Predigt
zur
Heiligen Nacht 2003, St. Michael
Liebe Gemeinde,
kein Fest des Kirchenjahres
bringt uns so in Bewegung wie Weihnachten: Wochenlang werden dafür
Vorbereitungen getroffen, im privaten und öffentlichen Bereich;
schon seit langem haben sich die Einkaufsläden auf Weihnachten
eingestellt, schon vor Wochen hat sich das Straßenbild verändert;
kaum eine Institution, in der keine Weihnachtsfeier stattfindet -
und wahrscheinlich können Sie alle ein Lied von den eigenen Vorbereitungen
auf das Fest singen; kurz vor Weihnachten findet sich fast niemand,
der nicht zumindest etwas außer Atem wäre...
Und wie viel innere Bewegtheit ist bei vielen mit Weihnachten verbunden
- auch bei Menschen, die ansonsten dem christlichen Glauben eher fernstehen:
Kindheitserinnerungen werden wach, gute, beglückende, aber manchmal
auch schwere und belastende; vor allem die Heilige Nacht mit ihrer
ganz eigenen Atmosphäre weckt Gefühle. Und auch wenn Kritiker
gerade diese Gefühlsbetontheit anprangern, gehört sie für
mich notwendig zu Weihnachten; denn hinter unseren Gefühlen -
den beglückenden wie auch den belastenden - zeigen sich unsere
inneren Wünsche und Sehnsüchte: Die Sehnsucht nach Geborgenheit
und Angenommensein, nach Gemeinschaft und gelingendem Miteinander;
die Sehnsucht nach Hoffnung und Sinn, nach Frieden, Liebe und Glück...
Die Heilige Nacht bewegt
unser Inneres; sie spricht das bedürftige Kind in uns an - eine
Seite von uns, die wir nur allzu oft verdrängen und verstecken.
Doch diese Seite gehört eben auch zu uns; hätten wir sie
nicht, ginge etwas wesentliches in unserem Menschsein verloren. Gerade
in unserer nüchternen, aufgeklärten Gesellschaft brauchen
wir solche Freiräume, in denen Gefühle gelebt werden können.
Das Verspüren der eigenen Bedürftigkeit, das Wahrnehmen
der eigenen Sehnsüchte ist geradezu die Voraussetzung, daß
die Botschaft von Weihnachten in uns ankommen kann. "Fürchtet
Euch nicht, denn ich verkünde Euch eine große Freude...Heute
ist Euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias,
der Herr" - diese Botschaft des Engels macht nur Sinn für
die, die Rettung erhoffen und die sich ihrer bedürftig wissen.
Für die anderen ist sie wie eine Antwort auf nicht gestellte
Fragen. Die Botschaft der Erlösung kann nur bei denen wirklich
ankommen, die ihre Erlösungsbedürftigkeit verspüren.
Das zeigt uns auch die Weihnachtsgeschichte selbst: die Hirten sind
die ersten, denen die Verkündigung der Engel zu Herzen geht...
Die Gefühle und Sehnsüchte,
die die Heilige Nacht in uns weckt, sind das Einfallstor der Weihnachtsbotschaft
für uns Menschen. Aber das Erleben solcher Gefühle hält
oft nicht lange an und schon bald stellt sich die Frage, was bleibt.
Was bleibt von Weihnachten, wenn die Heilige Nacht vorbei ist - wieder
im Licht des Alltags? Kann die Botschaft der Menschwerdung Gottes
für mich und mein Leben auch dann noch etwas bedeuten? Angesicht
dieser Fragen ist es gut, nicht allein bei den Gefühlen stehenzubleiben,
sondern die Weihnachtsbotschaft auch in der Heiligen Nacht für
den Kopf zu buchstabieren.
Drei Gedanken sind mir
dabei wichtig:
Die Menschwerdung Gottes bedeutet für mich einmal die Zusage
für alle Menschen, daß wir vor Gott unendlich wertvoll
sind; wir sind ihm so wichtig, daß er sich seiner Gottheit entäußert
und einer von uns wird. Und indem Gott Mensch geworden ist, hat er
sein Leben untrennbar mit unserem menschlichen Leben verbunden. Er
hat unser Dasein, unsere Existenz unendlich aufgewertet, indem er
das Menschsein selbst angenommen hat. Weihnachten ist Gottes endgültiges
Ja zum Menschen, denn Gott selbst ist im Fleische.
