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Predigt zum 2.
Sonntag nach Epiphanias 17./18.1.04
(Eberhardsgemeinde)
"Ich ermahne euch nun,
liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber
hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig
ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.
Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch
Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes
Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommen"
(12,1)
Liebe Gemeinde!
Über diese Sätze hat Herr Braunschweiger am letzten Sonntag
gepredigt.
Der Apostel Paulus ermahnt die christliche Gemeinde in Rom, Gutes zu
tun, Liebe weiterzugeben. Das ist Gott wohlgefällig,. Das ist vernünftiger
Gottesdienst.
Die Sätze sind die ersten beiden Verse des 12. Kapitels des Römerbriefes.
Wie eine Ouvertüre sind diese Verse für das folgende Kapitel.
Das ganze Kapitel steckt schon in diesen beiden Versen drin. Nur jetzt
werden die Ermahnungen konkreter.
Erst richten sie sich an einzelne, dann an die ganze Gemeinde.
Und diese Verse, die sich quasi an den Predigttext der vergangen Woche
anschließen, sind unser heutiges Evangelium:
Ich lese Röm 12, 9-16:
"Ich ermahne euch
nun, liebe Brüder..." So hatte das Kapitel angefangen. Und
nun folgen sie: Ermahnung auf Ermahnung, Imperativ auf Imperativ. Es
wird einem ganz schummrig, wenn man diese Aufzählung hört.
Wer kann das schon alles befolgen?
Liebe Gemeinde, das sind wir nicht gewohnt. Schon gar nicht von Paulus!
Elf Kapitel lang hat er zuvor vom rechtfertigenden Handeln in Christus
geschrieben, von der ausgestreckten Hand, die er uns Sündern entgegenstreckt.
Allein aus Gnaden lebt der Mensch.
Gott vermag alles - ich selber gar nicht....
"Alle sind eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller
erbarme." (11,32)
Und auch der Wochenspruch
aus dem Johannes-Evangelium, den wir vorhin gehört haben, hatte
diesen Tenor:
"Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist
durch Jesus Christus geworden."
Das Gesetz bestimmt das Leben der Menschen im Alten Testament, wir Christen
sind befreit zu Gnade und Freiheit.
"Ich kenn den Unterschied
zwischen katholisch und evangelisch." So kann man aus evangelischem
Mund manchesmal hören: "Die müssen in die Kirche gehen,
und wir brauchen das nicht. Ich kann auch so ein guter Christ sein."
Es war einmal eine evangelische Gemeinde, die lud einen muslimischen
Gesprächspartner zu sich ein, um etwas über die Glaubenspraxis
eines Moslems zu hören. Der Gast erzählte von den fünf
Säulen, auf denen der muslimische Glauben beruht: das Glaubensbekenntnis
das Gebet, das Almosen geben, das Fasten, die Wallfahrt nach Mekka.
"Und welche Pflichten sind die Basis Eures Glaubens?" fragte
der Gast seine evangelischen Gesprächspartner zurück.
Peinliches Schweigen erfüllte den Raum. Schließlich waren
sich die evangelischen Christen einig: sie hätten keine Pflichten
oder Vorschriften zu beachten.
Liebe Gemeinde!
Ist das evangelische Freiheit? Anything goes? Alles ist erlaubt? Wir
dürfen alles, weil wir als arme Sünder sowieso nichts vermögen
und auf die vergebende Gnade Christi angewiesen sind?
Ist es das, was uns von Juden, Moslems und selbst von Katholiken unterscheidet?
Paulus sagt: nein!
"Stellt euch dieser
Welt nicht gleich, sondern willigt ein in eure Wandlung, damit ihr prüfen
könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige
und Vollkommene."
Wenn wir die Barmherzigkeit Gottes erfahren, wird diese uns verändern
und wir werden seinen Willen erfüllen.
Und wir werden ihn genauso
wenig wie Moslems oder Juden als Zwang, als aufgedrücktes fremdes
Gesetz erleben, sondern als Weisung zum Leben.
Israel wurde von der Unterdrückung in Ägypten befreit, aber
nicht um als Befreite in der Wüste zu verhungern, sondern um die
Tora, die 10 Gebote zu empfangen, die ihnen helfen, ja vielleicht erst
ermöglichen, miteinander in der Wüste zurecht zu kommen.
Anders herum gesagt:
Wenn wir evangelische Freiheit ausschließlich verstehen als Freiheit
von jeglicher Verpflichtung, dann geht uns Entscheidendes in unserem
Glauben verloren: Die Freude am Wort Gottes, die Freude auch an der
Weisung Gottes, die Leben ermöglicht.
Der jüdische Glaube
hat dieser Freude am Gesetz, an den Geboten, an der Tora einen eigenen
Festtag gewidmet: Simchat Tora.
