Predigten

 

Mit Abschieden leben
Ansprache über Joh 17,1-11 am 7. Sonntag der Osterzeit
11./12.5.2002 in St. Michael Tübingen und Bühl

Ein ermordeter Politiker, Stein des Anstoßes wegen seines provozierenden Auftretens, seiner radikalen Ansichten über die Zukunft der Niederlande, aber auch Abbild der Gesellschaft, aus der er stammt: reich, schick gekleidet, gebildet, schwul, unverblümt direkt. Pim Fortuyn wurde erschossen, alle sind betroffen, viele trauern, seine Familie, seine Freunde. Die holländische Nation nimmt Abschied.
Weiß sie überhaupt von wem, und mit welchem Ziel sie Abschied nimmt? Ehrliche Abschiede, bewußt erlebte, dürfen nicht folgenlos bleiben!

Abschied auch in Erfurt, tagelang, noch immer. Konsequenzen werden lautstark verlangt: schulpolitisch, strafrechtlich, mediensoziologisch muß es anders werden in unserem Land. Wie erkennen wir die Gefahren, die sich im Herzen und Hirn eines Menschen zusammenbrauen zu einem unbeschreiblichen Amoklauf? Vorstellbar ist so eine Tat beileibe doch gewesen; was in den USA geschieht, läßt bei uns nicht lange auf sich warten, zu sehr ähneln sich die politischen und wirtschaftlichen Interessen, zu sehr auch die vorherrschende Ideologie. Was muß anders werden in der geistigen Verfassung unserer Gesellschaft, damit solcher Wahnsinn verhindert werden kann? In welche Zukunftsmaßnahmen investieren wir? - So mischt sich in den Abschied hinein der Ruf nach Gewissensbildung, nach verläßlichen Werten und strengeren Gesetzen. Politische Aufregung und die Stille der Zeremonien: Kondolenzbücher in den Schulen, Blumen am Tatort, Gebete und gute Gedanken auf dem Domplatz. Die ganze Nation trauert.

Aber wird sich tatsächlich etwas verändern, das Richtige? Was nützt uns alle Trauer, wenn sie an der Oberfläche bleibt, nicht eindringt in die Tiefe des Menschenwesens, in die Seele Deutschlands? Wenn wir nicht nur die Bilder im Fernsehen betrachten, sondern tatsächlich betroffen sind von der Katastrophe, wenn Sie und ich wahrhaftig Abschied nehmen von den Lehrerinnen und Schülern - dann muß Erfurt mein Leben verändern. Jeder echte Abschied verändert nämlich das Leben, und das ist gut so, wäre es!

Auch in unserer Gemeinde gibt es Abschiede: Eltern müssen den überraschenden Tod ihres neugeborenen Kindes überstehen, Jugendliche das Aus ihres Traumes vom problemlosen Schulleben, Paare die abgrundtiefe Krise, das Zerbrechen ihrer Partnerschaft/Ehe bearbeiten, Gemeindemitglieder ihren Traum vom Reich Gottes in Tübingen realistisch verändern. Und mancher Pfarrer lernt es schließlich doch noch, daß auch er die Kunst nicht wird erschaffen können, es allen recht zu machen.

Ob es bei nächsten Mal schon besser geht, leichter, menschlicher beim zweiten Abschied? Das wäre ein Gradmesser für den gelungenen ersten Versuch, daß sich dasselbe nicht wiederholt, unverändert, sondern daß ich ein anderer bin, und womöglich ein bißchen bereits JA sagen kann zu dem, was sich ereignet an Ver-änderungen, an Sterben in meiner Existenz.

Liebe Schwestern und Brüder,
Abschiede sind schwer. Sie treiben uns in die Enge, machen unser Herz hart, lassen uns den Atem anhalten. Aber, sie sind menschlich, sind Teil jeden Menschenlebens. Sie nicht zu realisieren, zu verdrängen gar, nicht mit ihnen umzugehen, ist im Grunde unmöglich. Wer es trotzdem versucht, gerät aus der Bahn, oder bleibt in seiner Entwicklung stehen, ein unreifer Mensch.

