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Gottessehnsucht
- Predigt über Lk 21,25-38.34-36
1. Adventssonntag C - 29./30.11.2003 in Tübingen
Es wir gesagt, daß
die Jugend in unserem Land ohne Orientierung aufwachse.
Die Rede davon, daß Werte in unserer Gesellschaft keine Rolle
mehr spielen, ist zum geflügelten Wort geworden.
Theologen sprechen
angesichts der Glaubensverdunstung von einer nachchristlichen Zeit.
Überall wird von Geld
gesprochen in diesen Tagen, aber zu welchem Zweck es ausgegeben werden
soll vernünftigerweise, wissen alle und niemand zu sagen.
Die gemeinsame Sorge um die schwächsten Glieder in unserer Volksgemeinschaft
bricht zusammen. Ohne nennenswerten Widerstand geschieht dies; auch
die Kirche, auch wir schauen dabei zu.
Wie also, liebe Schwestern
und Brüder, ist es um das innere Gleichgewicht in unserem Gesellschaftssystem
bestimmt, das einmal Lebensraum für alle sein wollte, solange der
Glaube an den Gott Jesu Christi ein bestimmendes Moment darin war; nicht
nur papiernes Feigenblatt des Grundgesetztes und der Landesverfassung
in Baden-Württemberg, sondern handlungsleitendes Prinzip: Die Ausrichtung
am Evangelium half einmal, bestimmte Dinge zu tun und andere zu lassen,
weil sie nicht vereinbar waren mit Gottes Schöpfungsordnung, mit
dem besonderen Augenmerk, das Jesus im Namen dieses Gottes auf die Armen
aller Art gelenkt hatte.
Heute statt dessen: Kein
Geld mehr für Lebensberatung, Schulsozialarbeit, Telefonseelsorge,
für die Betreuung von schwer erziehbaren Kindern und psychisch
Kranken, für Arbeitslose und hilfesuchende Ausländer. Kein
Geld mehr! Und das bedeutet ja im Klartext: kein Interesse mehr, unnötiger
Ballast. Wenn dahinter nichts steht, keine Entscheidung, die über
die Finanznöte hinaus ginge, wäre das schlimm genug. Steht
dahinter jedoch ein inhaltliches Prinzip, dann ist mir bang um unser
Zusammenleben, bang um das Gerüst aus Überzeugungen und Maßstäben,
die unsere Gesellschaft zusammen halten sollten.
Stimmt es also, daß
das Geld die Entscheidungen bestimmt, die getroffen werden? Daß
nicht mehr wir aufgrund von Überzeugungen die Entscheidungen treffen,
wofür wir uns einsetzen wollen (mit unserem Reichtum an materiellen
und geistigen Gütern, die wir im weltweiten Vergleich in großer
Fülle haben), was wir als unverzichtbar benennen für ein Leben,
das sich lohnt so genannt zu werden, für ein Leben, das dem Geist
vor dem Geldbeutel den Vorzug gibt?
Wenn nicht, liebe Schwestern
und Brüder, dann fürchte ich, nähern wir uns dem apokalyptischen
Szenario an, das uns am Beginn des Advents in jedem Jahr vor Augen geführt
wird. Es sind Bilder von eindrücklicher Dunkelheit und Schwere,
die dem Hörer die Dringlichkeit umzudenken vor Augen und Ohren
führen wollen. Wenn wir so weiter machen, nicht umdenken und umkehren,
wenn wir nicht Sorge tragen für eine überzeugende Gerechtigkeit,
die allen Menschen Leben ermöglicht, dann werden - wie Lk es formuliert
- die Völker bestürzt und ratlos sein,
die Menschen
vor Angst vergehen,
die Kräfte des Himmels erschüttert
werden. Ja, von unserem Wollen hängt viel ab. Und offenkundig wollen
wir aus den alten Gleisen nicht ausbrechen, wollen lieber ICH als WIR
sagen, wollen die Augen verschließen vor den Notwendigkeiten,
wollen Gott Gott sein lassen, ihn im Gottesdienst verehren und doch
so leben, als gäbe es ihn nicht, als hätte sein Sohn uns das
göttliche Modell zu leben nicht unmißverständlich vor
Augen geführt. Dabei wäre doch der 1. Advent ein unvergleichlich
günstiger Moment. An keinem zweiten Sonntag im Jahr ist der Neuanfang
so programmatisch verankert wie heute. Ein neues Kirchenjahr, eine neue
Runde im Lauf des Christenlebens und dazu der schonungslose Blick auf
die Gesetze einer Welt ohne Gott einerseits und das erneuerte Heilsangebot
Gottes andererseits. Wenn all das beginnt, sagt Jesus bei Lk, dann richtet
euch auf, und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist
nahe.
