Predigten

 

Fastenpredigten in St. Michael 2011

Gott ...

... Mensch

1) Predigt in St. Michael (13.03.2011, 19 Uhr) -
"… niemand kommt zum Vater außer durch mich…" Das Gespräch über den Weg zum Vater
(Joh 14, 1-10) (Andreas Holzem)

Begrüßung

Ich begrüße Sie herzlich an diesem stillen Abend zur Fastenpredigt. Zeit für eine Stunde ruhigen gemeinsamen Nachdenkens am Beginn der Bußzeit. Wir wollen beginnen im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des hl. Geistes.

Einleitung

Fastenzeit ist die Zeit der Umkehr. Fastenzeit ist Risikozeit. Davon will die Reihe der Fastenpredigten in St. Michael in diesem Jahr sprechen.
Buße, Umkehr und Risiko sind nicht mehr allein eine Sache des armen Sünders. Sie sind, wenn wir Kardinal Lehmann folgen wollen, auch Sache einer sündig gewordenen Kirche. In dieser Zeit der Vertrauenskrise hat das Pastoralteam sich entschlossen, gemeinsam mit unserem Bischof neu nach den Wurzeln einer missionarischen Kirche zu fragen. Es geht um nichts weniger als die Grundlagen unserer Sendung. Und es geht darum, dass wir alle wieder eine hörende, eine vertrauende, eine suchende, eine menschliche, und in alledem eine riskierte Kirche werden.
Wir suchen neu unseren Halt. Nicht mehr in den Institutionen, nur noch in Gott selbst wollen wir unser Vertrauen festmachen. In einem Gott, der für uns seine eigene Menschwerdung riskiert. Daraus kann eine neue Haltung und ein neues Verhalten wachsen. Wie Gott uns Menschen sucht und aufsucht, so dann auch wir: in Liebe, Freiheit, Gelassenheit: Gott sucht den Menschen - Gott lässt den Menschen. Und dann hoffentlich: dann riskiert der Mensch von neuem seinen Gott. So ist unser Bogen gedacht für die kommenden Wochen.
Heute also der Halt, und in den nächsten Wochen Haltung und Verhalten. Halten wir uns daran, dass wir allem voran Beschenkte sind. Gott hat seine Geschichte mit uns immer schon begonnen. Gott hat schon immer die Menschen riskiert, wie sie waren. Und dann hat Gott das Ärgste riskiert: sein eigenes Menschsein.


Predigt

"Prinzipiell trostlos": Der Mensch als Frage und Wunde
Warum suchen wir überhaupt nach Gott? Warum wollen wir überhaupt den Vater erkennen? Die Botschaft von Gott ist nur dann eine "gute Nachricht", wenn sie uns eine Antwort gibt auf die letzten Fragen, die uns das Leben stellt, die Fragen, in denen wir "prinzipiell trostlos" (J. Habermas) sind, auf die wir von Grund auf keine eigene Antwort aus uns selbst haben.
Die hellen Rätsel unseres Daseins: Warum ist die Welt wie sie ist, mit ihrer Schönheit, ihrer Fremdheit? Warum bin ich? Und warum so, wie ich bin? Und dann die dunklen Rätsel: die Abgründe, die wir nicht füllen können, das eigene und das fremde Leid, die Katastrophen, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann - wie jetzt in Japan.
Prinzipiell trostlos lässt uns auch unsere Unfähigkeit, dauerhaft glücklich zu sein, nicht nur momentan zufrieden, die Brüchigkeit und Flüchtigkeit unserer guten Zeiten, die Wünsche, die mit jeder Erfüllung so rasch nachwachsen, die Rastlosigkeit unserer Jagden.
Welchen Sinn habe ich, unter Milliarden von Menschen? Meine so leicht austauschbare und ersetzbare Arbeit? Mein Schuften Tag für Tag, aus dem ein Lebenswerk nie werden wird? Mein Nummerndasein als Konsument, als Wähler? Was macht mich unverwechselbar?
Welchen Sinn hat es, wenn das Gute scheitert? Warum unterliegen die mit den besten Absichten, scheitern die, die es vertrauensvoll aufnehmen mit der Übermacht von Egoismus, Machtgier und Korruption? Warum zerfasern gute Anfänge, stirbt der Elan? Und was ist mit meiner eigenen Schuld?
Die letzte prinzipielle Trostlosigkeit ist der Tod. Derer, denen wir in Liebe verbunden sind. Mit denen wir vertrauensvoll etwas aufgebaut haben. Und die uns einfach wegsterben. Und dann alle die namenlosen Toten, in Lybien, in Japan - ach Gott, hinter der benachbarten Wohnungstür, auf der Kinderkrebsstation, auf der Autobahn. Und irgendwann ich selbst.

