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zur ersten Liebe
Ansprache
über Offb 2,1-7 am Altjahrsabend 31.12.2010 - 17.00 Uhr St. Michael
Tübingen (Thomas
Steiger)
Entgegen aller äußeren
Umstände könnte 2010 für die Katholische Kirche in Deutschland
ein gutes Jahr sein. Praktisch allerdings ist, daß es in unserer
Sprache den Konjunktiv gibt. Gut wäre das Jahr nämlich dann
geworden, wenn die Verantwortlichen und jeder einzelne Christ, also
wir alle als Kirche, die von Menschen gemachten Fehler wirklich und
ehrlich angenommen hätten; wenn wir nichts schön geredet oder
verdrängt hätten; wenn wir die Chance zur Umkehr und zum neuen
Anfang nutzen würden. Statt dessen wird allenthalben in vielen
Bereichen und gerade auch an den drängenden Problemen weitergemacht
wie bisher. Schließlich ist die Katholische Kirche eine Institution
mit Tradition und läßt sich nicht so schnell aus der Ruhe
bringen. Schon der apokalyptische Seher Johannes weiß um die damit
verbundenen Kräfte: Ich kenne deine Werke und deine Mühe und
dein Ausharren. Das ist schon gut so. Aber es genügt nicht. Du
hast ausgeharrt und bist nicht müde geworden. Schön. Aber:
die erste Liebe ... Von ihr werden wir gleich handeln müssen.
So bleibt mir nur festzustellen, daß das vergangene kein gutes
Jahr für unsere Kirche war, und zumindest was diesen Teil angeht,
auch kein gutes für die Weitergabe des Glaubens, für das so
dringende christliche Zeugnis in unserem Land und für die Ausbreitung
des Gottesreiches. Was geschehen ist bzw. was nicht geschah, was sich
daraus für Konsequenzen bei nicht wenigen ergaben, war jedenfalls
nicht förderlich, sondern kontraproduktiv: Viele, viele haben es
gewagt, sich endlich daran zu erinnern, daß sie als Kinder, Jugendliche
verletzt wurden, mißhandelt, gequält, ausgenützt von
Personen, denen sie absolut vertraut, für die sie alles getan hätten.
Mitarbeiter der Kirche und eben auch viele Priester haben ihre Position
und Autorität mißbraucht, um einen Mangel an Liebe, an menschlicher
Nähe und Zuneigung für sich zu erpressen - und haben dadurch
anderen unabsehbaren Schaden zugefügt. Du hast die auf die Probe
gestellt, die sich Apostel nennen, und es nicht sind, und hast sie als
Lügner erkannt. Es ist nicht zu weit hergeholt, die beißende
Amtskritik der Johannes-Apokalypse unmittelbar auf diese Vorgänge
zu übertragen. Der Titel bindet nicht an Gott. Umgekehrt wird der
ein priesterlicher Mensch sein, der sich von Gott in seinem Sinne führen
läßt. Alles andere ist eben Täuschung und Lüge.
Ich meine: Angesichts solcher Verantwortungslosigkeit und bewußter
Schuld gibt es nichts zu rechtfertigen. Schlicht nichts. Da gibt es
nur den Atem anzuhalten und jeden einzelnen Fehler einzugestehen - so
wie es echter Menschlichkeit stets gut ansteht. Mit Glauben oder Nichtglauben,
mit Kirche oder Welt hat das überhaupt nichts zu tun. Es zeigt
sich lediglich dabei, daß die Kirche durch und durch menschlich
ist, auch wenn sie Gefäß für Gott und seinen Willen
sein will. Je mehr sich aber in ihr das menschliche pervertiert, in
sein Böses verkehrt, desto weniger wird ihr das gelingen. Nicht
wenige Menschen in Deutschland sehen das so und kehren der Kirche deshalb
den Rücken. In unserer Diözese sind das 20.000 in diesem Jahr,
1%, in unseren Gemeinden in Tübingen eher mehr, zwischen 1 und
2%. Ich rate sehr davon ab, das zu bewerten, und damit von der kirchlichen
Verantwortung abzulenken. Wir müssen das Signal ernst nehmen, und
wir müssen es auf die Kirche beziehen. Nur dann wird uns die Kraft
zuwachsen, etwas verändern zu wollen - und zwar nicht nur kosmetisch,
sondern an den Punkten, wo es brennt. Und die kennen wir doch seit Jahrzehnten:
Priestermangel - keine weiteren Fortschritte in der Ökumene (nicht
zuletzt in der Frage der gemeinsamen Eucharistie) - Stellung der Frau
- Zulassung zum Amt des Diakons - Sexualmoral (Verhütung, Homosexualität,
Ehescheidung). Bischöfe und Laienverantwortliche der deutschen
Kirche propagieren einen Dialogprozeß, der nicht recht in Gang
kommen will, weil die Meinungen (v.a. unter den Klerikern) dazu unvereinbar
auseinandergehen. Nun soll er 2011 beginnen. Wenn der Dialog die oben
genannten Fragen nicht angeht, ist er zum Scheitern verurteilt, weil
die Sandkastenspiele kirchlicher Strukturreformen an ihr Ende gekommen
sind. Die Kirche in ihrer aktuellen Form ist am Scheideweg; und das
ist gut so. Weitermachen mit Umverteilungen der Arbeit und halbherzigen
Delegationen von Priestern an Laien können wir nicht mehr lange.