Die auf das Ende der Welt
ausgerichteten Bilder der apokalyptischen religiösen Denkart lenken
unsere Konzentration auf die ernüchternden Tatsachen unserer derzeitigen
Welt, unseres persönlichen Lebens. Es ist ein starker Realismus,
zu dem wir aufgefordert werden: nicht uns in eine religiöse Scheinwelt
zu flüchten, nicht uns zu vertrösten auf ein Jenseits ferner
Gestade und Zeiten, sondern das zu sehen, was es zu sehen gibt. Die
Gefahr einer Welt ohne Gott nämlich, damit ohne innere Werte, ohne
Bündelung der überstrapazierten Individualität unserer
Tage. Wer heute richtig hört, meine ich, kann diese Not auch bei
sich selbst nicht übersehen. Kaum einmal war die Gefahr so groß,
an irgend etwas zu glauben, nur nicht an den Gott, für den Jesus
Christus mit den großen Spannungen seiner Existenz steht: zwischen
Glück und Tod, mit einer die Grenzen unserer Vorstellung sprengenden
Liebe, die sich erst in der Hingabe am Kreuz, im Tod aus Liebe letztlich,
erfüllt. Von solcher Freiheit scheinen wir meilenweit entfernt
zu sein, aberzogen hat man es uns seit Kindesbeinen, abtrainiert auch
im innerkirchlichen Denken.
Dabei wäre die Sehnsucht
nach Gott groß. Und dies ist der andere Akzent des 1. Advents,
liebe Brüder, liebe Schwestern. Wacht und betet allezeit, damit
ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn hintreten
könnt. Wenn Gott das ist, was der religiöse Urimpuls beinhaltet,
die Erfüllung unserer Suche nach dem Sinn unseres Daseins, dann
müssen wir uns danach sehnen mit jeder Faser unseres geistigen
Vermögens. Nur leider scheint diese Gottessehnsucht überlagert
zu sein, verdeckt durch die vielen kleinen Sehnsüchte, die uns
vorspiegeln, unser Leben sei bereits heil und gut. Eben davor aber warnt
uns Jesus, wenn er sagt: Die Erfüllung eures Lebensglücks
steht noch aus. Ihr findet sie nicht in euch selbst, nicht in den befriedigten
Bedürfnissen nach Gesundheit, nach Wohlstand und Erfolg. Sie liegen
nicht in dem begründet, was wir Menschen uns selbst sagen können.
Nein, die Erlösung ist allein in Gott begründet, in der grenzenlosen
Begegnung mit ihm. Darauf richtet eure Gedanken aus. Unter diesem Vorzeichen
gestaltet euer Zusammenleben mit den vielen, die diese Sehnsucht in
sich tragen, mit allen Menschen!
Nehmt euch in acht, daß
(
) die Sorgen des Alltags euch nicht verwirren und daß jener
Tag euch nicht überrascht, so, wie man in eine Falle gerät.
In der Geburt Christi, die wir in 3 ½ Wochen an Weihnachten feiern,
ist Gottes Vorgeschmack der Erlösung bei uns angekommen. Heil-Sein
ist keine blanke Theorie mehr, nein, sie ist Realität und soll
es immer mehr werden für jedes Menschenkind auf Erden. Wen diese
Nachricht erreicht hat, der kennt die Gesetze und Werte, die zu Gottes
Gerechtigkeit führen und der kennt ebenso den Weg für sich
selbst.
Was Sie dafür tun müssen,
liebe Schwestern und Brüder, das wissen Sie selbst gut genug. Ob
Sie und ich auch Taten folgen lassen und Worte an der rechten Stelle?
Zu nichts anderem lädt uns die Adventszeit ein, die Wochen der
Erwartung, mit ihrem Bräuchen, mit Besinnung und Zusammenkommen,
mit Licht in dunkler Nacht und Zeichen der Liebe.
Amen.
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