Halt und Trost: Gott riskiert das Menschsein

Gott ist uns eine Frage, weil wir selber uns eine Frage sind, prinzipiell ohne Trost und Rat und Antwort, die aus uns selbst kämen. Also gehen wir mit Jesus, durch Jesus, auf die Gottsuche. Für heute abend: drei Schritte.

I. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben: Das Menschsein Jesu

Was lässt Jesus uns denn erkennen, wenn wir nur durch ihn zum Vater kommen? "So etwas haben wir noch nie gesehen! … Eine neue Lehre mit Macht - nicht wie die Schriftgelehrten!" (Mk 1,22.27; 2,12) Wenn Jesus Gott durchscheinen lässt, dann steht der Mensch im Mittelpunkt. Nicht mehr eine numinose Natur. Nicht mehr ein Götterpantheon, das sich selbst genügt und Menschen wie Spielzeug behandelt. Das Göttliche nicht mehr auf Kosten des Menschen, auch nicht um Menschen zu vertrösten und ruhigzustellen. Zur Ehre Gottes trägt nur noch eines bei: die Menschwerdung des Menschen.
Jesus, so wie die Evangelien ihn zeigen, bringt keine neue Theorie, keine Weltanschauung, nicht einmal eine Religion. Was auch die Humanisten und die Marxisten und die Freaks und die Literaten fasziniert ist die Person. Jesus ist zunächst einmal Menschwerdung des Menschen - und gerade darin steht er in ganz einzigartiger Weise auf der Seite Gottes. Was am Wirken Jesu macht eigentlich solchen Eindruck?
Jesus fordert nicht den Glauben an sich selbst, sondern die Umkehr zum Reich Gottes. Diese Herrschaft Gottes ist kein Guerilla-Kampf gegen die römischen Besatzer, sie ist kein virtuos asketisches Maximalprogramm für Auserwählte, und sie ist kein sklavischer Gesetzesgehorsam. Reich Gottes ist die ganz unerwartete und ganz unerhörte, vor allem die ganz unwiderrufliche Nähe Gottes. Und sie gilt keinem auserwählten Rest, sondern allen. Wo Jesus das Reich Gottes predigt, regiert nicht der Bußschrecken, sondern die Freude. Alle Gleichnisse sprechen ganz entkrampfend von dieser Erlösung: einen Schatz im Acker entdecken (Mt 13,44), zu einem Festmahl eingeladen sein (Mt 22,1-10; Lk 14,15-24), ausgestreuter Samen bringt hundertfältige Frucht (Mk 4,8), ein Senfkorn wächst zu einer gewaltigen Pflanze (Mk 4,30-32).
Im Reich Gottes wird das Böse überwunden, wird Schuld bedingungslos vergeben wie dem verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) und der Ehebrecherin (Joh 8,1-11), wird mit Sündern und Zöllnern gegessen. "Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden", sagt Jesus zu Zachäus (Lk 19,9). Keine Bedingungen für die am Rande! "In der Herrschaft Gottes sollen endlich die Armen, die Hungernden, Weinenden, Getretenen zu ihrem Recht kommen. In der Herrschaft Gottes sollen Schmerz, Leid, Tod ein Ende haben. Es werden volle Gerechtigkeit, unüberbietbare Freiheit, ungebrochene Liebe, Versöhnung und Friede sein." (OHP 453)
