taucht ein schwacher Hoffnungsfunken auf: Die Vergangenheit scheint dem Beter und uns wieder Boden unter den Füßen zu geben: Die Menschen vor uns, sie haben vertraut und wurden gerettet.
Aber diese Hoffnung ist trügerisch: "Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch." Der oder die Betende fühlt sich abgeschnitten von der guten Tradition, sie ist bedeutungslos, wertlos, sinnlos, nur ein fernes Trugbild, das die aktuelle Situation umso hoffnungsloser erscheinen lässt. Und wieder hören wir Christen heute das Echo der Evangelien: Die Evangelisten benutzen diese Bilder des Verspottet-Werdens im Psalm, um den Spott der Menschen, die Jesus am Kreuz sehen, zu zeichnen: "Er wälze die Last auf den Herrn, der soll ihn befreien!"

Im nächsten Vers scheint nun eine Hoffung auf Hilfe greifbar zu werden, scheint sich aus der eigenen Vergangenheit in die Gegenwart hineinzubewegen: Von Geburt an weiß sich die oder der Betende auf Gott verwiesen. Das gibt Grund zur Bitte: "Sei mir nicht fern!", nur um sich im nächsten Moment im Strudel der Bilder, die unmittelbare, überwältigende Gefahr anzeigen, aufzulösen: Es wird nicht klar, was genau das Leben des Beters bedroht: Wilde Tiere stehen entweder für übermächtige, gewalttätige Menschen oder gar für dämonische Mächte, das Böse schlechthin, das sich zusammenballt. Eine tödliche Krankheit hat ihn oder sie erfasst. Anhand der Symptome ist nicht klar, um welche Krankheit es sich handelt: Gliederschmerzen, hohes Fieber, Abmagerung, totale Erschöpfung lassen auf Todesgefahr schließen. Und wieder hören wir Worte, die in den Passionsberichten aufgegriffen werden: Die Erben gehen vom Tod des Betenden aus, sie streiten bereits um den Nachlass, verteilen die Kleider und werfen das Los um das Gewand.

Der Beter oder die Beterin findet in dieser Situation die Kraft zum Bitten: Da er oder sie selbst keine Kraft mehr hat, wird das der Name Gottes: "Meine Stärke". Und nun muss man genau hinschauen, ein bisschen scheinbare Wortklauberei betreiben, um zu verstehen, warum sich ab Vers 23 alles ändert und danach auf einmal ein langes Lob Gottes folgt. Da steht in unserer Übersetzung: "Rette mich vor dem Rachen des Löwen, vor den Hörnern der Büffel rette mich Armen!" Warum danach folgt "Ich will Deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen" bleibt rätselhaft.

Fridolin Stier, der verstorbene Tübinger Professor für das Alte Testament und Gründer des Bibelwerks dagegen übersetzt: "Rette mich vorm Rachen des Löwen, den Hörnern der Büffel. Antwort hast du mir gegeben." Das macht den Unterschied. Während in der uns vertrauten Einheitsübersetzung und auch in der Lutherbibel ein plötzlicher unerklärlicher Übergang von der Bitte eines Menschen in Todesangst zum Lob Gottes geschieht, steht im hebräischen Urtext ein Satz, der allem was war und allem was kommt, eine neue Bedeutung gibt: "du hast Antwort gegeben." - nicht "erlöst", kein "Wunder gewirkt". Manche Ausleger des Alten Testaments übersetzen gar: "auf den Hörnern der Büffel hast du mir Antwort gegeben." Da wird jemand nicht auf einmal aus aller Gefahr gerettet und lobt dann Gott. Nein, da hört jemand in der Gefahr, in der Todesangst Gottes Stimme. Dieser Mensch spürt: Ich bin nicht allein. In meiner Gottverlassenheit ist Gott da.

Diese tiefe Erkenntnis, die den Betenden in der Tiefe seiner Traurigkeit, seiner Erschöpfung, seiner Depression erreicht, verändert alles: Dieser Mann, diese Frau kann auf einmal die Gemeinschaft um sich herum wahrnehmen und lobt Gott. Dieser Mensch will alle daran teilhaben lassen, was er oder sie erfahren hat: Gott ist da in der Gottferne. Und nicht nur alle gegenwärtigen Menschen sollen es erfahren, sondern die Erkenntnis, dass Gott da ist, sollen alle wissen: Die anderen Nationen, die zukünftigen Generationen und - und das ist extrem ungewöhnlich für das Alte Testament, das meist nicht davon ausgeht, dass es ein Leben nach dem Tod gibt - auch die Toten sollen es hören und verstehen. (Pause)

Die feministische Bibelwissenschaftlerin Ulrike Bail vertritt die Auffassung, dass der Schlüssel zur Bedeutung der Psalmen nicht darin liegt, was gebetet wird, sondern: Wer betet.
All das Klagen und Loben schreibt nicht ein Dichter der Romantik in seinem stillen Kämmerlein. Nein, all das wird in einem offiziellen Gebetsformular des Jerusalemer Tempels formuliert. Das bedeutet: Da ist nicht ein einzelner, einsamer Mensch, der alleine vor sich hin schmachtet. Sondern: Psalm 22 kommt uns in der offiziellen Liturgie damals wie heute ein Angebot entgegen. "So darfst du fühlen, so darfst du beten! Das Gefühl, dass Gott unendlich weit weg ist, dass mir der Boden unter den Füßen schwindet, dass ich mich im freien Fall befinde ohne Hoffnung, jemals aufzuschlagen in der Unendlichkeit, das ist Teil unseres Glaubens. Dieser tief empfundene Zweifel stellt dich nicht außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen, der Andersgläubigen ja sogar der Toten. Die tief empfundene Verzweiflung, die Erfahrung des Abgrunds stellt nicht außerhalb der, sondern in die Gemeinschaft mit Gott. Wir als Gemeinschaft beten so mit Dir. Du bist nicht allein mit Deinem Zweifel, Deiner Gottverlassenheit. Deshalb darfst du jubeln in Deinem Leid. Hier ist die Gemeinschaft, die mit Dir betet, die mit Dir, die für Dich glaubt, dass Gott da ist im Leid.

Psalm 22 ist nicht deswegen ein besonderer Psalm, weil er Jesus am Kreuz in den Mund gelegt wird. Psalm 22 wird Jesus in den Mund gelegt, weil er ein besonderer Psalm ist. Psalm 22 wendet all seine Bildkraft, all seine Poesie dafür auf, uns zu sagen: Die Dunkle Seite Gottes, die gibt es. Menschen haben sie immer schon erfahren. Gott ist genau da, in der Dunkelheit.

Amen

 

 

 

 

 

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