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Eberhardsgemeinde
- Trinitatis (6. Juni 2004): Römer 11,33-36 (Predigt)
Liebe Gemeinde!
Zunächst will ich einem Denker das Wort geben, der sich wie kaum
ein anderer vor ihm und nach ihm dem Gedanken ausgesetzt hat:
Gott ist nicht! Da, wo der
Mensch Gott denkt, da ist nichts, ist das pure Nichts. Ein fürchterlicher
Gedanke! Friedrich Nietzsche, der diesen Gedanken konsequent zu Ende
gedacht hat, schreibt in einem seiner Aphorismen:
"Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr
im endlosen Vertrauen ausruhen - du versagst es dir, vor einer letzten
Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine
Gedanken abzuschirren - du hast keinen fortwährenden Wächter
und Freund für deine sieben Einsamkeiten - du lebst ohne Ausblick
auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen
trägt - es gibt keine Vernunft mehr in dem, was geschieht, keine
Liebe in dem, was dir geschehen wird - deinem Herzen steht keine Ruhestatt
mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat - Mensch
der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft
dazu geben?"
Spüren wir, liebe Gemeinde,
hinter diesen titanischen Gedanken der Gottlosigkeit auch den abgrundtiefen
Schmerz, unter denen sie geboren sind? Der Denker Friedrich Nietzsche
hat unter Schmerzen zu Ende gedacht, was der Mensch der Moderne gedankenlos
und deshalb schmerzlos einfach lebt.
"Wer wird dir die Kraft dazu geben?" hatte Nietzsche noch
gefragt. Und in einer grandiosen Vision schaut er die Antwort: "Es
gibt einen See", so sagt er, "der sich eines Tages versagte,
abzufließen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloß.
Seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene
Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber
ertragen werden kann, vielleicht wird der Mensch von da an immer höher
steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfließt."
Diese Vision, liebe Gemeinde,
ist Wirklichkeit geworden. Der See versagt es sich, abzufließen.
Der Mensch hat einen Damm aufgeworfen gegen Gott. Er will aus sich selber,
durch sich selber, für sich selber leben.
Der See ist gewaltig gestiegen.
Der Mensch hat eine Höhe erreicht, wie nie zuvor. Fast alles ist
ihm möglich. Er hat einen Griff getan in den Kern des Atoms und
nun auch in den Kern der menschlichen Zelle und ist dabei, den "neuen
Menschen" nach seinem Bilde zu konstruieren.
Der See steigt und steigt.
Immer höher greift der Mensch, Immer größer wird seine
Kraft. Gewaltige Energien sammeln sich im See und lasten auf dem Damm.
Wie lange wird er dieser Last noch standhalten? Ein Dammbruch ist in
Nietzsches Vision nicht vorgesehen. Aber sind sie nicht unübersehbar,
die Risse im Damm?
Was ist seit Nietzsches Vision
an Schrecklichem schon geschehen? Ist der Damm nicht mindestens schon
einmal geborsten? Hat nicht dieser gegen Gott abgeschottete und gestaute
See unter dem Trommelwirbel nazistischer Propaganda den Damm gesprengt
und ganz Europa unter seinem giftigen Schlamm begraben? Ist dieser Schlamm
schon völlig abgetragen? Gewiß, die Staatsmänner haben
heute am sog. D-Day in der Normandie guten Grund zu feiern? Europa ist
von eine verbrecherischen Regime befreit worden. Wir haben seither fast
60 jahre Frieden. Vieles hat sich seither zum Besseren gewendet. Die
ehemaligen Feinde sind zu Partnern geworden. Dafür dürfen
und sollen wir dankbar sein. Aber auf wessen Kosten haben sich die ehemaligen
Gegner verbündet? Ist die Welt eine friedlichere geworden?
Haben die Staaten, haben die Völker gelernt, daß nur eine
gerechtere Welt auch eine friedlichere Welt sein kann?
Und daß der Mensch die Erde nicht grenzenlos und maßlos
ausbeuten kann, ohne daß er den Ast absägt, auf dem er selber
sitzt?
Sie, liebe Freunde, können
sich, wenn Sie aufmerksam die Zeitung studieren, die Antwort selber
geben.
Gegenwärtig ist für viele die größte Angst, der
Ölpreis könnte noch stärker steigen.
Und schon setzen einige wieder auf die Atomkraft, obwohl noch keiner
eine Lösung gefunden hat für die Entsorgung des radioaktiven
Mülls. Diese tickende Zeitbombe hinterläßt man einfach
den Kindern und Kindeskindern.