Die Wunder unterstreichen den Anspruch Jesu, dass in seiner Gegenwart das Wirken Gottes keine Lehre, sondern eine Wirklichkeit ist. Darum sind sie Zeichen, keine Mirakel. Nicht alle werden heil, nicht alles Leid verschwindet, nicht jede Katastrophe wird ausgebügelt. Aber es scheint wie ein Blitzlicht auf, was gemeint ist mit der Hoffnung, dass Gott einst alle Tränen trocknet. Bemerkenswert ist die Zuwendung zu den Geplagten und um ihr Leben Gekommenen. Darin tut Jesus, was Herrschaft Gottes ist. Und zwar genau an denen, die alle anderen schon abgeschrieben hatten.
Das ist die Einsicht des Johannes im "Wer mich sieht…": Jesus ist zunächst einmal Menschwerdung des Menschen, auch für die Humanisten und die Marxisten und die Freaks und die Literaten, die mit Kirche nichts zu tun haben wollen, oder die zutiefst Enttäuschten, die es nicht mehr aushalten, etwas mit ihr zu tun zu haben. Jesus ist zunächst einmal Menschwerdung des Menschen - und doch steht er darin in ganz einzigartiger Weise so auf der Seite Gottes, dass wir es gar nicht übersehen können. Er gibt auf die Frage nach dem Menschlichen eine Antwort, die offenbar selbst bei jenen so nicht zu finden ist, die sich selbstlos als Kämpfer und Märtyrer einer Sache hingeben. Jesus wahrzunehmen, den menschlichsten Menschen, macht einen Überhang sichtbar, der vor die Glaubensfrage stellt: "Wer mich sieht, sieht den Vater." - "Glaubt an Gott, und glaubt an mich." Die Herrschaft Gottes kommt nicht als Sachinformation, sondern ist in diesem Menschen da, klein, keimhaft, auf Vertrauen setzend, aber eben so freudig wie anspruchsvoll. Gott hat es riskiert, so wird es die Kirche später ausdrücken, in diesem Jesus selbst in der menschlichen Welt zu sein. Das ist unser Halt, und nur deshalb haben wir irgendeinen Grund missionarisch zu sein: "Ich bin dieser Weg, diese Wahrheit, dieses Leben." Nicht "ich lehre" oder "ich bringe euch bei" oder gar "ich verlange" - sondern: "ich bin"! Das ist unser erster Halt, wenn zur Ehre Gottes der Mensch wirklich Mensch wird. Aber dieser Halt ist noch sehr vorläufig, auch wenn viele Jesusjünger und jüngerinnen heute sich genau damit begnügen.

