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Wahrheit
statt Funktion
Kritisches
am Dreifaltigkeitsfest
5./6.6.2004 in Tübingen
und Bühl
Es gibt einen Gedanken, der
mich in den zurück liegenden Wochen immer wieder aufgescheucht,
beschäftigt hat. Und weil ich annehme, daß er Überlegungen
in Gang setzt, die nicht nur für mich persönlich bedeutsam
sind, sondern auch für Sie, für uns gemeinsam als Gemeinde
Jesu Christi, möchte ich Ihnen diesen Gedanken gerne mitteilen,
und damit auch sein Gewicht, das Bedrängende an ihm ein bißchen
mit Ihnen teilen.
Es geht dabei um die Frage,
wie wir leben. Ganz grundsätzlich. Also um das, was wir tagein
tagaus tun, was uns wichtig ist, wie wir es tun. Es geht mir um unsere
Lebensgewohnheiten, um den Rhythmus unserer Existenz, auch um die Zeit;
darum, wie die Gewichte verteilt sind, wofür wir hauptsächlich
Kraft aufwenden. Eben beim darüber Nachdenken beschlich mich immer
wieder das Gefühl, daß wir am meisten damit beschäftigt
sind, die Schwierigkeiten, die wir uns selber eingebrockt haben, wieder
auszugleichen, das Komplizierte in unserem Lebensstil, das wir selber
anrichten, auszugleichen. Ich erlebe mich deshalb häufig als jemand,
der re-agiert auf einen Zustand, ein Ereignis, eine Konstellation, eine
Struktur - der eben nicht agiert, also die Initiative in der Hand hat,
selber gestaltet nach Vernunft und Glaube, nach Wissen und Evangelium.
Sondern eben als einen Menschen, der zumeist, ständig womöglich
damit beschäftigt ist, irgendwie die scheinbar so wunderbaren Errungenschaften
der Moderne, der europäischen Leitkultur (sage ich spöttisch!)
in Grenzen zu halten, sie gar rückgängig zu machen. Wir sind
andauernd damit befaßt, die Komplexität unserer Gesellschaft
zu vereinfachen, weil wir sonst gar nicht mehr als Menschen leben könnten.
Wir machen alles schneller, unsere Fortbewegungsmittel, die Kommunikationseinrichtungen,
die Heilung beim Arzt, im Krankenhaus - und hinterher brauchen wir enorme
Anstrengungen, um die dadurch entstehenden Probleme aufzufangen. Wir
schaffen komplizierte Strukturen der Zuständigkeiten für eine
Sachfrage und wissen anschließend nicht mehr, wer nun eigentlich
helfen soll; statt dessen beschäftigen wir uns miteinander: der
Staat und die Kirche, die Ärzte und Krankenkassen, der Pfarrer
und seine Mitarbeiter.
Auf der Strecke bleibt dabei
der einzelne Mensch, dessen Problem in der Regel klar verständlich
ist: eine konkrete Not, eine klare Frage, ein Wunsch, eine Sehnsucht.
Und eigentlich immer steht so eine Schwierigkeit im Zusammenhang mit
einem Mangel an Liebe. Genau dadurch entstehen unsere schwierigen Situationen
in den Schulen, die Überalterung unseres Landes, die großen
Verteilungskämpfe unserer Gesellschaft all überall. Ja, ich
traue mich, dies so einfach zu sagen: Aus einem Mangel an Liebe entsteht
dies alles! Und wie behebt man ein solches Minus? Ich sag's grad so
einfach: durch mehr Liebe, durch die Liebe als den ersten Impuls dort,
wo Menschen zusammen leben. Also: keine Überweisungen, kein Fortschicken,
keine e-mails, kein Wegschauen, keine Rangelei um Zuständigkeiten.
Sondern als erste Reaktion: Ich bin da, ich bin zuständig, jetzt
muß ich Liebe spüren, also mich geliebt wissen, und deshalb
muß ich Liebe schenken.
Ich war heute/gestern vormittag
zu einem Treffen mit Bischof Lobinger aus Südafrika eingeladen.