Ich erinnere mich an einen Besuch in Warschau. Wir waren im jiddischen
Theater. In der Pause sprach uns ein alter Mann an und fragte uns, ob
er uns die Synagoge gleich nebenan zeigen dürfe. Seit 44 Jahren
sei er Schames, also Mesner dieser Synagoge, inzwischen die letzte von
ehemals 33 Synagogen in Warschau. Er kam ins Erzählen: Nachdem
er den Holocaust überlebt hatte, war er nach 1945 noch fünf
Jahre im russischen Arbeitslager in Sibirien.
"Er, der Allmächtige, hat gewollt, dass ich überlebe.
Ich weiß nicht, warum." sagt er.
Und dann erzählt dieser alte Mann, der soviel Schweres erlitten
hat, mit blitzenden Augen, von dem Fest, das seine Gemeinde am Tag zuvor
gefeiert hat: Simchat Tora - "Wir haben getanzt mit der Toire".
Die Bestialität der Menschen, das schreiende Unrecht, das er erlebt
hat, haben ihm, die Freude an der Tora nicht nehmen können . Als
80 Jähriger tanzt er an Simchat Tora mit der Torarolle, wie er
es wahrscheinlich schon als Kind getan hat.
In der Synagoge ist die Torarolle
eingehüllt in einen reich bestickte Brokatmantel. Silberne Kronen
mit Glöckchen drauf schmücken sie. An diesem Feiertag wird
sie aus dem Schrein herausgenommen und wandert von Arm zu Arm. Unter
fröhlichen Gesängen wird sie sieben Mal um die Bima, das Lesepult
herum getragen. Die Kinder laufen mit und schwenken Fähnlein. Sie
bekommen an diesem Tag Süßigkeiten gemäß dem Wort
aus Psalm 119,103: "Wie süß ist deine Rede meinem Gaumen,
süßer als Honig meinem Munde."
Die Tora, die Weisung Gottes in den fünf Büchern Mose mit
ihren 613 Geboten ist das Geschenk an Befreite.
Der jüdische Gelehrte
Paulus kennt die Freude des Volkes Israel an der Tora. "Ich habe
Lust am Gesetz Gottes", schreibt er im 7. Kapitel. Und etwas von
dieser Lust ist auch heute in unserem Evangelium spürbar, wenn
wir dem griechischen Text etwas nachspüren:
"Die Liebe sei ohne Falsch." Wie die Überschrift über
ein Lied klingt dieser Satz. Und was im Deutschen dann wie eine Aufzählung
von Befehlen oder Ermahnungen klingt, das klingt im Griechischen wirklich
wie ein Gedicht oder Lied. Ein Lied, das nicht züchtigt und ermahnt,
sondern auferbaut, ermuntert: so könnt ihr sein, so seid ihr schon!
Eine Freundin von mir hat
versucht dem Poetischen auch im Deutschen nachzuspüren, und das
Lied zum klingen zu bringen. Ich lese ihre Übersetzung:
"Die Liebe - ohne Heuchelei!
Verabscheuend das Böse, anhangend dem Guten.
In Bruderliebe einander herzlich zugetan.
In Hochachtung einander zuvorkommend.
Im Ernstmachen nicht träge,
im Geist glühend,
dem Herrn dienend.
Durch Hoffnung freudig,
unter Druck standfest,
im Gebet beharrlich,
an den Bedürfnissen der Heiligen teilnehmend,
Gastfreundschaft verfolgend.
Segnet, die euch verfolgen,
segnet und flucht nicht.
Fröhlichsein mit den Fröhlichen,
weinen mit den Weinenden.
Auf das Gleiche seid füreinander bedacht!
Nicht ans Hohe denkend,
sondern miteinander bewegt zum Niedrigen.
Werdet nicht bei Euch selber klug!"
Mich erinnert dieses Lied
des Paulus an eine Legende, die ich jetzt nach Epiphanias in der Schule
vorgelesen habe. Es ist die Legende von dem vierten König, der
all das getan hat, von dem Paulus schreibt: Er war fröhlich mit
den Fröhlichen und weinte mit den Weinenden. Er nahm Anteil an
den Bedürfnissen der Heiligen, die ihm auf der Straße begegneten.
Er war nicht träge, sondern glühend im Geist.
Deswegen war losgezogen aus seiner russischen Heimat.
Wie die drei Könige aus dem Morgenland hatte er den Stern gesehen,
der den neugeborenen König im fernen Israel ankündigte. Und
er machte er sich auf den Weg, auf seinem kleinen Pferd Wanjka. Als
Geschenke für den neugeborenen König nahm eine Rolle Leinen
mit, mehrere Beutel Gold und ein Glas Honig. Er kam nur langsam voran.
Denn immer wieder traten ihm Menschen in den Weg, die um Hilfe baten.