II. Glaubst Du nicht, dass ich im Vater bin, und der Vater in mir? Der Gott Jesu

Auch wenn wir das oft zu wissen glauben: Nein, es ist nichts spezifisch Christliches, dass Gott "Vater" ist. Jesus verkündet den Gott Israels. Der Jude Jesus verkündet den Gott, der in der Geschichte anwesend ist, der einen Sklavenhaufen aus der Gefangenschaft befreit, der sie in die Wüste schickt und bis ins Elend des Exils mit ihrer Schuld konfrontiert, aber seinen Bund nicht aufkündigt. Und Jesus steht für einen Gott, der - wie sein auserwähltes Volk - erbittert Widerstand leistet, wenn irgend ein Mensch oder irgend ein Ding seinerseits zu Gott gemacht werden soll - oder irgendeine Ansammlung heidnischer Zuständigkeitsgötzen für Kriegsglück und gute Ernten; Götzen der tollen Jobs, der fetten Konten, der Fitness und Wellness, könnte man übersetzen. Stattdessen geht dieser Gott JHWH mit seinem Volk einen Weg, der es überhaupt erst möglich macht, aus diesen Erinnerungen und Erfahrungen eines wirklich verantworteten Lebens heraus über lange Zeiträume hinweg Geschichte zu denken und zu schreiben. Je länger je mehr keimt im Volk Israel die Hoffnung, dass dieser Gott über die Geschichte aller Menschen und der ganzen Welt herrschen möge. So ist JHWH der Vater seines Volkes.
Der größte Unterschied des Gottes Israels zu allem anderen, was in seiner Umgebung Gott genannt wird, ist, dass Gott spricht. "Wo andere nur ein unendliches Schweigen vernehmen, da hörte Israel eine Stimme." (H. Küng, OHP 510) Wo andere sich aus der Deutung von Schicksalsschlägen und dem Lesen in Tiergedärmen numinose Götterverhängnisse zusammenreimen, gibt Gott eine Thora, eine Weisung für gelingendes Leben im geschenkten Land. Es gehört elementar zur Gotteserfahrung Jesu, gelernt in Israel, dass diesem Gott geantwortet werden kann, im Jubel der Psalmen und der Hymnen, aber auch im Eingeständnis von Schuld und in der radikalen Klage. Das ist gemeint, wenn wir diesen Gott "menschlich" nennen und ihm ein "Antlitz" zuschreiben. Israel kann nicht nur von diesem Gott reden, sondern zu ihm. Und dieses "vor Gott stehen", dieses "den Mund auftun können" ist immer schon "Antwort auf den Gott, der zuvor zu ihnen geredet hat: Antwort auf sein befreiendes, führendes, forderndes, auch richtendes Wort, das sie in der Geschichte gehört haben." (OHP 510) In dieser Geschichtserfahrung mit Gott ist der Mensch ernster genommen als irgendwo sonst in der Umgebung Israels. Anders als die Götter Babylons, Assurs und Roms, anders aber auch als die Gottesideen der griechischen Philosophen hat der Gott Israels, der Gott Jesu, eine Beziehung zu den Gottesfragen der Menschen, zu den damaligen wie uns modernen: Wo hinaus soll es mit unserem Leben? Wo ist ein Sinn? Woher nehmen wir die Kraft für Gerechtigkeit? Aus welchen Quellen werden wir mitmenschlich? Wer trägt über das Scheitern hinweg? Warum bin ich als einzelnes Menschlein mehr als nur Dünger der allgemeinen Menschheitsentwicklung? Weil er, so sagt die Hebräische Bibel, unser Altes Testament, weil er mit seinem Volk eine Geschichte hat, ihren Weg mitgeht, spricht, befreit und fordert, und wir ihm antworten können.
