Predigten

   
 

Predigt in der Eberhardskirche am Palmsonntag, 28.3.2010 anläßlich der ökumenischen Palmprozession mit der St.Michaelgemeinde
(Pfarrer Jan Christoph Wiborg)

Einen Weg sind wir gegangen,
liebe Schwestern und Brüder,
einen Weg wie Jesus, von Palmzweigen gerahmt.
Statt der jubelnden Menge ein paar neugierige Gesichter, die aus dem Fenster sich wundern.
Statt "Hosianna", "Ha, jetz guck dir mol di a!"
Der Weg zum Kreuz - damals wie heute ein Weg, der Unverständnis auslöst.

Denn: Was hat die jubelnde Menge damals bejubelt?
Der Jubel bei vielen ein Jubel aus der Hoffnung heraus, dass bald ein anderer, mächtigerer, jüdischer König hier würde regieren.
Als sichtbar war, dass diese Hoffnung unbegründet war, riefen dieselben, die vorher "Hosianna" gerufen hatten "Kreuzige ihn!". Unverständnis damals.

Und heute? Vielleicht weniger Unverständnis.
Weil: Ein Tübinger versteht naturgemäß die Welt selbstredend.
Nein, es ist eher ein Befremden:
"Dass die da immer noch dem hinterherlaufen!?"

Gleichwohl: Auch wenn sozusagen die Rahmenbedingungen des Weges heute und damals durchaus Parallelen aufweisen - wie wollen wir uns vergleichen mit dem, der da auf dem Füllen einer Eselin daher reitet?
Der Weg Jesu - vergleichbar mit unserem Weg?
Unser Weg - vergleichbar mit Jesu Weg?

Der Weg nach Jerusalem ist für Jesus ein Weg von außen nach innen, vom Land ins Zentrum der Macht, vom Leben in den Tod.
Das ist die horizontale Ebene. Die Ebene unserer Geschichte. Unserer Geschichtsschreibung. Linear, mit Anfang und Ende.

Doch zugleich - und dafür war das Kreuz seit jeher auch eindrückliches Symbol - gibt es hier auch eine vertikale Ebene, die die horizontale kreuzt.
Diese vertikale Ebene wird vielleicht am deutlichsten in dem Hymnus, den Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi aufgenommen hat.

5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
6 Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7 sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. 8 Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
9 Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10 dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
11 und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Das ist die vertikale Ebene in der Geschichte Jesu Christi, liebe Schwestern und Brüder.
Oder eigentlich ist sie nicht vertikal, sondern eher ist es eine Art Ellipse oder Kreisform, auf der sich der Weg Jesu bewegt.

"Er", der Akteur dieses Liedes, geht auf dem Scheitelpunkt des Kreises aus von Gott und aus Gott heraus, verlässt die Einheit mit ihm, lässt ihn wie eine Hülle hinter sich, bewegt sich dann auf der Kreislinie konsequent und unaufhaltsam nach unten, wechselt auf diesem Weg die Gestalt und wird denen immer ähnlicher die "unten" sind, bis er nicht mehr zu unterscheiden ist von ihnen, stirbt den Tod des Menschen. Steigt hinab in das Reich des Todes.

Als er diesen Tiefpunkt durchmessen hat, ergreift ihn der, aus dem er hervorgegangen ist, zieht ihn auf der anderen Hälfte der Kreisbahn wieder zu sich und wird eins mit ihm, den er beinahe verloren hätte; der Verlorene ist wieder gefunden, der Tote lebendig geworden.
Und ganz klar: Der in die Ferne und ins Untere Gegangene ist auf seinem Umlauf um die Welt ein anderer geworden. Und er wird auch den verändern, den er zurückgelassen hat.