Und das heißt doch: Nur nicht umdenken wollen! Nur immer weiter
im alten Trott. Die Wissenschaft, die Technik wird schon eine Lösung
bringen.
Man will nicht sehen, daß Wissenschaft und Technik selber zum
Problem geworden sind. Und daß jede Lösung mindestens zwei
neue Probleme schafft.
So wie bei der Hydra, jenem
furchtbaren Ungeheuer mit den vielen Köpfen aus der griechischen
Sage, - wenn man einen abgeschlagen hat, wachsen jedesmal zwei neue
Köpfe nach.
Aber nicht eigentlich sind
Wissenschaft und Technik das Problem. Das Problem ist der Mensch selbst,
der sein Leben nicht auf Gott bauen will.
Der nicht glauben will, daß er ein Geschöpf ist, geehrt und
geliebt von Gott. Und darum mit Geboten beschenkt, die seine Freiheit
und sein Leben in der Gemeinschaft schützen sollen.
Und so muß er also
an sich selber glauben. Und auf sich selber bauen: auf die eigene Vernunft,
die doch so oft zum Teufel geht, wenn es die eigenen Interessen gebieten.
Und auf den technisch-wirtschaftlichen Fortschritt, der schon längst
an die Grenzen gestoßen ist und auf Kosten von Millionen von Menschen
in den Hungerländern geht.
Ja, der Mensch muß
etwas glauben, an das eine oder andere. An Gott oder sich selbst und
die eigenen Machwerke.
Und jeder Glaube wirkt Wunder. Aber wie der Glaube, so auch die Wunder.
Und was für ein Wunderwerk ist doch dieser Damm, in dem die ganze
Hybris des Menschen versammelt ist.
Der Damm, der uns abschirmen
soll gegen Gott.
Der Damm, der das natürliche Abfließen des Sees verhindern
soll.
Der Damm, der uns gegen die so notwendige und notwendende Erfahrung
abschottet, daß wir Geschöpfe sind, deren Leben Antwort auf
die Anrufung Gottes sein soll.
Aber nun ist es Zeit, liebe
Gemeinde, daß wir auf diese Anrufung Gottes hören. Das Wort
Gottes, das Evangelium, die rettende Botschaft, die uns heute erreichen
will, steht im Römerbrief des Apostels Paulus.
Es ist ein hymnischer Lobpreis Gottes. Und eigentlich kann man ihn gar
nicht predigen. Nur einstimmen kann man in dieses Lob. Wenn ich nach
der Verlesung des Textes trotzdem noch etwas sage, dann ist das weniger
eine Auslegung, als der Versuch unter dem Klang des Textes einen Abschluß
zum angeschnittenen Thema zu finden.
Römerbrief 11,33-36:
"O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der
Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?
Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß Gott es ihm vergelten
müßte?
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre
in Ewigkeit! Amen"
Liebe Gemeinde!
Anbetung ist Öffnung der Seele für Gott. Und die Öffnung
der Seele ist die Rettung des Menschen, des inneren Menschen, der es
sich versagt, in Gott abzufließen.
"O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis
Gottes!" Das ist Anbetung.
Und das Tor zur Anbetung ist das Staunen. Also schon im ersten Buchstaben
liegt Rettung: "O!"
Kommen wir in dieses "O", in dieses Staunen hinein, dann begreifen
wir uns wieder als Geschöpfe und geben Antwort auf die Anrufung
Gottes.
Dann fließt der See, der wir sind, wieder dorthin ab, woher er
auch gespeist wird: ins unendliche Meer der Ewigkeit, in Gott.
"Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge."
Eng ist dieses "O" des Staunens, das zur Anbetung führt.
Wie kommen wir da hinein und hindurch?
Nun, indem wir uns bücken. Und indem wir sozusagen die hybride
Luft aus unserem Ich ablassen, damit es auf das Normalmaß zusammenschrumpft.
Nun, ich weiß wohl, daß das nicht unbedingt das Problem
von jedem ist, der unter uns sitzt. Vielleicht von den wenigsten.
Nicht ein aufgeblasenes Ich, sondern ein Gefühl der Minderwertigkeit
- auch das kann unser Problem sein. Und auch das kann uns daran hindern,
durch dieses "O" des Staunens zu schlüpfen. Weil wir
uns gar nicht trauen. Weil wir meinen, auch der liebe Gott hätte
uns vergessen.