Für diesen Gott Israels steht Jesus. Das heißt: den Vater erkennen. Schon jetzt ist sichtbar, dass diese Vaterschaft nichts geschlechtliches hat, nichts entschieden männliches, sondern etwas elterliches, sorgend und herausfordernd. Wenn "Zion sagt, Der Herr hat mich vergessen, Gott hat mich vergessen", dann antwortet Gott in den Worten Jesajas: "Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde, ich vergesse ihn nicht." (Jes 49,14f.) "Wie eine Mutter ihr Kind tröstet, so tröste ich euch." (Jes 66,13)
Aber Jesus sagt eben doch auch noch etwas Neues. Er steht restlos zum Gott Israels und akzentuiert doch anders. Er sagt: Die Herrschaft dieses Gottes ist nahe herbeigekommen. Und das wird sichtbar in einer besonderen Treue und unbegreiflich gütigen Nähe. Diese gilt, und das ist wichtig, dem einzelnen Menschen: "Mein Vater" - "Euer Vater", sagt Jesus.
Leid und Ungerechtigkeit und Schuld sind nicht in dieser Nähe Gottes einfach verschwunden, auch wenn Jesus im Namen des Vaters seine Zeichen dagegen setzt. Aber auch der Leidende und der Schuldige kann auf diesen Gott vertrauen, sogar die Bösen und Ungerechten, über denen die Sonne immer noch aufgeht (Mt 5,45). Diese Nähe Gottes ist das Ende einer Sorge, die sich tief vereinsamt nur auf sich selbst verlässt, denn das tun die Lilien auf dem Acker und die Vögel auf dem Feld auch nicht (Mt 6,25-33; Lk 12,22-32). Denn selbst für sie ist gesorgt - um wie viel mehr sorgt sich Gott um den Menschen. Jeden Menschen!
Und Jesus erzählt Geschichten und Gleichnisse, die über Gott etwas ganz Provozierendes, ja Empörendes aussagen: Der Vater rennt dem treulosen, zerlumpten Sohn entgegen [!], stellt keinerlei Bedingungen, fordert nichts, nicht einmal eine Entschuldigung oder Unterwerfung, und feiert ein Fest für ihn (Lk 15,11-32). Kein Orientale im wirklichen Leben hätte etwas so Würdeloses je getan! Und er hat nur einen Grund dafür: "Denn mein Sohn war verloren und ist wiedergefunden worden." Das gilt mehr als treues Daheimbleiben. Der Ton von Jesu Gottesrede liegt auf dem ganz Unwahrscheinlichen und gleichzeitig Unerhörten: "Wenn Worte einen Sinn haben, dann heißt das: Gott bevorzugt die Verlorenen. Er brüskiert die Treuen." (OHP 518) Gott ist wie ein Hirte, der neunundneunzig Schafe allein lässt, um das eine zu suchen, das ihm keineswegs dabei entgegenkommt! Gott ist wie eine arme Frau, die ein verlorenes Geldstück verzweifelt suchen muss, bis sie es gefunden hat, weil sie selbst darauf angewiesen ist (Lk 15,3-10). Gott kann auf das Verlorene nicht verzichten, weil er Gott ist! Für Hyperorthodoxe, für selbstbewusst Demütige, für Buchhalter der guten Tat ist das hartes Brot: "Ich sage euch: ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren." (Lk 15,7.10)
Darum isst Jesus mit den korrupten Kleinfieslingen der Besatzungsmacht, die bei uns verharmlosend Zöllner heißen; darum dürfen Prostituierte in seine Nähe, darum wird die Steinigung aufgehalten, wenn eheliche Treue misslingt. Darin wird etwas über Gott gesagt: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst Du sagen: Zeig uns den Vater?!" (Joh 14,9) Kann es einen größeren Halt geben als diesen? Können wir uns irgendwo fester machen als hier? "Der Mensch kann dem gar nicht ausweichen, dass Gott ihn liebt", sagt Karl Rahner.

