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Sexagesimae 14. /15.2.04 Predigt: Hebr 4, 12-13 - Eberhardsgemeinde

"Big brother is watching you..."

"Liebe Gemeinde! Nicht gerade anheimelnd klingen die Worte unseres heutigen Evangeliums. Als Werbeslogan für das Jahr der Bibel wären sie schlecht geeignet: Das Wort Gottes,
- das mit Schärfe alles durchdringt: Seele und Geist, Mark und Bein,
- das nicht nur die Taten richtet, nein
- auch die geheimsten Gedanken und Empfindungen des Herzens;
- vor dem kein Geschöpf verborgen ist.
- vor dessen Augen alles nackt und bloß ist.
- Dem schulden wir Rechenschaft?

Da kann einem Angst und bange werden. Jeden Augenblick beobachtet und beurteilt. Ständige Kontrolle. Rechenschaft. "Big brother is watching you." Wie den großen Bruder aus George Orwells altem Science fiction 1984 hat Tilmann Moser den Gott seiner Kindheit in Erinnerung. Mit ihm rechnet er in seinem Buch "Gottesvergiftung" ab. Er schreibt:

"Weißt du, was das Schlimmste ist, das sie mir über dich erzählt haben? Es ist die tückisch ausgestreute Überzeugung, dass du alles siehst und hörst und auch die geheimen Gedanken erkennen kannst... Und es gab zu viele Dinge, die dir nicht gepasst haben: Hosen zerreißen hat dir nicht gepasst, im Kindergarten mit anderen Buben in hohem Bogen an die Wand pinkeln, Mädchen an den Haaren ziehen, hat dich verstimmt, die Mutter anschwindeln, was manchmal lebensnotwendig war, hat dir tagelang Kummer gemacht; den Brüdern ein Bein stellen brachte tiefe Sorgenfalten in dein sogenanntes Antlitz... "Herr, erheb dein Antlitz über uns.." so haben wir am Ende jedes Gottesdienstes gefleht, als gäbe es keine größere Sehnsucht, als immerzu dein ewig -kontrollierendes big-brother-Gesicht über uns an der Decke zu sehen..." (S. 13-14)

Vielleicht hat ja der eine oder die andere in der Kindheit eine ähnliche Erfahrung mit einem Gott gemacht, der alles sieht und hört. Heute erinnern uns die Worte vom richtenden Gott, von Schwert und Spaltung eher an Versuche Kriege religiös zu überhöhen und zu legitimieren, an Gotteskrieger oder Selbstmordattentäter, die meinen, sie müssten an Gottes Statt das Schwert führen und Gut von Böse scheiden. Auf jeden Fall eher an Tod als an Leben. Doch sehen wir genauer hin: Unser Evangelium beginnt mit Worten des Lebens und nicht des Todes. Ich glaube von diesen ersten Worten aus ist der Rest zu verstehen, und verliert dann seine Bedrohlichkeit. Ich lese noch einmal den Anfang und nehme die zwei vorhergehenden Verse noch hinzu:

"Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen. So lasst uns nun bemüht sein, zu dieser Ruhe zu kommen, damit nicht jemand zu Fall komme durch den gleichen Ungehorsam (wie der des murrenden Volkes in der Wüste, meint der Hebräerbrief). Denn das Wort Gottes ist lebendig und kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert..." (4,9-12)

