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Eberhardsgemeinde - Trinitatis
(6. Juni 2004): Römer 11,33-36
Vom Stau
zum Staunen
zur Anbetung
Eine Meditation
zum Predigttext für Trinitatis
Literatur: D. Bonhoeffer,
Predigten, Auslegungen, Meditationen, Bd. 1, München 1984; E.M.
Cioran, Cahiers 1975-1972, Frankfurt a.M. 2001; E. Käsemann, An
die Römer, Tübingen 1973; Fr. Nietzsche, Die fröhliche
Wissenschaft, Viertes Buch, Aph. 285; Fr. Rosenzweig, Das Büchlein
vom gesunden und kranken Menschenverstand, Königstein 1984.
I. Der Stau
"Excelsior - Du
wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen
Vertrauen ausruhen - du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit,
letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken
abzuschirren - du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund
für deine sieben Einsamkeiten - du lebst ohne Ausblick auf ein
Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt
- es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter
Hand mehr - es gibt keine Vernunft mehr in dem, was geschieht, keine
Liebe in dem, was dir geschehen wird - deinem Herzen steht keine Ruhestatt
mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst
dich gegen irgendeinen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft
von Krieg und Frieden - Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen?
Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft!'"
(Nietzsche, aaO.)
Gott ist nicht! Da, wo der
Mensch Gott denkt, ist nichts, ist das pure Nichts. Ein fürchterlicher
Gedanke! Friedrich Nietzsche hat unter Schmerzen zu Ende gedacht, was
der Mensch der Moderne gedankenlos und deshalb schmerzlos einfach lebt.
"Wer wird dir die Kraft geben?" hatte Nietzsche noch gefragt.
Und in einer grandiosen Vision schaut er die Antwort:
"Es gibt einen See,
der sich eines Tages versagte, abzufließen, und einen Damm dort
aufwarf, wo er bisher abfloß: seitdem steigt dieser See immer
höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft
verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann, vielleicht
wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr
in einen Gott ausfließt."
Diese Vision ist Wirklichkeit
geworden. Der See versagt es sich, abzufließen. Der Mensch hat
einen Damm aufgeworfen gegen Gott. Er will aus sich selber, durch sich
selber, für sich selber leben. Nietzsche hat nur konsequent zu
Ende gedacht, was sich in der Aufklärung und im deutschen Idealismus
anbahnte. Kant, dessen 200. Todestag in diesem Jahr gedacht wird, glaubte
in seiner abstrakten, sprachvergessenen Vernunftkritik, die Vernunft
von Tradition und Glauben reinigen zu können, was nur zu unmenschlichen
Abstraktionen führen konnte, der "Erbschade der Metaphysik",
wie Georg Friedrich Hamann hellsichtig erkannte. "Der bestirnte
Himmel über mir" reicht eben nicht, um sich demütig seiner
Geschöpflichkeit bewußt zu werden, und "das moralische
Gesetz in mir" ist bodenlos, da dort, wo das Subjekt, ein intaktes
Ich, als handlungsleitende Instanz sein müßte, ein Abgrund
klafft, bestenfalls eine Symphonie oder Kakophonie von interessegeleiteten
Ichs.
Der See ist gewaltig gestiegen.
Der Mensch hat eine Höhe erreicht, wie nie zuvor. Fast alles ist
ihm möglich. Er hat einen Griff getan in den Kern des Atoms und
nun auch in den Zellkern und ist dabei, den "neuen" Menschen
nach seinem Bilde zu konstruieren. Der See steigt und steigt. Immer
höher greift der Mensch. Immer größer werden seine technischen
Möglichkeiten. Gewaltige Energien sammeln sich im See und lasten
auf dem Damm. Wie lange wird er dieser Last noch standhalten? Ein Dammbruch
ist in Nietzsches Vision nicht vorgesehen. Aber sind sie nicht unübersehbar,
die Risse im Damm? Was ist seit Nietzsches Vision an Schrecklichem schon
geschehen? Ist der Damm nicht schon mindestens einmal geborsten? Hat
nicht dieser gegen Gott abgeschottete und gestaute See unter dem Trommelwirbel
nazistischer Propaganda den Damm gesprengt und ganz Europa unter seinem
giftigen Schlamm begraben? Und der Glaube an die Vernunft, an die Wissenschaft,
ist er nicht schon längstens als Irrglaube entlarvt? Aber an irgend
etwas muß der Mensch ja glauben. Das u.a. unterscheidet ihn vom
Tier. Und jeder Glaube wirkt Wunder. Doch: wie der Glaube, so die Wunder.