III. Der Vater, der in mir bleibt, vollbringt seine Werke…

Die Frage nach Jesus ist die Frage an Jesus, welche Antwort er auf die Frage nach Gott hat. Man muss seine Antwort nicht besser finden. Die unerhörte Freiheit, die aus dem hingegebenen Glauben an diesen Gott entsteht… Die für Fromme jedweder Couleur schwer zu verkraftende Bereitschaft, die Letzten zu den Ersten zu erklären… Die Parteilichkeit für die Leute auf der Schattenseite des Lebens: Kranke, verrückt Gewordene, aus der Bahn Geworfene, und echte Übeltäter… Man muss diese Provokation nicht für die bessere Antwort halten. Das Eindrückliche am Leben Jesu bündelt sich "in seiner Konsequenz, seiner Treue zu sich selbst, seiner inneren Unabhängigkeit aufgrund der Gewissheit seiner Sendung, die Herrschaft Gottes zu verkünden und durch sie für die Menschen zu leben." (OHP 459)
Damit ist klar gesagt, wo der Halt eigentlich zu suchen ist: Es ist nur ein Anfang, den Humanisten Jesus aufzusuchen, wenn es um einen verlässlichen Maßstab für gelingendes Leben geht. Denn der Maßstab Jesu ist nicht eigentlich ein ethisches System, sondern eine herausfordernde Rede von Gott - und deren Verkörperung. Wir stehen nur dann auf der Seite Jesu, wenn wir uns von ihm an den Vater weisen lassen. Und darum geht es auch nicht an, diesen Jesus wie seinen Vater in ein frommes System einzukästeln und ihn kirchenkonform kaltzustellen. Missionarische Kirche werden wir nur, wenn wir uns selbst wieder stärker in Gott als in der Kirche gehalten wissen - und darin denen begegnen, die das frech und hemmungslos genauso halten. Darin liegt auch ein Trost: Man kann, wenn es hart auf hart kommen, bei Jesus bleiben, selbst wenn man die Kirche nicht mehr erträgt. Und darum brauchen die Kirchen keine Angst um sich selbst zu haben; Wahrheit und Beistand sind der Gemeinschaft der Glaubenden verheißen, die sich auf Gott verlassen, nicht der Gruppe der Kirchensteuerzahler. (OHP 540-545)
Das mag einleuchtend klingen, aber die eigentliche Provokation kommt noch. Denn das Ende von alledem ist das Kreuz - der grässlichste denkbare Tod. Kein heroischer "Leidensweg", keine prozessionale "Passion", sondern einfach nur: das Ende. Mose stirbt an der Grenze des verheißenen Landes, hundertzwanzig Jahre alt, in der Mitte seines Volkes (Dtn 34,1-7). Der Buddha verabschiedet sich mit 80 Jahren friedlich aus einem großen Kreis von Mönchen, Nonnen und Laien-Anhängern. Konfuzius bildet bis ins hohe Alter einen Kreis von Schülern, die seine Lehre weitertragen. Mohammed verbringt seine späten Jahre als Herr eines großen Reiches und scheidet in den Armen seiner Lieblingsfrau aus dem Leben. Jesus verreckt mit Anfang Dreißig, hat kaum Zeit gehabt für seine Mission. Ans Kreuz genagelt für das fingierte Verbrechen der Volksverhetzung. Langsames Ersticken unter unerträglichen Schmerzen. Und er stirbt allein: die Jünger geflohen, die Frauen ferngehalten, von Judas und Petrus wollen wir nicht reden. Keine Menschenseele. Und das älteste Zeugnis bei Markus: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Danach nur noch ein unartikulierter Schrei (Mk 15, 33-37).
Es gehört zum Eindrücklichsten an Jesus, dass er seinen Gott nicht aufgegeben hat, als für alle absehbar war, wohin die Dinge trieben. Als nach der Tempelreinigung (Mt 21,12-17, vgl. Joh 2,13-22) die letzte Demonstration für Gott getan war - wer mich sieht, sieht den Vater - gab es nichts mehr zu kämpfen. Danach blieb nur noch die ungeheure Qual, selbst nicht zu verstehen, warum Gott so ins Scheitern führt.
Wenn wir festen Halt suchen, dann müssen wir da mit hindurch. Am Abend des Karfreitag war die Sache Jesu wie ‚nie gewesen', seine Antwort auf die Gottesfrage wie ‚nie gegeben', sein Sinnentwurf tot. Niemand mehr, der dafür einstand. Und das heißt nicht weniger als dies: Halt finden wir nur noch in dem unerhörten Glauben, dass dieses Ende nicht das Ende ist. Denn das ist das Letzte, was wir mit all unserer klugen historischen Kritik noch sichern können: Das verschreckte, auseinandergesprengte Häuflein der Jünger, die Frauen zuerst, machen eine unerhörte Erfahrung, die stammelnd in die Worte gekleidet wird: "Er lebt." - "Er ist uns erschienen." - "Uns brennt das Herz." Und dann sehen sie ihn nicht mehr.