- Mal was es eine arme Mutter, die keine Windeln für ihr neugeborenes
Kind hatte. Er gab ihr von dem Leinen.
- Mal war es eine Gruppe von Sklaven, die von ihrem Aufseher fast zu
Tode geprügelt wurden. Er kaufte sie frei und versorgte sie mit
Essen.
- Ein anderes Mal verband er die Wunden von Aussätzigen.
Einmal begegnete er auch
drei vornehmen Herren, die das gleiche Ziel hatten wie er. Er versuchte
ihnen zu folgen, aber sie waren viel zu schnell, und in der Herberge
nahmen sie allen Platz in Anspruch. Die Taschen und Beutel des kleinen
Königs wurden immer leerer, und Wankja, sein Pferd, immer schwächer
bis es starb. Der kleine König ging zu Fuß weiter. Bald konnte
man ihn von einem Landstreicher nicht mehr unterscheiden. Jahre brauchte
der kleine König für seinen Weg.
Schließlich kam er ans Meer, an einen großen Hafen. Dort
beobachtete er, wie man einer weinenden Mutter ihren einzigen Sohn mit
Gewalt entriss. Er sollte für den verstorbenen Vater auf einer
Galeere rudern. Der kleine König sah den Kummer von Mutter und
Sohn und sagte leise: nehmt mich an seiner Statt. Und so wurde er im
Bauch des Schiffes an die Eisen gelegt und ruderte 30 Jahre über
die Meere.
Irgendwann entließ ihn der Galeerebesitzer. Er war zu schwach
um weiter zu rudern. Ganz langsam schlug er wieder die Richtung ein,
die der Stern ihn früher einmal gewiesen hatte und erreichte schließlich
Jerusalem. Aufruhr war in der Stadt. Eine Kreuzigung stand bevor.
Mit leeren Taschen und mit Beinen, die ihn kaum noch tragen konnten,
trat der kleine König unter das Kreuz, das man gerade aufgerichtet
hatte. Da sah er ihn an, dem er vor 30 Jahren im Stall zu Bethlehem
seine Geschenke bringen wollte und sagte: "Meine Taschen sind leer.
Jetzt kann ich Dir nur noch eines geben - mein Herz."
"Ich ermahne euch nun,
liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber
hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig
ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst." (12,1)
Als ich die Legende in der
Schule vorlas, hörten die Kinder sehr genau zu. Zum Schluss sagten
einige: Es ist ja aber eigentlich auch dumm von dem König, dass
er sich für den Jungen hat austauschen lassen....
Die Kinder haben recht. In der Logik dieser Welt ist das wirklich dumm.
Und niemand kann das von einem anderen Menschen verlangen. Auch nicht
wir von uns selbst.
Vielleicht hat Paulus das
gemeint, als er sagte: "Stellt euch nicht dieser Welt gleich!"
In dieser Welt hat man ein Ziel, das man nicht aus den Augen verlieren
darf, schon gar nicht durch so ein paar gescheiterte Existenzen, die
einen aufhalten wollen.
Der kleine König aber lässt sich aufhalten.
Er versucht nicht irgendwelchen Ansprüchen, Gesetzen oder Moralcodices
zu genügen.
Er reagiert auf die Not der Menschen, die ihm begegnen.
Er redet nicht, sondern handelt.
Und in jedem dieser angeschlagenen Menschen, die er auf der Straße
trifft, begegnet ihm der, den er eigentlich sucht.
Liebe Gemeinde!
Eines verbindet den kleinen König von damals mit dem alten Synagogendiener
unserer Tage:
- Beide haben Schweres erlebt.
- Beide sind körperlich fast zugrunde gerichtet worden.
- Doch beide sind nicht bitter geworden.
- Beide konnten sich ihren Glauben, ihre Sehnsucht, ihre Liebe und Freude
bewahren.
Liebe Gemeinde!
Sind das nicht wahre Heilige, an deren Bedürfnissen wir teilhaben
dürfen?
" Liebe - ohne Heuchelei!
Verabscheuen d das Böse, anhangend dem Guten.
In Bruderliebe einander herzlich zugetan.
In Hochachtung einander zuvorkommend.
Im Ernstmachen nicht träge,
im Geist glühend,
dem Herrn dienend.
Durch Hoffnung freudig,
im Gebet beharrlich,
Gastfreundschaft verfolgend.
Fröhlichsein mit den Fröhlichen,
wie Jesus von Nazareth, der Wasser in Wein verwandelte, damit die Hochzeit
weiter geht.
weinen mit den Weinenden.
Auf das Gleiche seid füreinander bedacht!
Nicht ans Hohe denkend,
sondern miteinander bewegt zum Niedrigen."
Auch evangelische Christen
dürfen dieses Lied singen.
Amen
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