Von der Schöpfung her denkt der Autor des Hebräerbriefes: Das Wort Gottes ist lebendig und es macht lebendig. Das Wort, das aus Gottes Mund ging, erschuf die Erde: "Gott sprach: Es werde Licht - und es ward Licht... " Deshalb hat Gott einen hebräischen Namen, der übersetzt heißt: "Derjenige, der sprach und die Welt war da." Das Wort Gottes schafft nicht nur Leben, es ist Leben, es macht nicht nur lebendig, es ist lebendig und kräftig, es informiert nicht nur, wie die tägliche Zeitung informiert, nein, es geschieht, wie am Tag der Schöpfung. In dieser Weise ist es wirksam. In dieser Weise ist es scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Das zweischneidige Schwert schneidet nach oben und nach unten. Es schneidet nicht nur rein, sondern es trennt. Es scheidet das eine von dem anderen. Durch sein Wort schied Gott die Wasser und machte ein Feste. Durch sein Wort schied Gott das Licht von der Dunkelheit und ermöglichte er Leben. Durch Trennung entsteht Möglichkeit zu etwas Neuem. Das Bild vom Schwert knüpft an die Erinnerung an die Schöpfung unmittelbar an. Es steht also nicht für eine tötende Strafmacht, sondern für die durchdringende Schärfe in einem heilvoll kritischem Sinn. Kritik kann sehr weh tun. Doch sie kann zugleich aus eingefahrenen Gleisen befreien und neue Wege aufzeigen.

Auch Jesus hat mit Kritik nicht gespart. Seine Worte sind scharf, entblößend, offenbarend, und sie können trennen statt verbinden - wenn er z.B. in der Feldrede im Lk-Evg. sagt: "Selig seid ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.... Weh euch Reichen. Ihr habt euren Trost schon gehabt... Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt sein.... Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern!" (Lk 6) Solche Worte durchdringen messerscharf jede trügerische Gleichmacherei. Sie treffen ins Innerste, bis zu Seele und Geist, und dringen durch das sprichwörtlich gewordene Mark und Bein. Sie treffen den, der sich ihnen aussetzt und sie ernst nimmt und könnten ängstigen, zumindest die Reichen.

Während ich an der Predigt schrieb, bekam ich einen Anruf von einer Freundin. Sie fragte, was ich gerade mache. Ich erzählte ihr von dem Predigttext. Daraufhin sagte sie. Das ist interessant, jedenfalls keine Seife, die alles in Schaum hüllt und alles Kantige aufweicht. Man kann sich daran stoßen. Ein schneidendes, klärendes, offenbarendes Wort bietet Gott den Menschen an, "als Richter, als kritikos, der Gedanken und Sinne des Herzens." Nicht um zu zerstören, sondern um Leben zu ermöglichen. Unsere Gedanken und Herzensangelegenheiten sind ihm nicht egal. Er hat etwas vor mit seiner Schöpfung, mit uns. Er will sie nicht in weiche Watte einpacken und sich selbst überlassen. Er will sie zu seiner Ruhe führen, durch sein Wort. Da ist lebendig und wirksam.

In der Schriftlesung haben wir gehört, wie dieses Wort über Länder und Meere wirken kann: Ein Wort im Traum - "Komm rüber!" - und Paulus besteigt das Schiff und reist nach Philippi. Dort kommt er ins Gespräch mit den Frauen am Fluss, die dort Stoffe färben. Und seine Worte rühren Lydia, die Purpurhändlerin, an. Und sie lässt sich taufen mit ihrem ganzen Haus, also mit allen, die mit ihr leben und arbeiten. So wird sie zur Gründerin einer Hausgemeinde. Über Meere und Kontinente kam über die Jahrhunderte das Wort Gottes auch zu uns.

Liebe Gemeinde! Lassen wir uns, lassen sich Menschen heute von diesem Wort anrühren, wie damals Lydia? Wird es in seiner Schärfe noch gehört in einer Welt, in der Worte aus Radio und Fernseher plätschern, tagaus, tagein, ohne dass jemand ihnen zuhört? Schlagzeilen, Geschichten, stories, Kommentare und Meinungen rieseln auf uns Menschen nieder. Und gleichzeitig darf in bestimmten Sendern ein Wortbeitrag wie das "Wort zum Tag" zweieinhalb Minuten nicht überschreiten. Da gilt schon als Maximum, was man den Zuhörern im Radio zumuten kann. Spätestens dann schalten sie ab - und das gilt es ja auf alle Fälle zu verhindern.... Die Einschaltquote muss stimmen - Stille halten viele schon gar nicht mehr aus.