Und deshalb gehört das, was in jener heiligen Nacht vor 2000
Jahren geschehen ist, allen Menschen, gleich welcher Sprache und Herkunft,
gleich welcher Religion und Kultur, gleich welcher Nation und Hautfarbe.
Seit Gottes Wesen in einem Menschen Gestalt gewonnen hat, eignet jedem
Menschen göttliche Würde. Seit Gottes Wesen in einem Menschen
Gestalt gewonnen hat, gibt es kein wertloses, unwichtiges oder gar
lebensunwertes Leben mehr. Wir dürfen groß von uns denken,
weil unsere Würde, die Würde jedes menschlichen Lebens in
Gott verankert ist. Wir dürfen in dem Bewußtsein leben,
wichtig und wertvoll zu sein, weil Gottes Menschwerdung unserem Dasein
letzte Bedeutsamkeit verliehen hat! Wir dürfen groß von
uns denken, weil Gott groß von uns denkt!
Und das gilt auch in den
dunklen Stunden unseres Lebens, da, wo wir scheitern, wo wir schuldig
werden, wo wir krank sind, wo wir nicht mehr weiter wissen und können.
Das ist für mich die zweite bleibende Bedeutung von Weihnachten:
daß es seitdem keinen menschlichen Lebensbereich mehr gibt,
in dem Gott nicht gefunden werden kann. Denn durch seine Menschwerdung
hat er ein menschliches Leben mit allen Höhen und Tiefen durchlebt,
so daß es keine Bereiche mehr geben kann, in denen Gott nicht
wäre: Glück und Leid, Gelingen und Scheitern, Gemeinschaft
und Einsamkeit, Gewinnen und Verlieren, Gesundheit und Krankheit,
Leben und Tod - Gottes Menschsein umfaßt die gesamte menschliche
Existenz, sie reicht in alle Lebensbereiche hinein.
Das gibt mir die Gewißheit,
daß auch ich mit meiner ganzen Existenz, mit allen Dimensionen
meines Lebens von ihm angenommen bin; es gibt mir die Gewißheit,
daß ich mit meiner ganzen Person, in meinen Höhen und Tiefen,
Stärken und Schwächen von ihm bejaht bin. Ich brauche vor
ihm nichts zu verstecken, ich brauche nichts zu beschönigen,
ich muß nicht erfolgreich sein, ich muß kein Supermensch
werden, um ihm zu begegnen: denn er ist in allen Bereichen immer schon
da. Gott hält sich nicht heraus, er bleibt nicht auf Distanz
- er mischt sich ein in die Geschichte von und mit uns Menschen, der
er sich selbst unterworfen hat; und so kann er nun auch überall
dort gefunden werden, wo Menschen sind, wo menschliches Leben sich
ereignet.
Gottes Menschwerdung umfasst
die ganze Existenz des Menschen, von der Geburt bis zum Tod. Und darin
liegt für mich die dritte Bedeutung des Weihnachtsfestes: Weil
Gott in Jesus alle Dimensionen des Menschseins angenommen hat, ist
in ihm bereits ein Teil von uns allen zur Erlösung gelangt; und
deshalb darf ich darauf vertrauen, daß auch meine menschliche
Geschichte mit Gott weitergehen wird, daß auch sie bei ihm ihre
Vollendung finden wird. "Was in der Menschwerdung nicht angenommen
wurde, kann auch nicht erlöst werden" - so lautet die Formulierung
eines frühen Theologen. Oder anders ausgedrückt: Wenn in
der Person Jesu menschliches Leben vom Anfang bis zum Ende erlöst
wurde, dann dürfen wir darauf vertrauen, daß auch unser
Leben vom Anfang bis zum Ende in Gott vollendet wird.
