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Predigt in St. Michael am 12.Dezember 2010

Predigt zum 3. Adventssonntag (Marlies Mittler-Holzem)

Unser Glaube hält einige Zumutungen für uns bereit, egal ob wir mit dem Verstand oder mit unserer Lebenserfahrung drangehen:

  • Wir sollen glauben, dass das Heil für die Welt von einem Kind, einem wehrlosen, total abhängigen Säugling kommt - entgegen unserer Vorstellung, dass der Stärkere siegt und Macht nur diejenigen haben, die auch die Mittel haben, sie durchzusetzen.

  • Wir sollen glauben, dass der Tod nicht das Ende ist - entgegen unserer Erfahrung, dass der Tod eines lieben Menschen uns zurücklässt, einsam und ungetröstet.

  • Wir sollen glauben, dass der Gottesfriede näher kommt, wenn wir auf Gewalt verzichten - entgegen allen ausgetüftelten militärischen Strategien von "begrenzter Vergeltung".

  • Wir sollen glauben, dass bei Gott die Armen, die Rechtlosen, die Gedemütigten ein hohes Ansehen haben - entgegen unserer Gesellschafts-Konstruktion des "Hast du was, dann bist du was" und des "Hast du nichts, dann bist du selber schuld".

  • Wir sollen glauben, dass wir Gott in diesem Leben schon begegnen können, wenn wir uns unsere Schwäche und unser Ungenügen eingestehen können - entgegen aller Selbsthilferatgeber, die uns verkünden, dass wir grandios sind, so wie wir sind.

  • Wir sollen glauben, dass das Gottesreich mit der Geburt, dem Tod und der Auferstehung Jesu schon begonnen hat - entgegen unserem Augenschein bei den täglichen Nachrichten, wo uns von Hunger, Krieg und Folter berichtet wird.

  • Wir sollen aber auch glauben, dass das Reich Gottes, das Himmelreich noch auf uns wartet und eine im wahrsten Sinne des Wortes "über-irdische" Qualität für uns bereit hält - entgegen unserer Erfahrung, dass wir hier schon mehr als genug haben.

Erfahrungen und Gedankengebäude, die wir als widersprüchlich beurteilen, nennen wir paradox und wir haben das Bedürfnis, ein solches Paradox aufzulösen in eine beruhigende Eindeutigkeit hinein.

Eine solche Eindeutigkeit hatte offenbar die Gemeinde hergestellt, aus der wir in der zweiten Lesung gehört haben: Direkt nach Jesu Tod und der Auferstehungserfahrung der Jüngerinnen und Jünger war Begeisterung und Ausnahmezustand: "Der auferstandene Christus wird bald zurückkehren und damit das Ende dieser Welt einläuten und den Beginn der Gottesherrschaft". Dann aber verstrich die Zeit, keine Ankunft des Herrn, und damit wurden aus dem Ausnahmezustand Alltag, aus der Hoffnung Resignation, aus dem Warten Langeweile und aus der Unterschiedlichkeit Konflikte.

In der paradoxen Spannung zwischen Ausrichten auf das Gottesreich und Einrichten im Alltag hatten sie sich - so kann man zwischen den Zeilen lesen - für das Naheliegende, das Greifbare entschieden: "Da ändert sich sowieso nichts." "Was können wir schon tun." "Die anderen sind Schuld." Und sogar die Aufforderung des Briefschreibers an die Gemeinde, geduldig auszuharren, klingt für mich eher resigniert routiniert als begeisternd.

Im Evangelium wählt Jesus eine andere Strategie, mit der paradoxen Spannung aus harter Alltagsrealität und erlebbarem Gottesreich umzugehen. Johannes lässt aus dem Gefängnis - härter kann man sich den Alltag wohl nicht vorstellen - anfragen, ob Jesus der verheißene Messias ist, der Erlöser, der Retter der Welt. "Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?" Wie viel Druck und Not dahintersteckt: Macht es Sinn - so könnte man diese drängende Frage füllen - dass ich Qualen im Gefängnis erleide, dass ich in Lebensgefahr bin, kann ich mich auf dich verlassen, kann es Rettung für mich geben, in dieser Situation, die, menschlich gesehen, ausweglos erscheint?