Der Sohn verlässt den Vater. Aus eigenem Willen heißt es - und doch gehorsam.
Zunächst ein sperriger Gedanke. Aber doch nur zunächst.
Wir erinnern uns an das Gleichnis Jesu, in dem er vielleicht ein wenig von sich selbst erzählt und von seinem Vater.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das so eigentlich gar nicht heißen dürfte.
In diesem Gleichnis wird uns eindrücklich erzählt, wie der, der sich bis in die tiefsten Tiefen von seinem Vaterhaus entfernt, der alles, was sein war zurücklässt, wie der doch verbunden bleibt und wie es ihn wieder zurückzieht in die Arme des Vaters.
Diese bleibende Verbundenheit durch alle Verlassenheit und alles "Auf eigenen Füßen stehen Wollen" hindurch, ist für mich eine Übersetzung für den angesprochenen Gehorsam gegenüber dem Vater.
Am Ende haben sich beide in diesem Gleichnis verändert. Sohn und Vater. Beide sind gereift. Beide sind durch Leid und Entbehrung anders geworden. Und beide sind durch dieses Gehen und Kommen sie selbst geworden. Noch mehr Vater. Noch mehr Sohn. Und auch der andere, der Dritte im Bunde, der "beleidigte" Geist, wenn man so will, wird sich dieser verändernden Dynamik nicht entziehen können.

So erzählen Gleichnis und Passionsgeschichte und Philipperhymnus auf ihre je eigene Art wie wir Gott zu denken haben. Wie wir ihn begreifen können. Oder besser: ihn erahnen können.
Einen Gott, der seine Allmacht und Größe nicht als einen Raub betrachtet, sondern, wie schon in der Schöpfung, aus sich herausgeht.
Doch dieses Mal so weit aus sich herausgeht, dass für einen Bruchteil der Zeit, er sich selbst nicht mehr zu finden scheint, verloren geht in der Verlorenheit dieser Welt:
"Mein Gott, warum hast du mich verlassen!"
Der Sohn findet den Vater nicht mehr im Gegenüber zu sich selbst, und der Vater kann dem Sohn nicht mehr antworten. Tiefste Einheit und höchste Distanz verschmelzen in diesem Aufschrei Jesu.

"Wahrer Gott" und "Wahrer Mensch"!

Diesem Gott sind die Knie zu beugen, der die Gegensätze von Leben und Tod, Freude und Leid, Zweifel und Glaube durchlebt und damit zusammengebunden hat.
Erst jetzt ist Gott - wenn man so will - in seiner Schöpfung voll und ganz angekommen.
Erst jetzt betet der Mensch zu einem Gott, der seine Nöte bis in die tiefsten Tiefen hinein nicht nur ansieht, sondern auch versteht.

In Wim Wenders preisgekröntem Film "Der Himmel über Berlin" kommt ein Engel vor, der die Lust, endlich ein Mensch zu sein, nicht bezwingen kann. "Endlich ahnen, statt immer zu wissen. "Ach" und "Oh" und "Ah" und "Weh" sagen können, statt "Ja" und "Amen!" sagt er. Dieser Engel Damian weiß, dass ihn als Mensch erhebliche Nachteile erwarten. Aber er will es so. "Hinein in die Furt der Zeit, die Furt des Todes! Herab von unserem Ausguck der Ungeborenen!" Und dann findet er sich, abgestürzt und flügellos, auf der Erde irgendwo in Berlin wieder, blutet und weiß endlich wie Blut schmeckt. "Jetzt begreif' ich einiges!", sagt er da.

Für mich eine Analogie zum Weg Jesu.

"Gottes Sein ist im Werden" titelte Eberhard Jüngel eines seiner Bücher. Auf dem vom Philipperbrief beschrieben Weg in die Tiefe oder auf dem im Johannesevangelium beschriebenen Weg von Kana bis nach Jerusalem ist Gottes Sein im Werden. Gottes Sein im Wandel.
Der Gott der Schöpfung, der Gott vor der Menschwerdung
ist ein anderer Gott als der Gott des auferstandenen Christus.
Ganz anders die griechischen Götter, die - um sich unerkannt unter die Menschen zu mischen - nur ihre äußere Erscheinung verändern, aber ansonsten die Ewigselben bleiben.