Wir brauchen eine radikale Umkehr, eine Rückkehr zu den ersten
Werken, das Zurück zur ersten Liebe. So formuliert es der Visionär
Johannes in seinem Schreiben an die Gemeinde von Ephesus. Und er wählt
damit für sein geistliches Ziel ein wunderbares Bild, nämlich
jenes von der ersten Liebe, und er verbindet es mit der Sorge, die Christen
von Ephesus könnten sie verlassen haben.
Nach der ersten Liebe müssen wir vor allem anderen bei uns fragen,
bevor wir allzu schnell bei der abstrakten Größe "Kirche"
landen. Meine erste Liebe: Tiefes Empfinden, Schmetterlinge im Bauch,
großes Gefühl, ein unaussprechliches Glück, alles andere
vergessen, schwelgen in Begeisterung, mich ganz verschenken an den Geliebten.
Johannes greift mit seinem Bild nach der Jugend, nach der Unschuld,
nach dem ahnungslos unbedarften, aber eben auch nach dem arglosen Anfang
von allem. Wie war das, als ich die Liebe entdeckte? Wie war das, als
einer mein Herz eroberte? Wie war das bei Jesus und mir? Dort sollen
wir nachspüren, dorthin zurück kehren. Und er verschärft
die Dramatik noch, indem er hinzufügt: Bedenke, aus welcher Höhe
du gefallen bist. Es gibt für Johannes also nichts Größeres,
als zu lieben, und zwar ohne jedes Kalkül, insofern er das zarte
erste Erkennen bemüht. Das ist für ihn das Höchste, solche
Liebe.
Sich davon anregen zu lassen, heißt dann aber auch, sich nicht
von den dringend notwendigen Reformen in der Kirche tyrannisieren zu
lassen. Ja, die brauchen wir. Aber sie sind nicht der Anfang, und wir
werden sie auch nur dann umsetzen können, wenn die entscheidenden
Menschen in unserer Kirche von jener ersten Liebe durchdrungen sind
und geleitet werden. Und das ist ein geistlicher Weg, ein biographischer
Prozeß, ein existentieller Vorgang, der jeden Christen für
sich selbst in Beschlag nehmen muß, bevor sich daraus soziale
Konsequenzen ergeben. Um weiter im Bild des Johannes zu bleiben: Ich
muß mich um meinen persönlichen Leuchter sorgen - auf daß
Gott eben nicht komme, um ihn von seiner Stelle wegzurücken. Ich
bin für mein Licht verantwortlich. Und nur wenn möglichst
viele das sind, wird der Verdunklung Christi in unserer Kirche gewehrt
werden. Du mußt zu deiner ersten Liebe zurück kehren!
Ich selber erinnere mich noch gut. Ich war 16 oder 17. Das Alter eben,
in dem man von der Liebe mit ungeahnter Kraft und in einer nie geahnten
Tiefe ergriffen wird. Aufregend und schön war das. Empfänglicher
sind wir wohl später nie mehr wieder für Neues, für Ideale
und Visionen. Jesus und die unbändige Kraft der Freiheit, die von
ihm ausgingen, waren mein Ideal. Ich war fasziniert davon und glücklich
darüber, einen Lebensstil und einen Sinn gefunden zu haben, für
den es sich lohnte, etwas zu tun. Der an das Gute in der Welt glaubte,
der konsequent war und kritisch. Insofern, ja, liebte ich Jesus, wie
ein Kind. So ist es heute nicht mehr. Nein. Leider. Das Gefühl
ist weg, hat sich verwachsen, wurde domestiziert. Aber die Klarheit
der Liebe und eine Ahnung von deren Kraft, die gibt es schon noch. Die
Umkehr zu ihr ist möglich. Und, was viel wichtiger ist, sie ist
nötig. Das, meine ich, wird der Weg unserer Kirche sein. Und wir
können in unseren Gemeinden damit anfangen.
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt - schreibt
Johannes. Und für den Fall des Sieges bietet er uns den Baum des
Lebens als Nahrung an, den Paradiesesbaum. Was sagt der Geist unseren
Gemeinden? Ich nenne abschließend drei Punkte, die ich höre,
und von denen ich mir vorstelle, daß es sich lohnt, diese mit
Ihnen und anderen in St. Michael und St. Pankratius weiter zu entwickeln:
(1) Wir müssen mehr
von der Existenz Gottes reden - mit Worten und Taten. Wenn es Gott gibt,
dann haben wir unsere Welt nicht in der Hand, nicht auf ihr und niemanden,
kein Geschöpf, keinen Menschen. Das zieht in der Konsequenz einen
ungeheuren Respekt nach sich. Den sollten wir viel mehr kultivieren.
Und andere sollten das an uns erkennen können.
(2) Wir müssen deutlicher betonen, was unseren Lebensstil als Christen
unterscheidet vom Mainstream. Das wird uns schwer fallen, weil wir auch
Teil des Ganz-Normalen sind, und nicht einfach ausbrechen, aussteigen
können und wollen. Aber es gibt Möglichkeiten: langsamer zu
sein, weniger sich am Erfolg zu orientieren, mit dem Einfachen zufrieden
zu sein, Energie zu sparen.
(3) Wir müssen uns mehr von den schlichten Wahrheiten leiten lassen,
die das Evangelium uns anbietet. Das erfordert eine Extra-Portion Mut,
weil vielfach in der Kirche auch die Gesetze gelten, die uns das Leben
schwer machen: den Feind lieben, dem Sünder vergeben, Almosen geben,
in der Zurückgezogenheit der eigenen Kammer beten.
Kehr zurück zu deinen
ersten Werken! Das schreibt uns Johannes ins Stammbuch heute, am letzten
Tag des alten Jahres, fürs neue. Es zu beherzigen wäre missionarisches
Zeichen genug für unsere Welt und für die Kirche selbst.
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