Predigt
zum
4. Advent, Lk 1, 39-45,
20./21.12. 2003, St. Michael
Liebe Gemeinde,
"Leben heißt
Begegnung" - dieser Gedanke des jüdischen Religionsphilosophen
Martin Buber könnte wie eine Überschrift über dem heutigen
Adventssonntag stehen. "Leben heißt Begegnung" - dieser
Satz begleitet mich seit einigen Wochen; an ihn musste ich in letzter
Zeit bei manchen Begegnungen denken; von zweien will ich Ihnen kurz
erzählen:
Anfang dieser Adventszeit haben sich in unserer Gemeinde wieder vier
Frauen und ein Mann zu einem gemeinsamen Abend getroffen; alle haben
einen nahestehenden Menschen verloren und müssen nun ihren Weg
weitergehen, mit all den Höhen und Tiefen, mit dem Wechselbad
der Gefühle und den vielfältigen Anforderungen, die der
Prozess des Trauerns mit sich bringt. Sie treffen sich, um über
all das miteinander ins Gespräch zu kommen, offen und ohne Tabus;
sie erzählen von dem, was sie bewegt: wo sie gerade stehen, was
schwerfällt und was fehlt; von den gemischten Gefühlen im
Blick auf das Weihnachtsfest, von der Unsicherheit, was diese Tage
in ihnen auslösen werden; aber auch von der Freude über
das, was inzwischen wieder gelingt, von neuem Selbstbewußtsein
und Freiräumen, die die veränderten Lebenssituationen neben
all dem Schmerz und Leid auch mit sich bringen. Und die anderen hören
zu: aufmerksam, einfühlsam, verständnisvoll - froh, mit
den eigenen Erfahrungen nicht allein bleiben zu müssen, ähnlich
Erlebtes wiederzufinden und im Austausch mit anderen den eigenen Weg
besser verstehen zu lernen. Man kann förmlich spüren, wie
hier hilfreiche Beziehungen entstehen, wie eine vertrauensvolle Atmosphäre
wächst, in der miteinander geweint und gelacht werden kann, ein
Miteinander, das Halt ermöglicht und Kraft schenkt. In den Begegnungen
entsteht und wächst weit mehr, als die Einzelnen aus sich heraus
mitgebracht haben; es ereignet sich untereinander etwas, das nicht
allein in den Resourcen der Trauernden gründet - etwas, das gut
tut, das ermutigt und trägt.
Zweite Begegnung: Ein Besuch
zur Krankenkommunion. Der junge Mann liegt im Bett, infolge einer
schweren Krankheit ist er seit vielen Jahren ein Pflegefall; seine
Mutter kümmert sich Tag und Nacht um ihn; sprechen kann er schon
lange nicht mehr, aber er hört und versteht alles und kann durch
seine Mimik kommunizieren. Schon bei der Begrüßung geht
ein Strahlen über sein Gesicht, der Mund lächelt und die
Augen leuchten. Ein Gespräch mit ihm und der Mutter über
das Auf und Ab der letzten Tage und Wochen; ein Gespräch über
meist schwere und nur wenige gute Erfahrungen und eingebettet darin
die Feier der Krankenkommunion; eine dreiviertel Stunde Zeit für-
und miteinander, von außen betrachtet nichts Besonderes; und
doch wird in den Gesichtern von Mutter und Sohn etwas von dem sichtbar,
was in dieser kurzen Begegnung wächst und entsteht; es wird etwas
spürbar, das mit dürren Worten nicht zu beschreiben ist,
etwas, das aus eigener Kraft nicht machbar ist, das allen Beteiligten
in ihrem Begegnen nur geschenkt werden kann.
"Leben heißt
Begegnung" - zwei Begegnungen, die mich die Wahrheit dieses Satzes
neu haben spüren lassen; Begegnungen, in denen Augenblicke erfüllten
Lebens geschenkt wurden.
Ich denke, Sie alle haben
schon selbst ähnliche Erfahrungen mit gelingenden Begegnungen
gemacht; ich vermute, Sie kennen solche beglückenden Momente
und ihre beflügelnde Kraft - Augenblicke, in denen für mich
etwas vom schöpferischen Geist Gottes spürbar wird; in ihnen
wird etwas erfahrbar, das jenseits unserer Kompetenzen liegt, jenseits
dessen, das wir auch durch noch so viele Anstrengungen aus uns selbst
hervorbringen könnten. Deshalb ist es im Grunde nicht verwunderlich,
daß auch in der Bibel solche wesentlichen Erfahrungen stets
in der Form von intensiven Begegnungen zur Sprache kommen - so auch
im heutigen Evangelium.
