Predigten

 

Predigt: Lk 17, 20-24
»Jesus kündigte das Reich Gottes an, gekommen ist die Kirche.«
sagt Alfred Loisy.

Liebe Gemeinde!
Wann kommt das Reich Gottes?
Ist das noch unsere Frage?
Rechnen wir noch mit dem Kommen des Reiches Gottes?
Rechnen wir noch mit der Zeit der Gnade und dem Tag des Heils, wies es uns im Wochenspruch zugesagt ist?

Mit einer Zeit, in der Gott in Friede und Gerechtigkeit die Völker um sich versammelt?
Bestimmt diese Frage noch unsere Kirche? Manchmal scheint sie doch recht weit davon entfernt gewesen zu sein.

Ein Beispiel aus der Vergangenheit: Heute vor 65 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannte auch hier in Tübingen die Synagoge. Der Brandgeruch lag noch über der Stadt als am Abend des 10. November mehrere Gremien der Evangelischen Kirchengemeinde Tübingen ihre regulären Sitzungen abhielten. In den Protokollen blieben die Vorgänge der Nacht unerwähnt. Hat man darüber überhaupt gesprochen.

(Heute wissen wir, dass die Geschehnisse dieser Nacht für die Nationalsozialistischen Machthaber ein Test waren, ob es Widerstände gegen die Verfolgung der Juden aus der Bevölkerung geben würde.... Dieses Wissen macht das Schweigen der Kirchen noch unerträglicher)

Und heute? Heute scheinen die Kirchenleitungen vorwiegend mit fehlenden Kirchensteuereinnahmen und einem drohenden Imageverlust beschäftigt zu sein. Wann verlassen die letzten Mitglieder die Kirche? Diese Frage scheint drängender zu sein als die Frage: Wann kommt das Reich Gottes?
Die Pharisäer bei Lukas meinen sie ernst. Es ist keine Fangfrage, um Jesus aufs theologische Glatteis zu führen. Das Lukas-Evangelium kennt die Pharisäer nicht als Feinde Jesu, sondern als kritische Frager. Sie respektieren Jesus als Lehrer und Jesus nimmt sie als Fragende und Gott Suchende ernst.
Sie haben ihr Leben darauf ausgerichtet, durch Fasten, durch Gebete und durch ihr Handeln Gottes Geboten zu folgen und sich so auf das Kommen der Gottesherrschaft vorzubereiten.

Ihnen antwortet Jesus:
»Das Reich Gottes ist mitten unter euch.«
In evangelischer Freiheit ruft er ihnen zu: Es ist genug! Indem ihr Gottes Geboten folgt, habt ihr schon jetzt Teil an der Herrschaft Gottes. Es bedarf keiner weiteren Werke, keiner weiteren Bedingungen mehr.

Immer dann, wenn Menschen das Glaubensbekenntnis sprechen »Höre, Israel, dein Gott ist einer«, ist Gott schon König, ist Gottes Herrschaft über diese Welt bezeugt, so sagt es die jüdische Weisheit.

Die Frage nach dem Zeitpunkt seines Kommens wird mit dieser Antwort hinfällig.
Endzeitausrechnern erteilt Jesus eine eindeutige Absage, damals und heute. Auch zur Zeit Jesu beobachteten Menschen die Sterne, um auszurechnen, wann das Reiches Gottes kommen wird. Doch diese Art der Zukunftsvorhersage führt nur weiter weg vom Reich Gottes.

Wenn es aber keine Frage des Zeitpunktes ist, ist die Frage nach dem Reich Gottes denn nur eine Frage der richtigen Gesinnung? Martin Luther legt diesen Gedanken nahe, wenn er übersetzt: »Das Reich Gottes ist inwendig in euch.«
Ich denke, wir machen es uns zu leicht, wenn wir das Reich Gottes auf eine seelisch-geistlichen Dimension beschränken: Jesus geht es hier um ein sichtbares und öffentliches Zeugnis von Gottes Herrschaft in der Welt.

Das zeigt die Geschichte, die unmittelbar vor unserem heutigen Evangelium erzählt wird: Jesus heilt 10 Männer von Aussatz. Nur einer der 10 Geheilten kehrt um zu Jesus. Er preist Gott, wirft sich Jesus zu Füßen und dankt ihm. Nur diesem einen sagt Jesus: »Steh auf, geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.«
»Wann kommt das Reich Gottes?«
»Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.«
Das ist Jesu Antwort an die Pharisäer. –

Interessant ist aber: Seinen Jüngern gibt er eine andere Antwort.
»Es wird kommen die Zeit, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen Tag des Menschensohnes, und werdet ihn nicht sehen.«
Auch diese Antwort müssen wir hören und auf uns wirken lassen. Noch ist diese Zeit nicht da. Noch ist Jesus unter ihnen. Noch können die Jünger ja sehen, was geschieht:
»Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Armen wird das Evangelium gepredigt.«

Doch was wird sein, wenn ER nicht mehr bei Ihnen ist? Sie haben ja alles aufgegeben, um ihm zu folgen. Er ist das Zentrum ihres Lebens geworden. Was wird sein, wenn dieses Zentrum fehlt?

Jesus sorgt sich um seine Freunde. Er weiß: Das Reich Gottes ist jetzt für sie sichtbar, aber es wird eine Zeit des Leidens und der Verfolgung kommen, in der sie sich danach sehnen werden, und es wird nicht kommen.
Wie heute gab es auch damals Menschen, die Heilslehren in der Öffentlichkeit verkündeten, aus was für Gründen auch immer - sei es, um sich wichtig zu machen, sei es, weil sie wirklich daran glaubten, sei es, weil sie einfach auf wirtschaftlichen Profit aus waren.