Der 75-jährige leitete dort bis zum April eine kleine Diözese
mit 50.000 Katholiken und 20 Priestern auf einem für unsere Verhältnisse
riesigen Territorium. Auch dort, als er von seiner Seelsorge, seinem
Gemeindeverständnis erzählte, wurde mir wieder deutlich, wie
sehr wir oft in den Problemen gefangen sind, die wir uns selbst geschaffen
haben: in unserer Eile, die mehr Schwierigkeiten nach sich zieht, als
sie nützt; in der globalen Denkweise, die den einzelnen Menschen
mehr und mehr aus dem Auge verliert; vor allem auch in der Verlagerung
von Hilfe auf anonyme Institutionen, die uns immer unempfänglicher
werden lassen für konkrete Not. Die Diözese Lobingers hat
es deshalb seit Jahrzehnten konsequent verfolgt, überall vor Ort
und in überschaubaren Größenverhältnissen sog.
Social Christian Communities zu schaffen, also christliche Sozialverbünde,
die für alles in ihrem Bereich zuständig sind und ihre Zuständigkeiten
auch vor Ort regeln - ohne Verbände wie die CARITAS, ohne Verwaltungszentren,
ohne ein allzuständiges Ordinariat. Die Christen nehmen ihre Sendung
ernst; eine Delegation der Liebe gibt es zunächst einmal nicht.
Jeder muß erst die eigene Liebe erschöpfen, bevor er sich
aus der Verantwortung nehmen darf. Jeder ist in gleicher Weise Christ,
alle leben gemeinsam, die Kirche versteht sich in erster Linie als geschwisterlich.
Und Gottes Geist begabt, befähigt jede und jeden (eben nicht nur
die Hauptberuflichen, die Priester und Katecheten) alle, in ausreichendem
Maße zu dem, was erforderlich ist.
Der Geist der Wahrheit wird
nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört.
Nicht aus sich selbst! Dieser Gedanke unseres Sonntagsevangeliums gibt
für mich in diesem Zusammenhang die Richtung an. Wir werden gerade
als Christen in den kommenden Jahren noch viel mehr dafür tun müssen,
daß sich unser Glauben nicht im äußerlichen Funktionieren
erschöpft, sondern daß wir mehr zur einfachen Ursprünglichkeit
der Wahrheit zurückkommen, die uns das Evangelium von Gott her
nahe zu bringen versucht. Jesus hat für mich diese einfachen Wahrheiten
verkörpert:
* in seiner Direktheit, mit
der auf Menschen welcher Couleur auch immer zuging;
* in seiner unbekümmerten Frechheit, mit der er sich über
Menschengesetze gerade auch auf religiösem Feld hinweg setzte;
* und vor allem anderen in seiner für mich so unglaublich faszinierenden
Freiheit, mit der einfach die Liebe lebte. Mit ihr wußte er sich
von seinem himmlischen Vater in reichem Maße beschenkt; dieses
Geschenk hat er wo immer möglich, freimütig weiter gegeben,
ohne Kalkül, ohne Ausflüchte, ganz unmittelbar - immer auf
eine Situation, auf einen Menschen konzentriert.
Und eben so hat er automatisch
nicht aus sich selbst heraus gelebt, sondern aus Gott, aus seinem Willen.
So hat er Gott verkündet. Könnte es sein, daß dies das
in gleichem Maße simple, wie geniale Prinzip unseres christlichen
Gottes ist, die Selbstverständigung Gottes in seiner Dreifaltigkeit:
das Leben aus und in Liebe, die ihr Maß nicht an der Welt, nicht
an etwas Geschaffenem findet, sondern an Gott selbst? Lieben (Vater)
und Geliebt werden (Sohn) und Liebe verschenken/verströmen (Heiliger
Geist) - dies ist das Geheimnis der Dreifaltigkeit, und es ist die einzige
Wahrheit, nach der es sich lohne würde, sein Leben zu strukturieren.
Viel Kraft wird dazu nötig sein von jedem von uns, der dies probiert,
gegen die eingefleischten Lebensgesetze, denen wir so schwer entfliehen
können.
Amen.
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