Und Jesus? Warum sagt er nicht einfach "Ja, ich bin es"? Warum so umständlich: "Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet." Jesus benennt Ungewöhnliches, Überraschendes, Wunder-bares - für die Zeitgenossen Jesu Codewörter für die Ankunft des Messias und das Anbrechen des Gottesreiches. Ob Johannes diesen außergewöhnlichen Zeichen bei gleichzeitigem Ausharren im Gefängnis trauen will, muss er selbst entscheiden. Das - sagt Jesus mit seiner Antwort - kann nur er selbst entscheiden.

Und wir? Wenn wir ja Wunder sähen!
Für mich ist der Jesaja-Text der 1. Lesung eine Seh-Schule für die Wahrnehmung von Wundern:
"Die Wüste soll blühen, die Steppe soll prächtig blühen wie eine Lilie." Ein Übersetzungsversuch für das winterliche Tübingen: Grün soll aus dem Schnee hervorsprießen, die kahlen Äste sollen bunt blühen. Das ist eine Erfahrung, die wir machen können und regelmäßig im Frühjahr machen. Wir können das Dürre nicht mehr ertragen, wir sehnen uns nach Farbe und Wärme - und obwohl wir wissen, dass das Grünen und Blühen kommen wird, überrascht uns die Kraft des frischen Grüns und das Sprossen aus Verdorrtem jedes Jahr wieder. Lektion 1 der Jesajanischen Seh-Schule.

Lektion 2: "Dann werden die Augen des Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben usw." Manchmal geschehen Dinge, die sich unserer Erklärung widersetzen: Ich war in diesem Sommer in Dresden und habe die wiederaufgebaute Frauenkirche besucht. Dass das passieren konnte: Mauerfall, friedlich, das Zusammenwachsen dieser beiden deutschen Staaten, die Gestaltung von Landschaften und Städten, das Aufbauen von Kirchen - das lässt sich durch das akribische Zusammentragen von logisch aufeinanderfolgenden Tatsachen für mich nicht hinreichend erklären. Das war ein Wunder, eines von vielen als Beispiel.

Zum Gottesdienst am Mittag war die Frauenkirche übervoll mit Menschen, die gemeinsam für den Frieden in der Welt gebetet haben, obwohl dieser Frieden nicht in Sicht ist. Jesaja-Sehschule Lektion 3: Vor meinem inneren Auge brauche ich Bilder, die die Realität übersteigen, die einen Idealzustand beschreiben. Wenn das Wort von den Visionen nicht so abgenutzt wäre, dann wäre es genau das: Es wird keinen Löwen dort geben, kein Raubtier betritt diesen Weg, keines von ihnen ist hier zu finden… Die vom Herrn Befreiten kehren zurück und kommen voll Jubel nach Zion. Ewige Freude ruht auf ihren Häuptern, Wonne und Freude stellen sich ein, Kummer und Seufzen entfliehen." Ein Bild von einer besseren Welt.

Die Texte dieses 3. Advent laden uns ein, neben unserem hochentwickelten Blick für das Schlechte und Schwierige unseren Blick für Überraschendes, Wunderbares, Außergewöhnliche zu schärfen. Sie möchten, dass wir die Spannung, das Paradox aushalten zwischen den Erfahrungen unseres häufig banalen Alltags und unserem Idealbild einer besseren Welt, die wir ohne Gottes Hilfe offenbar nicht herbeiführen können - wir versuchen es ja schon eine Weile mit mehr und weniger Erfolg. Wenn wir die Spannung aushalten können, wenn wir das Paradoxe gleichzeitig denken, dann kann in uns eine doppelte Kraft entstehen:

Zum einen die Kraft, Gott immer wieder neu um sein Reich zu bitten: "dein Reich komme" endlich, bitte, Gott, wie lange noch…
Zum anderen die Kraft, Zeichen zu setzen, dass das Gottesreich schon angefangen hat, mit Jesus, mit Ihnen, mit mir: "Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest. Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht!"

 

 

 

 

 

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