Vor ihnen warnt Jesus seine Jünger:
»Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!«
Folgt ihnen nicht, wenn Ihr von den Mächten verfolgt werdet, die auch mir nach den Leben trachten,

In Zeiten von Leid und Verfolgung werdet ihr euch nach dem Reich Gottes sehnen. Doch gerade dann, wenn ihr darauf wartet, werdet ihr es nicht sehen, auch nicht einen Zipfel davon. Wenn es aber kommt, dann ist es unübersehbar wie ein Blitz, der leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern.

Drei Dinge treffen ein, wenn man nicht an sie denkt, sagt der Talmud, die jüdische Auslegung der Bibel: der Messias, der Fund und der Skorpion.

Auf unterschiedliche Weise sehen die Pharisäer und die Jünger dem Reich Gottes entgegen, doch gemeinsam ist ihnen die Sehnsucht danach.

Und wie geht es uns, liebe Gemeinde? Treibt uns die Sehnsucht nach dem Reich Gottes um? Oder geht es uns wie den Menschen zur Zeit Noahs und zur Zeit Lots?
Von ihnen spricht Jesus in den folgenden Versen unseres Evangeliums. Ich lese die Verse 26 – 30:

Die Leute zur Zeit Noahs und Lots lebten dahin. Sie gingen ihren täglichen Geschäften des Lebens nach, kauften und verkauften, aßen und tranken, bauten und pflanzten, heirateten und ließen sich heiraten. Sie taten nichts Böses. Sie waren zufrieden und sich selbst genug.

Was unterscheidet uns von ihnen? Sind wir nicht auch mit unserem Leben ganz zufrieden? Geht es dem Großteil von uns nicht im Grunde nach wie vor gut, trotz Sozialabbau und Rentenkürzungen?

Wenn es nicht die individuelle Lage ist, die nach einer Veränderung schreit, dann mahnt doch der 9. November 1938 daran, dass diese Welt nicht so bleiben kann und darf, wie sie ist.

Die Erinnerung an jene Nacht im November 1938 kann uns empfindsam machen für Menschen, die heute ausgegrenzt werden:
- Menschen, die aufgrund neuer Technologien auf dem Arbeitsmarkt keine Anstellung mehr finden, und das Gefühl bekommen, einfach nicht mehr gebraucht zu werden,
- Menschen, die persönlich adressierte Post nur noch von Werbefirmen bekommen und sonst keine Zuwendung mehr erfahren,
- Menschen der südlichen Welthalbkugel, die vor Dürrekatastrophen oder Umweltvergiftungen fliehen, weil das Land oder das Wasser, von dem sie bisher lebten, plötzlich Privatbesitz geworden ist.

Was können wir tun? Diese Frage lässt uns oft hilflos zurück.
Das, was der eine oder die andere hier und da tut, kommt einem so unbedeutend vor angesichts der Probleme dieser Welt

Der nicaraguanische Dichter, Priester und Politiker Ernesto Cardenal, der mit Armen in seinem Land gelebt hat, hat unser Evangelium so verstanden:
»Wann kommt das Reich Gottes?
Wir sind noch nicht im Festsaal angelangt, aber wir sind eingeladen, sehen schon die Lichter, hören schon den Klang der Instrumente. So beflügelt, mit dem Schein des Lichtes vor Augen, den Klang der Instrumente in den Ohren, dem Geschmack des Weins auf der Zunge und dem Ziel im Herzen, können wir uns den Mächten stellen, die unser Leben beeinflussen wollen. Das Reich Gottes ist mitten unter euch.«

Was also unterscheidet die Gemeinde Jesu Christi von den Menschen zur Zeit Noahs und Lots? Nicht viel. Vielleicht nur das eine:
Sie ist nicht ausschließlich mit der Bewältigung ihres Alltags beschäftigt.
Sie hält in ihrer Mitte die Hoffnung auf die Herrschaft Gottes wach.
Sie singt bis zum heutigen Sonntag: »Wir warten dein, o Gottes Sohn, und lieben dein Erscheinen.«
Sie betet: »Dein Reich komme.«

Liebe Gemeinde!
Vom Reich Gottes, von seinem Kommen und schon Dasein, lässt sich am besten in Bildern sprechen. Ich habe dazu eine Legende aus dem Talmud gefunden, die ich Ihnen weitergeben möchte:

Rabbi Jehoschua ben Levi traf einst Elia und fragte ihn:
»Wann kommt der Messias?«
Da erwiderte Elia: »Geh und frag ihn selbst!«
»Und wo ist er?«
»An den Toren Roms!«
»Und woran ist er zu erkennen?«
»Er sitzt zwischen den Armen und mit Krankheit Beladenen. Alle übrigen binden ihre Wunden mit einem Male auf und verbinden sie wieder. Er aber bindet sie einzeln auf und verbindet sie wieder, denn er denkt: Vielleicht verlangt man nach mir, da will ich mich nicht aufhalten.«
Daraufhin ging Rabbi Jehoschua vor die Tore Roms, suchte den Messias, fand ihn und sprach zu ihm:
»Friede sei mit dir, mein Herr und Meister!«
Dieser erwiderte: »Friede sei mit dir, Sohn des Levi!«
Da sprach Rabbi Jehoschua zu ihm: »Wann kommt der Herr?«
Dieser erwiderte: »Heute.... heute, wenn ihr auf seine Stimme hören werdet.« (Ps 95,7)
Amen

 

 

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