Und was für eine Wunderwerk ist doch dieser Damm!
II. Das Staunen
"O welch eine Tiefe
des Reichtums...." - Das Tor zur Anbetung ist das Staunen. Das
"O" drückt dieses Staunen aus. Kommen wir in dieses "O",
in dieses Staunen hinein, dann begreifen wir uns wieder als Geschöpfe,
die getragen sind von einem großen JA, und geben Antwort auf die
Anrufung Gottes. Dann fließt der See, der wir sind, wieder dorthin
ab, woher er auch gespeist wird: ins unendliche Meer der Ewigkeit, in
Gott. "Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge."
Eng ist dieses O des Staunens,
das zur Anbetung führt. Wie kommen wir da hindurch und hinein?
Ist es, wie Kant meinte, die Bewunderung und Ehrfurcht, die sich beim
Nachdenken über den "bestirnten Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir" einstellt, die uns durch das O des Staunens
zur Anbetung treibt? Nun, Kant hat bekanntermaßen vom Gebet nicht
viel gehalten.
Das ist auch kein Wunder,
würde Franz Rosenzweig (aaO, 28-33) sagen. Der Philosoph bleibt
vor dem "O" stehen, er will nicht hinein und hindurch. "Staunen
heißt: Stillestehen." Aber statt sich mitreißen zu
lassen vom "Fluß des Lebens", der mit der Zeit die Lösung
bringt (und jenseits der Zeit die Er-lösung), will der Philosoph
die Lösung schon hier und jetzt, wo er stillesteht, er will nicht
Erlösung sondern - pardon! - die Endlösung. Er macht sich
ein System. Rosenzweig: "Das staunende Stillestehn verewigt sich
ihm in seinem ebenfalls stillestehenden Spiegelbild: dem Gegenstand'."
Der Philosoph fragt nach dem "Wesen", "dem eigentlichen
Sein des Gegenstands". Aber: "Die Antwort auf die Frage braucht
er nicht erst zu erwarten. Sie liegt sofort bereit. Sie ist unabhängig
von der Zeit und ihrem Abfluß, wie der Gegenstand durch seine
künstliche Herauslösung und Stillestellung, unabhängig
von diesem Fluß geworden ist." Das ist das Verfahren, die
Operation der Metaphysik, auf deren Fundament die gesamte Wissenschaft
und Technik steht - bis heute, auch wenn sie das nicht weiß.
Nietzsche, der Antimetaphysiker,
hat dieses Problem erkannt und angesichts der radikalen Geschichtlichkeit
allen Lebens und Denkens jeglicher Erkenntnis von Wahrheit den Abschied
gegeben. Aber ohne Wahrheitsanspruch läßt sich eben nicht
leben und denken. Deshalb muß der Philosoph, der die Zerrissenheit
im Fluß der Zeit erkennt, die Wahrheit selber setzen - als "notwendigen
Irrtum", da grundsätzlich nicht erkennbar. Er schafft das
In-der-Welt-sein immer neu. Er gebiert sich selbst. Er ist autonom,
sich selbst Gesetz. Auch Nietzsche bleibt also stehen und macht sich
sein System, mit dem er die Welt und sich selbst organisiert.
Auf ganz andere Weise sagt
das Dietrich Bonhoeffer (aaO., 446f.) am Anfang seiner Trinitatispredigt
zu 1. Kor 2,7-10 so: "Die Geheimnislosigkeit unseres modernen Lebens
ist unser Verfall und unsere Armut. Ein menschliches Leben ist so viel
wert, als es Respekt behält vor dem Geheimnis...Wir zerstören
das Geheimnis, weil wir spüren, daß wir hier an eine Grenze
unseres Seins geraten; weil wir über alles verfügen und Herr
sein wollen. Und eben das können wir mit dem Geheimnis nicht. Das
Geheimnis ist uns unheimlich, weil wir nicht bei ihm daheim sind, weil
es von einem anderen Daheimsein' redet als dem unseren... Daß
das Geheimnis die Wurzel alles Begreiflichen und Offenbaren und Klaren
ist, das wollen wir nicht hören. Und wenn wir es hören, so
wollen wir diesem Geheimnis zu Leibe, wollen es errechnen und erklären,
wollen es sezieren. Und der Erfolg ist, daß wir das Leben dabei
töten und das Geheimnis nicht entdecken. Das Geheimnis bleibt Geheimnis.