Damit gewinnt durch Weihnachten unsere Geschichte eine neue Qualität:
Bereits hier und jetzt geschieht in unserem Leben Entscheidendes,
das vor Gott Bedeutung hat, denn die Bereiche der Welt und die Bereiche
des Göttlichen lassen sich nicht mehr voneinander trennen. Gerade
weil unsere Welt nicht gottlos ist und Gott nicht weltlos, behalten
die Dinge ihre Bedeutung.
Das heißt aber auch,
daß wir hoffen können, daß all die Bruchstücke
unseres Lebens in Gott aufgehoben und vollendet werden. Nicht nur
das, was gelingt, ist von Bedeutung; auch das, was unfertig bleibt
und mißlingt hat seinen Sinn, hat bleibenden Wert. Und vielleicht
ist das die tröstlichste Botschaft von Weihnachten, daß
unser Bemühen, unser ganzes Leben sinn- und bedeutungsvoll ist,
auch dann noch, wenn wir keinen Sinn, keine Bedeutung mehr erkennen
können.
Liebe Gemeinde,
Weihnachten ist für mich die 3-fache Anrede Gottes an uns Menschen:
"Du Mensch bist mir unendlich wichtig - so wichtig, daß
ich mich mit Dir verbunden habe, daß ich Mensch geworden bin.
In deinem Leben kannst Du mir überall begegnen, weil auch ich
selbst die Höhen und Tiefen, die hellen und dunklen Seiten des
menschlichen Lebens durchlebt habe.
Und: Deine Geschichte wird zu einem guten Ende kommen, trotz aller
Dunkelheiten und Widrigkeiten, trotz aller Bruchstückhaftigkeit,
die Du erlebst."
Ich wünsche uns allen,
daß wir dieser Weihnachtsbotschaft auf die Spur kommen können,
mit Herz und Verstand - heute an Heilig Abend, aber auch in den kommenden
Tagen, im Licht des Alltäglichen. Amen.
Einführung:
Wer mit Kindern Weihnachten
feiert, wird selbst am meisten beschenkt; von allen Weihnachtstagen
birgt vor allem der Heilige Abend seinen Reiz: Die Lichter in der
dunklen Wohnung, die gespannte Erwartung, die Weihnachtslieder und
natürlich die Bescherung - in alldem entfaltet sich die besondere
Atmosphäre dieses Abends.
Aber nicht nur für
die Kinder - auch für viele Erwachsene ist der Heilige Abend
ein besonderer Tag; auch in uns Erwachsenen werden da Gefühle
und Erinnerungen wach, die uns bewegen - seien es gute oder schwierige,
beglückende oder belastende.
Wir laden Sie ein, all
das, was Sie jetzt bewegt, in dieser Feier vor Gott zu bringen, der
Mensch geworden ist, um uns menschlich zu begegnen.
Fürbitten zu Weihnachten
2003
Gott, unser Vater, durch
die Menschwerdung Deiner Liebe hast Du das Leben jedes Einzelnen mit
seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Sorgen und Nöten angenommen.
Wir bitten Dich:
Ermutige alle, die die Weihnachtsbotschaft hören, daß sie
das Licht der Hoffnung weitertragen zu den Menschen, die nach dem
Sinn ihres Lebens suchen.
Stärke alle, die sich um Schritte des Friedens und der Versöhnung
bemühen, und schenke ihrem Tun Erfolg.
Tröste alle, die im Dunkel leben, durch Deine Nähe und laß
sie Menschen finden, die ihnen in ihrer Not beistehen.
Sei besonders all denen nahe, die heute ihre Sehnsüchte schmerzlich
erleben: Trauernden und Einsamen, Armen und Verzweifelten, Kranken
und ihren Angehörigen.
Laß uns das Geheimnis Deiner Menschwerdung mit Herz und Verstand
immer tiefer erfahren, damit es auch für uns Leben und Licht
sein kann.
Gott, unser Vater, durch
die Geburt Deines Sohnes hast Du uns gezeigt, wie groß Du von
uns denkst. Dafür danken wir Dir, heute und alle Tage. Amen.