Mit der verwirrenden und
beunruhigenden Botschaft des Engels im Herzen, macht sich Maria auf
den Weg zu Elisabeth; sie will mit dem, was sie bewegt, nicht alleine
bleiben; all das, was sie in ihrer Begegnung mit dem Engel erfahren
hat, will sie nicht für sich behalten, sondern sich mit ihrer
Verwandten darüber austauschen; sie weiß, daß ihr
Ähnliches widerfahren ist; deshalb sucht sie die Begegnung mit
ihr, um mit ihr das Wechselbad der Gefühle, ihre Hoffnungen und
Ängste zu teilen.
Und Elisabeth ist offen für ihr Kommen; schon bei der Begrüßung
hört sie genau hin, nimmt sie wahr, was geschieht: "Als
Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in
ihrem Leib."
Die Offenheit und die Bereitschaft
beider Frauen füreinander schafft den Raum, in dem sie Gottes
Gegenwart erkennen; gerade in ihrer Begegnung werden sie vom Wirken
des Geistes Gottes ergriffen und verstehen erst jetzt die Tiefe ihrer
Berufung: "Da wurde Elisabeth vom Heiligen Geist erfüllt
und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du mehr als alle anderen
Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, daß
die Mutter meines Herrn zu mir kommt?"
Die Begegnung beider Frauen ist der Ort, an dem sie Gottes Gegenwart
erfahren und durch seinen Geist verwandelt werden - ein Geschehen,
das für sie in den Lobpreis mündet. In ihrem Zusammentreffen
kommen Maria und Elisabeth nicht nur sich selbst, sondern gemeinsam
auch Gott näher.
Liebe Gemeinde,
die Menschwerdung Gottes, seine Ankunft bei uns kündigt sich
in einer menschlichen Begegnung an und wird darin erfahrbar. So einmalig
die Menschwerdung Gottes in Jesus als geschichtliches Ereigis auch
sein mag - die Erfahrung, die Maria und Elisabeth in ihrem Zusammenkommen
gemacht haben, ist es nicht; denn Gottes Gegenwart kann auch für
uns heute gerade da erfahren werden, wo Begegnungen unter uns gelingen.
Gott wird Mensch, um uns menschlich zu begegnen. Und dieser beziehungswillige
Gott will in seinem Geist auch in unseren zwischenmenschlichen Begegnungen
anwesend sein, will uns auch in unseren alltäglichen Beziehungen
untereinander begegnen. Wo wir in unserem Inneren beziehungswillig
werden und offen aufeinander zugehen, da kann Gottes Gegenwart erfahren
werden; da kann etwas von Gottes Geist spürbar werden als ein
tiefes Einander-Verstehen, als eine Kraft, als Sinn, als ein Augenblick
erfüllten Lebens. Wo wir uns auf lebendige Beziehungen einlassen,
werden wir adventliche Menschen, gehen wir auf Weihnachten zu: Wo
wir unsere Türen öffnen, kann nicht nur unser Nächster,
sondern auch Gott bei uns ankommen.
"Leben heißt
Begegnung" - ich wünsche uns allen eine begegnungsreiche
Zeit. Amen.
Einführung:
Advent - für die meisten
von uns eine Zeit der Vorbereitungen und Besorgungen für das
Weihnachtsfest; und wahrscheinlich werden viele von uns auch in diesem
Jahr wieder ein wenig traurig sein, dass wir es auch diesmal nicht
geschafft haben, die Adventszeit ruhiger und besinnlicher zu gestalten;
denn das verbinden wir ja eigentlich mit dem Advent: Ruhe und Besinnung.
Im Lukas-Evangelium ist
die Zeit vor der Geburt Jesu jedoch unter einem ganz anderen Blickwinkel
bedeutsam - es ist die Zeit der Begegnungen; wir hören von den
Begegnungen des Engels mit Zacharias und mit Maria, und heute von
der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth - eine Begegnung, die uns
auf Weihnachten vorausweist und in der etwas vom Weihnachtsgeschehen
vorweggenommen wird.
Fürbitten zum 4.
Advent 2003
Gott, unser Vater, auf
vielfältige Weise kommst Du uns entgegen, um uns zu begegnen.
Wir bitten Dich:
Öffne unsere Herzen
füreinander und laß uns in unseren Begegnungen Deine Gegenwart
erfahren.
Stärke alle, denen das Leben in diesen Tagen besonders schwerfällt
: Trauernde, Einsame, Kranke; laß sie Menschen begegnen, die
ihnen Trost und Halt schenken.
Für alle, die sich für den Frieden einsetzen: Gib ihnen
Beharrlichkeit und Fantasie, und schenke ihrem Bemühen Gelingen.
Für unsere Kommunionkinder, für unsere Firmbewerber: Erfülle
sie mit Deinem Geist und laß sie in ihrem Alltag immer wieder
Deine Nähe erfahren.
Gott, unser Vater, Du wirst
Mensch, um uns menschlich zu begegnen. Dafür danken wir Dir,
heute und alle Tage. Amen.