Predigten
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Die dunklen Seiten Gottes? - Fastenpredigten in St. Michael 2010Sonntag, 21. März, 19 Uhr: "Du aber Herr, halte dich nicht fern / Du meine Stärke, eil mir zu Hilfe!" (Psalm 22) Bussgottesdienst (Claudia Guggemos und Stefan Müller-Guggemos)Predigt Eli, Eli, lema sabachtani?
- Das ist vermutlich der einzige aramäische Satz, den die meisten
Menschen auf der ganzen Welt kennen, liebe Brüder und Schwestern. Bevor wir dieser Frage nachgehen,
lohnt es sich, noch einmal grundsätzlicher zufragen: Und was wissen wir jetzt, wenn
wir das wissen? Dass es sich um einen poetischen Text handelt, ein Lied.
Diese Information kann helfen, die Sprache einzuordnen, die Kraft der
vielen Bilder, aus denen dieses Gedicht besteht, die uns heute noch berühren. Machen wir uns auf die Reise
und entdecken wir gemeinsam, was dieses Formular, dieses vermutlich mehr
als zweieinhalbtausend Jahre alte Gebetsangebot der Jerusalemer Tempelliturgie
über die Beziehung der Menschen zur dunklen Seite Gottes sagt: (Sie
können dazu gern den Psalm mitlesen, der ausgelegt ist.) Und dann taucht ein schwacher
Hoffnungsfunken auf: Die Vergangenheit scheint dem Beter und uns wieder
Boden unter den Füßen zu geben: Die Menschen vor uns, sie haben
vertraut und wurden gerettet. Im nächsten Vers scheint
nun eine Hoffung auf Hilfe greifbar zu werden, scheint sich aus der eigenen
Vergangenheit in die Gegenwart hineinzubewegen: Von Geburt an weiß
sich die oder der Betende auf Gott verwiesen. Das gibt Grund zur Bitte:
"Sei mir nicht fern!", nur um sich im nächsten Moment im
Strudel der Bilder, die unmittelbare, überwältigende Gefahr
anzeigen, aufzulösen: Es wird nicht klar, was genau das Leben des
Beters bedroht: Wilde Tiere stehen entweder für übermächtige,
gewalttätige Menschen oder gar für dämonische Mächte,
das Böse schlechthin, das sich zusammenballt. Eine tödliche
Krankheit hat ihn oder sie erfasst. Anhand der Symptome ist nicht klar,
um welche Krankheit es sich handelt: Gliederschmerzen, hohes Fieber, Abmagerung,
totale Erschöpfung lassen auf Todesgefahr schließen. Und wieder
hören wir Worte, die in den Passionsberichten aufgegriffen werden:
Die Erben gehen vom Tod des Betenden aus, sie streiten bereits um den
Nachlass, verteilen die Kleider und werfen das Los um das Gewand. Der Beter oder die Beterin
findet in dieser Situation die Kraft zum Bitten: Da er oder sie selbst
keine Kraft mehr hat, wird das der Name Gottes: "Meine Stärke".
Und nun muss man genau hinschauen, ein bisschen scheinbare Wortklauberei
betreiben, um zu verstehen, warum sich ab Vers 23 alles ändert und
danach auf einmal ein langes Lob Gottes folgt. Da steht in unserer Übersetzung:
"Rette mich vor dem Rachen des Löwen, vor den Hörnern der
Büffel rette mich Armen!" Warum danach folgt "Ich will
Deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde
dich preisen" bleibt rätselhaft. Fridolin Stier, der verstorbene
Tübinger Professor für das Alte Testament und Gründer des
Bibelwerks dagegen übersetzt: "Rette mich vorm Rachen des Löwen,
den Hörnern der Büffel. Antwort hast du mir gegeben." Das
macht den Unterschied. Während in der uns vertrauten Einheitsübersetzung
und auch in der Lutherbibel ein plötzlicher unerklärlicher Übergang
von der Bitte eines Menschen in Todesangst zum Lob Gottes geschieht, steht
im hebräischen Urtext ein Satz, der allem was war und allem was kommt,
eine neue Bedeutung gibt: "du hast Antwort gegeben." - nicht
"erlöst", kein "Wunder gewirkt". Manche Ausleger
des Alten Testaments übersetzen gar: "auf den Hörnern der
Büffel hast du mir Antwort gegeben." Da wird jemand nicht auf
einmal aus aller Gefahr gerettet und lobt dann Gott. Nein, da hört
jemand in der Gefahr, in der Todesangst Gottes Stimme. Dieser Mensch spürt:
Ich bin nicht allein. In meiner Gottverlassenheit ist Gott da. Diese tiefe Erkenntnis, die
den Betenden in der Tiefe seiner Traurigkeit, seiner Erschöpfung,
seiner Depression erreicht, verändert alles: Dieser Mann, diese Frau
kann auf einmal die Gemeinschaft um sich herum wahrnehmen und lobt Gott.
Dieser Mensch will alle daran teilhaben lassen, was er oder sie erfahren
hat: Gott ist da in der Gottferne. Und nicht nur alle gegenwärtigen
Menschen sollen es erfahren, sondern die Erkenntnis, dass Gott da ist,
sollen alle wissen: Die anderen Nationen, die zukünftigen Generationen
und - und das ist extrem ungewöhnlich für das Alte Testament,
das meist nicht davon ausgeht, dass es ein Leben nach dem Tod gibt - auch
die Toten sollen es hören und verstehen. (Pause) Die feministische Bibelwissenschaftlerin
Ulrike Bail vertritt die Auffassung, dass der Schlüssel zur Bedeutung
der Psalmen nicht darin liegt, was gebetet wird, sondern: Wer betet. Psalm 22 ist nicht deswegen ein besonderer Psalm, weil er Jesus am Kreuz in den Mund gelegt wird. Psalm 22 wird Jesus in den Mund gelegt, weil er ein besonderer Psalm ist. Psalm 22 wendet all seine Bildkraft, all seine Poesie dafür auf, uns zu sagen: Die Dunkle Seite Gottes, die gibt es. Menschen haben sie immer schon erfahren. Gott ist genau da, in der Dunkelheit. Amen |
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