Es entzieht sich unserem Zugriff."
Ganz anders Paulus. Er ist
auf ein Geheimnis gestoßen.Über 11 gewichtige Kapitel hin
hat er im Römerbrief den wunderbaren Wegen Gottes mit Israel und
den Heidenvölkern nachgedacht und hat sie nachgezeichnet. Und dabei
ist er in Kap 9 - 11 auf das ihn zutiefst beunruhigende und schmerzende
Rätsel gestoßen, daß seine jüdischen Geschwister,
das Volk der ersten Liebe Gottes, in seiner großen Mehrheit Jesus
als den Christus ablehnt. Aber dieses Rätsel wird ihm am Ende zu
einem Geheimnis (11,25): Gott hat alle miteinander, Israel und die Völker,
eingeschlossen in den Ungehorsam, um sich aller zu erbarmen. Die Rebellion
gegen die Gnade Gottes und damit das ganze Elend der Welt ist umschlossen
von Gottes Erbarmen. Kein Wunder, daß Paulus angesichts der Erkenntnis
dieses Geheimnisses ins Staunen kommt und innerlich auf die Knie fällt.
Paulus hat kein System, mit dem er das Rätsel begreifen will, vielmehr
wird er vom Geheimnis ergriffen, und darum folgt notwendigerweise die
Doxologie.
Wie aber kann man um ein
Geheimnis wissen, ohne daß es zerstört wird, aufgelöst
wie ein Rätsel? Bonhoeffer (aaO., 448): "Geheimnis heißt
nun aber nicht einfach, etwas nicht wissen. Nicht der fernste Stern
ist das größte Geheimnis, sondern im Gegenteil: Je näher
uns etwas kommt, je besser wir etwas wissen, desto geheimnisvoller wird
es uns... Es ist die letzte Tiefe alles Geheimnisvollen, wenn zwei Menschen
einander so nahe kommen, daß sie einander lieben... Wo zwei Menschen
alles voneinander wissen, wird das Geheimnis ihrer Liebe zwischen ihnen
unendlich groß. Und erst in dieser Liebe verstehen sie einander,
wissen sie ganz voneinander, erkennen sie einander ganz. Und doch, je
mehr sie einander lieben und in der Liebe voneinander wissen, je tiefer
erkennen sie das Geheimnis ihrer Liebe. Also das Wissen hebt das Geheimnis
nicht auf, sondern vertieft es."
Vielleicht meinte das auf
seine Weise auch der Physiker Werner Heisenberg, wenn er schreibt: "Der
erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch,
aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott."
III. Die Anbetung
"Man sagt, daß
die antike Weisheit sich resümieren läßt in schweige!
vor dem Schicksal. Genau dieses Schweige! müssen wir jetzt neu
entdecken und aufleben lassen, denn dagegen hat sich das Christentum
erfolgreich aufgelehnt." (Cioran, aaO., 253f.)
Cioran, der rumänische
Denker abgrundtief schwarzer Gedanken, hat das völlig richtig gesehen.
Vor dem Schicksal kann man nur schweigen. Und auch der Gott der Philosophen
ist bestenfalls des Staunens, des ehrfürchtigen Stillestehens wert.
Aber die Antwort auf die Offenbarung des NAMENS des Gottes Israels,
des Vaters Jesu Christi, kann nicht Schweigen, sondern nur Jubel sein
und Lob und Anbetung.
Darum ist auch diese Doxologie
am Ende des 11. Kapitels kein ehrfürchtiges Stillestehen vor dem
deus absconditus, sondern Lob auf den deus revelatus, den in Christus
geoffenbarten Vater, den "Gott des Friedens", den "Gott
allen Trostes", den Gott des Erbarmens, den Gott, von dessen Liebe
uns nichts trennen kann.