Das Rätselhafte daran ist, dass dieses Häuflein ungebildeter Anhänger nicht vorrangig seine Lehre weiterträgt, seine Verkündigung über die Herrschaft Gottes und über Gottes Nähe zu den Menschen, sondern dass sie ihn selbst in den Mittelpunkt ihres Glaubens stellen! Sie machen mit ihm nach Ostern offenbar Erfahrungen, die sie suchend in das Wort "Auferweckung" kleiden: Jesus, gestorben und begraben, "erhöht zum Vater". Und sie versuchen dieses Gottesgeschehen an Jesus zu begreifen, indem sie die Verhältnisse neu klären: Der Mensch Jesus ist "verherrlicht", ist "offenbart", der "Messias", "Gottes Sohn"! Und indem die Christen immer weiter über diese unerhörte Erfahrung nachdenken, begreifen sie nach und nach, dass Gott in Jesus sein eigenes Menschsein riskiert hat. Aber genau in diesem Rätselhaften liegt unsere eigentliche Hoffnung:
Warum nämlich muss unser Versuch, Halt zu finden, bis zu diesem für die damalige Welt ganz absurden Glauben fortgetrieben werden? Eben weil damit klar gestellt ist, dass die Menschwerdung Gottes nicht ein hübscher Erdenspaziergang im Palästina der Zeitenwende war, sondern dass Gott sich selbst auf das Schrecklichste einließ, was dem Menschen allen Sinn rauben muss: der Tod - dieser Tod! "Das bedeutet allen Ernstes: […] Das hoffnungsloseste Ende wurde zum Grund aller Hoffnungen." (OHP 564)
Hier sind die Theologen nicht mehr gefragt - hier ist die Armut des Wissens total. Hier bleibt nur noch eine Frage, eine Entscheidung. Und zu wissen gibt es lediglich, welche Antwort Maria Magdalena und die anderen Frauen und die Apostel auf diese Frage gegeben und wofür sie sich entschieden haben: Willst du dein Leben auf den Glauben gründen, dass Jesus, gestorben und begraben, so lebt, dass in seinem Leben die Hoffnung für uns alle liegt - wenn der Sinn unseres irdischen Lebens fraglich ist und gewiss nur die Verfallenheit an den Tod. Ohne diesen Sprung des Osterglaubens ist die Hoffnung auf die Nähe Gottes, auf die getrockneten Tränen, auf die überwundene Marter schlicht ins Grab gelegt, zu schön um wahr zu sein. "Eine Christusbotschaft, die nicht gerade das sagt: Er lebt, wird vor den wirklichen, radikalen Fragen des Menschseins buchstäblich uninteressant." (OHP 611) Denn das Entscheidende darin ist doch - über den Jesus-Humanismus hinaus, auch über Jesu Gottesverkündigung hinaus: Im Bekenntnis "Er lebt" liegt auch unser Leben beschlossen. Die Auferweckung Jesu ist die letzte Konsequenz der Botschaft von der heilenden und rettenden Nähe Gottes, von der Jesus ausdrücklich sagt, dass sie nicht nur ihm gilt, und nicht nur den Frommen. Uns allen im Angesicht unserer Kreuze und Tode muss Gottes Nähe gelten, als Protest gegen die Bedeutungslosigkeit des durchschnittlichen Lebens, erst recht des drangsalierten, gequälten und zerstörten Lebens. An die Auferweckung Jesu glauben heißt Hoffnung über den Tod hinaus für alle zu haben, heißt Gott so ernst zu nehmen wie Jesus ihn nimmt: als Gott des Lebens. Es ist Teil dieses Rätsels, und zwar das Schöne daran, dass ich das nicht auch noch glauben muss, sondern dass ich das glauben darf. Hier kommt überhaupt erst die Kirche ins Spiel, als Ort, an dem diese rätselhafte Osterfreude weitergetragen wird. Und alles, was es in einer missionarischen Kirche gibt, muss sich daran messen lassen, ob es dem Weitertragen der rätselhaften Osterfreude dient.
Erst hier gewinnt das Wort des Johannes sein volles Gewicht: "Euer Herz lasse sich nicht verwirren. Glaubt an Gott und glaubt an mich! … Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten. … Und wohin ich gehe, den Platz kennt ihr. … Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich."

Welch ein Halt!

 

Literatur

" Edward Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg/Br. 1975/1992.
" Otto Hermann Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 1,1: Die Geschichte der Menschen mit Gott. Wort Gottes und Theologie, Christologie, Ostfildern 2008.
" Michael Theobald, Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2010.

 

 

 

 

 

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