Warum Gott sich auf diesen dynamischen und durch alle menschlichen Untiefen gehenden Prozess einlässt ist eine Frage, die ins Leere geht. Wir werden sie nie beantworten können.
Für unser Leben bedeutender ist die Frage, was sich durch diesen Weg Gottes für unseren Weg durch dieses Leben geändert hat.

Für mich hat diese Gottes-Reise durch alle Gegensätze hindurch im wahrsten Sinne des Wortes glaub-würdig beschrieben, dass Leiden, Zerbrochenheit, das Nicht-Wissen und das Unvollkommene einen Platz in Gott haben. Dass Leiden und Destruktivität nicht außerhalb Gottes zu denken sind, sondern dass die leidende und destruktive Wirklichkeit trotz allem Teil der Gotteswirklichkeit ist.

Damit ist auch eine Antwort auf die Frage, warum Gott das Leiden zulässt, vorsichtig in den Blick genommen. Insofern das Leid und das Leiden Teil der göttlichen Wirklichkeit ist, hat es einen tieferen, oft verborgenen Sinn, den wir, wenn wir ihn schon nicht begreifen können, so doch wenigstens glauben dürfen.

Darüber hinaus geht es in der Geschichte Jesu und im Philipperhymnus eigentlich auch nicht nur um die Frage wie wir die Dreieinigkeit Gottes und sein Verhältnis zum Leiden dieser Welt zu denken hätten.
Es geht Jesus, es geht dem Verfasser des Philipperhymnus in erster Linie um die Frage nach unserer Gesinnung, unserer Ethik. Wie wir unser Handeln begreifen, an welchen Maximen wir uns ausrichten.

Nicht umsonst lautet der erste Satz des Philipperhymnus - und jetzt einmal in der Übersetzung der Elberfelder Bibel:
"Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war."
Diese Gesinnung sei in euch!

Eine Gesinnung, die im "Sich Entäußern" besteht, im Lassen, im Loslassen.
Ganz anders als die Logik der spätkapitalistischen Ökonomie,
wo jeder sicherer, kompetenter und reicher
und keineswegs unwissender, ärmer und bedeutungsloser werden will.

Personalentwicklung heißt selbst in unserer Kirche nur äußerst selten:
Was kann ich denn lassen?
Wie kann ich mich denn ein wenig verkleinern und einflussloser werden?

Ein ver-rückter Gedanke!
Wie auch schon damals.
Der als König empfangene geht ohne Gegenwehr ans Kreuz. Der all-mächtige ohn-mächtig.

"Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war."

Die Torheit vom Kreuz, so hat sie Paulus genannt, ist auch heute noch Torheit genug.
Doch ist ja gerade die Fasten- und Passionszeit die Zeit, in der wir wenigstens einmal im Jahr, wenn auch eher verordnet, darüber nachdenken, wovon wir uns eigentlich binden lassen und was wir unserem Leben als "wie einen Raub" festhalten.
Was fürchten wir, wenn wir loslassen?
Und welche Zukunft wartet auf uns, wenn wir es doch wagen sollten?

Einmal mehr fällt mir der kluge Satz Kassandras ein am Tor von Mykene als sie zum Schicksal der Stadt befragt wird. Da sagt sie:

"Wenn ihr aufhörn könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehn."

Ein Satz, den wir heute gerne Politikern und Chefökonomen ins Lehrbuch schrieben.
Aber vielleicht ist ja schon viel damit gewonnen, wenn wir es in unsere eigenen Tagebücher schreiben.

"Wenn ihr aufhörn könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehn."

Ein wahrlich österlicher Satz!
Ein wahrhaft österlicher Weg, den wir da beschreiten dürfen!"
Vielleicht sollten wir ja auf diesem Wege durch die Straßen Tübingens ziehen.
Und wenn dann einer sagt: "Ha, jetz guck dir mol di a!"
Würd' ich sagen: "Aber bitte, und zwar ganz genau!"

Amen.

 

 

 

 

 

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