Warum aber spricht Paulus
dann von der unergründlichen Tiefe der Gottheit, warum von der
Unerforschlichkeit seiner Gerichte und der Unergründlichkeit seiner
Wege? "Man muß sich an 1.K 2,16 erinnern, wo genau die Frage
von V 34 aufgeworfen und vom Apostel mit der Erklärung abgetan
wird, den nous Christou zu haben, nämlich jenes Pneuma, das nach
1.K 2,10 auch die Tiefen der Gottheit erforscht ... Die Doxologie hat
den gleichen Sinn wie 1.K 2,16c und später Eph 3,5 ff. Pneumatiker
wissen um das, was der Welt verborgen ist, weil Gott ihnen seinen Weg
und Willen offenbart hat. Sie wissen um das, was nach 1.K 2,9ff. kein
Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz
gekommen ist, weil sie um das wissen, was Gott den ihn Liebenden bereitet
und seine Gnade uns geschenkt hat. Das eben ist in c. 9-11 und zumal
dessen Schluß nach Meinung des Apostels zutage getreten. Das Geheimnis
Israels ist ihm nicht verborgen. Darauf antwortet er mit staunendem
Lobpreis" (Käsemann, 307).
Noch einmal zurück zu Nietzsche. Er war kein Pneumatiker, vielleicht
war er ein Gnostiker. Auf jedenfall war er ein denkerischer Titan. Er
hat so tief über Gott, Welt und Mensch nachgedacht wie kaum ein
anderer. Und trotzdem fand er auf dem Grund des Bechers nicht Gott,
sondern das Nichts. Sehen wir einmal davon ab, daß ja der Tod
Gottes, den er ausgerufen hat, der Tod des Gottes der Metaphysik ist.
Vielleicht war er ein Gottsucher, der scheitern mußte, den Gott
an sich scheitern ließ, - so rätselhaft, wie Israel an Gott
scheiterte.
Daraus ist Dreierlei zu lernen:
Erstens: Gott zu finden ist reine Gnade. Aber wir sind schon gefunden:
"Ich habe keinen Gott - aber sei gepriesen, daß es an dem
ist, wie es ist: ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich" (Heinrich
in Ernst Barlachs Drama "Der Graf von Ratzeburg").
Zweitens: Gott und das Nichts sind nahe beieinander. Oder besser: Das
Nichts ist die Nachtseite Gottes.
Und Drittens: Wer es sich versagt, auf dem Grund des Bechers in den
Tempel des Allerheiligsten einzutreten und Gott anzubeten, für
den verwandelt sich Gott in das Nichts.
Nietzsche mußte ja
vor dem Allerheiligsten gestanden sein, so wie Jesaja damals im Jerusalemer
Tempel im Todesjahr des Königs Usia. Wie sonst könnte er vom
Ausblick auf ein Gebirge reden, das Schnee auf dem Haupt und Glut in
seinem Herzen trägt? Er ahnte, daß hier das Herz des Universums
schlägt, daß hier der Sinn und die Vernunft der Dinge verborgen
liegen. Aber er sank nicht in die Knie, er drehte sich um und sah die
Nachtseite Gottes, das Nichts.
Nachdem Nietzsche den Tod
Gottes diagnostiziert hatte, mußte er zwangsläufig den Übermenschen
lehren, der die Wahrheit und den Sinn selber setzt.
IV. Die Predigt
1. Der Stau: Nietzsches titanischer
Gedanke und die Konsequenzen. Ich würde den Nietzschetext vor der
Lesung des Predigttextes entweder wörtlich verlesen oder frei wiedergeben
mit Verweisen auf Dammbrüche, die schon stattgefunden haben oder
noch zu befürchten sind. Evtl. auch Einstieg mit dem Bonhoefferzitat.
2. Das Staunen: Das "O" des Paulus. Wie kommen wir in dieses
Staunen hinein? Manchmal kann ja das Nachdenken und das die Dinge zu
Ende denken helfen. Siehe Paulus und Heisenberg. Manch einer bekommt
auch ganz persönlich den Anstoß, innezuhalten und nachzudenken,
dem Leben so weit nachzudenken, daß sein Grund berührt wird,
durch einen persönlichen "Dammbruch", z.B. durch eine
Krankheit.
3. Die Anbetung: Vor dem Gorgonengesicht des Schicksals kann man nur
in Schweigen verharren und erstarren. Der NAME Gottes aber, seine Selbstoffenbarung
als "Ich bin für euch da", als "Backofen voll Liebe"
(M. Luther), als der, der alle einschließt in den Ungehorsam,
um sich aller zu erbarmen, weckt Jubel und Anbetung.
Psalm 47
Schriftlesung: Jes 6,1-13
Lied: 179
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