Ich erinnere mich sehr gut an einen Abschied, den ich sehr bewußt erlebt habe in meiner Lebensgeschichte, der sich jahrelang hingezogen hat, und der nicht anders als schwierig und anstrengend zu nennen war: meine Abnabelung aus der Familie, vom Elternhaus, von der Mutter; verbunden natürlicherweise mit einem Abschied von den Lebensgesetzen, Prioritäten und Denkwegen, die über die Jahre der Kindheit und Jugend prägend und selbstverständlich waren. Dieser Abschiedsprozeß war lang, kompliziert und hart über weite Strecken, verbunden mit Tränen und Drohungen, mit Streit und Versöhnung. Am Ende sind dabei drei andere Menschen heraus gekommen, Mutter, Vater, Sohn, 1-2 Schritte weiter in ihrer Entwicklung. Und ich bin fest davon überzeugt, daß ohne diesen Weg des Abschiednehmens ich heute nicht so wäre, wie ich bin, womöglich gar nicht hier wäre, nicht in diesem Beruf, nicht mit einer Einstellung zum Leben und zu Gott, die mir Freude bereitet und mich über weite Strecken hinweg glücklich macht, einfach gerne leben läßt.

Ob solche Überlegungen zum Muttertag passen? Ob meine Mutter sich darüber freute, so fern von Romantik und Nettigkeit wie sie sind? Ich weiß nur, daß ich dankbar bin für Eltern, die - zwar mit Widerständen, aber dennoch - diesen Abschied mit mir gegangen sind. Und ich wünsche allen Eltern (schon den Tauffamilien heute mit ihren Babies!), den Müttern an ihrem Tag besonders, die Weitsicht zu erkennen, wann es gilt, loszulassen von ihren Kindern, und dazu die Erkenntnis, wie notwenig so ein Abschied ist für neues, gelungeneres, besseres Leben in der Zukunft!

Vielleicht fragen Sie sich ja, liebe Schwestern und Brüder, warum ich Ihnen das alles erzähle, und warum ich das Thema Abschied in einer Predigt so in den Mittelpunkt stelle. Einleuchtender Auslöser dafür ist die Tatsache, daß wir heute einen Text als Evangelium hörten, der im Johannesevangelium zum größeren Komplex der Abschiedsreden Jesu gerechnet wird. Genauer gesagt handelt es sich dabei im Rahmen der Kapitel 14-17 um den Abschluß, wie nämlich Jesus seinen Abschied von den Jüngern in ein groß angelegtes Gebet an den Vater münden läßt. Jesus also lebte selber abschiedlich, gestaltete ihn mit/für seine Jünger, wußte, daß es klug ist, die Frauen und Männer an seiner Seite auf die Trennung von ihm vorzubereiten: auf daß sie hoffentlich verstünden, was sein Leben bedeutet und sein Sterben. Eben kein Ende, keine unüberwindliche Katastrophe. Hätten die ersten Christen das Kreuz Jesu als absolute Vernichtung verstanden, hätten sie darin nicht den Funken des ewigen Lebens erfahren, von dem Jesus in seinem Gebet beharrlich spricht, hätte er sie nicht gelehrt, seinen Abschied aus dieser Welt mit ihm zusammen zu vollziehen - wir alle säßen heute nicht so hier, liebe Brüder, liebe Schwestern.

Deshalb ist mir der Blick auf die Abschiede in unserem Leben so wichtig, weil mit ihnen zu leben nicht nur eine zutiefst menschliche, sondern auch eine religiöse Grundhaltung ist. Im Laufe seines Lebens könnte ein Christ, könnten wir lernen und uns darin einüben, daß wir um Gottes willen nicht für das irdische Leben bestimmt sind. Vielmehr könnten wir mit unseren kleinen und großen Abschieden, die unsere Biographie uns abverlangt, uns einstellen auf den großen Abschied, auf den wir unabänderlich zusteuern, nicht ziellos hoffentlich, nicht ängstlich. Prüfen Sie sich, Schwestern und Brüder, ob die Abschiede ihrer Lebensgeschichte, die gelungenen selbstverständlich, die ehrlichen, ob die nicht bereits eine reale Hoffnung in Sie eingepflanzt haben, daß wir einmal in Gott verherrlicht sein werden - um die Worte des Johannes noch einmal zu gebrauchen.

 

 

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