"Himmel und Erde werden vergehen, meine Wort aber werden nicht vergehen." (Mk 13, 31) So haben wir vorhin gesungen. Gottes Worte werden nicht vergehen. Aber werden sie gehört? Und wenn sie gehört werden, werden sie dann in ihrer Schärfe, in ihrer durchdringenden Kraft wahrgenommen? Vielleicht haben Sie im Württembergischen Gemeindeblatt auch den Artikel über die preußische Garnisonskirche in Potsdam gelesen. Sie wurde im zweiten Weltkrieg stark beschädigt und soll jetzt wieder aufgebaut werden. Der Kirche fehlt dazu das nötige Geld. Nun hat eine aus ehemaligen Soldaten bestehende "Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiele" Geld für den Wiederaufbau der Kirche gesammelt. Doch sie geben das Geld nur heraus, wenn die Kirchengemeinde bestimmte Bedingungen erfüllt.
- Die Kirche darf nicht, wie geplant, zum Versöhnungszentrum werden, mit Friedensprojekten und Aktionen zur Völkerverständigung.
- Das Kreuz der von deutschen Bombern zerstörten Kathedrale in Coventry darf als Zeichen solcher Versöhnung nicht auf dem Turm angebracht werden.
- Kriegsdienstverweigerer dürfen in der Gemeinde nicht beraten werden.
- Auf Feministische Theologie und auf Segnung Homosexueller müsse verzichtet werden.
Gott sei Dank hat sich die Kirchengemeinde auf diese Bedingungen nicht eingelassen. Lange blieb die Kirche unrenoviert. Jetzt sammeln Potsdamer Bürger unabhängig von der Traditionsgemeinschaft Geld zum Aufbau ihrer Kirche. Der Traditionsverein hat versucht, dem Wort Gottes und der ganzen Kirche die kritische Schärfe zu nehmen, es zu einer bequemen und beruhigenden Religion zu machen. Ich fürchte, das wird in Zukunft häufiger geschehen, wenn die Kirche angesichts knapper Kassen auf Sponsoren von außen angewiesen ist. "Das Wort Gottes aber ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert." Es passt in keine Weltanschauung. Denn es offenbart und deckt auf, was Menschen versuchen mühsam unter der Decke zu halten. Es wird wohl immer wieder übertönt von dem Lärm dieser Welt, doch es vergeht nicht. Es vergeht nicht. Und die auf diese Wort hören, werden finden, wonach sich viele sehnen: "Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes." Eine Ruhe, die mehr ist als Stille, mehr als die Abwesenheit von Lärm. Eine paradiesische Ruhe, die uns erinnert, woher wir kommen und wohin wir gehen. Eine Ruhe, die der Schöpfung die Krone aufsetzt. Und als er die Welt geschaffen hatte, ruhte Gott von all seinen Werken. Und er schied den siebenten Tag von den sechs anderen Tagen. Nach aller Geschäftigkeit und Betriebsamkeit Ruhe für Gott, für die Menschen und für alle Kreatur. "Und wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen."

Jede Woche neu erinnert der Ruhetag an das Paradies, das gewesene und das kommende. Gottes Wort ist lebendig und wirksam. Es kann uns zu dieser Ruhe führen, wenn wir darauf hören und es achten. "Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes." In dieser Ruhe haben die Augen Gottes nichts Bedrohliches mehr. In dieser Ruhe können wir unsere Schwächen, unsere Gedanken und Herzensanliegen offenbaren und brauchen uns so wenig zu schämen wie Adam und Eva bevor sie von der Frucht aßen. Vielleicht können wir etwas von dieser Ruhe auch in die kommende Passionszeit mit hinein nehmen. Eine Zeit, in der wir erleben, dass Gott nicht der big brother von George Orwell ist. Im Gegenteil: Er zeigt sich in seiner ganzen Schwachheit und Verzweiflung. Er zeigt sich selber nackt und bloß. Hören wir auf seine Worte. Sie wollen das Leben, nicht den Tod. Amen

 

 

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