Da gibt uns übrigens
die jüdische Weisheit ein gutes Rezept an die Hand. Der Mensch
soll, so heißt es, immer zwei Zettel bei sich tragen. Auf dem
Zettel in der rechten Tasche soll stehen: Du bist ein königlicher
Mensch, von Gott berufen und geliebt!
Und auf dem Zettel in der linken Tasche soll stehen: Du bist Staub,
von der Erde genommen, und zu Staub wirst du wieder werden.
Und je nach Verfassung soll man den einen oder anderen Zettel aus der
Tasche holen. Bin ich dabei, hoch- und übermütig zu werden
und meine Grenzen nicht mehr zu sehen, dann soll ich nach dem Zettel
greifen, der mich lehrt, daß ich nur Staub bin.
Und bin ich ganz unten und fühle mich sozusagen wie den letzten
Dreck, dann soll ich zum Zettel greifen, der mich lehrt, daß ich
ein königlicher Mensch bin, von Gott gewollt und geliebt.
Also, lieber Mensch, nun faß dir ein Herz und steig oder kriech
durch das "O" des Staunens hindurch zur Anbetung Gottes.
Aber es könnte sein, daß etliche noch immer vor sich selber
stehen und sich selber anstaunen, was sie alles leisten und wie herrlich
weit der Mensch es doch mit seinem Wissen und Verstand gebracht hat.
Dann hilft nichts anderes mehr, als tiefes, tiefes Nachdenken, wenn
überhaupt noch etwas hilft!
Werner Heisenberg, Nobelpreisträger
der Physik, sagte einmal: "Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft
macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott."
Also: Nicht um ein bißchen Denken geht es hier. Ein bißchen
Denken bläht auf. Die "Bißchen-Denker" sind Legion.
Es geht darum, die Dinge zu Ende zu denken, um auf den Grund des Bechers,
durch das staunende O zur Anbetung zu kommen.
Auch Paulus hat übrigens
vor seinem Gotteslob tief nachgedacht.
In drei Kapitel zuvor hat er am größten Rätsel herumgedacht,
das er kannte: Am Geschick des jüdischen Volkes. Warum hat es den
Christus, den Messias nicht erkannt? Ist es nun insgesamt verloren und
verworfen? Seine Seligkeit wollte er verkaufen, wenn er um diesen Preis
den Glauben für seine Geschwister hätte haben können.
Aber am Ende seines
schmerzlich-tiefen Denkprozesses steht die befreiende Erkenntnis:
Gott hat alle miteinander,
Israel und die Völker, eingeschlossen in den Ungehorsam, um sich
aller zu erbarmen. Die Rebellion gegen die Gnade Gottes und damit das
ganze Elend der Welt ist umschlossen von Gottes Erbarmen.
Und vor dieser grundlosen, absolut unbegreiflichen Barmherzigkeit Gottes
sinkt er anbetend in die Knie:
"O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis
Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine
Wege!"
Manch einer bekommt auch ganz persönlich den Anstoß, innezuhalten
und nachzudenken, dem Leben so weit nachzudenken, daß sein Grund
berührt wird.
Die Krankheit kann so ein Anstoß sein. sie ist ja so etwas wie
ein persönlicher, partieller Dammbruch, bei dem das Leben gleichsam
wieder einen Weg sucht zum Urgrund der Dinge, zu Gott.
Jede Katastrophe mahnt den Menschen, den Damm, den er gegen Gott aufgeworfen
hat, abzutragen.
Und jede Krise ist ein Appell zum Denken. Die Bibel aber ist eine Denkhilfe.
Sie kann uns helfen, in die richtige Richtung zu denken, damit wir auf
den Grund des Bechers gelangen, wo Gott auf uns wartet.
Nun wird aber vielleicht
einer einwenden: Auch Nietzsche hat doch nachgedacht.... so tief, wie
kaum ein anderer. Und doch fand er auf dem Grund des Bechers nicht Gott,
sondern das Nichts.
Das ist wahr. Und daraus ist Dreierlei zu lernen:
Erstens: Gott zu finden ist
Gnade. Es gibt keinen sicheren Weg, sozusagen eine sichere Methode,
um zu Gott zu finden.
Zweitens: Gott und das Nichts sind nahe beieinander. Oder besser: Das
Nichts ist die Nachtseite Gottes.
Und Drittens: Wer es sich versagt, auf dem Grund des Bechers in den
Tempel des Allerheiligsten einzutreten und Gott anzubeten, für
den verwandelt sich Gott in das Nichts.
Nietzsche mußte ja
vor dem Allerheiligsten gestanden sein, so wie Jesaja damals im Jerusalemer
Tempel im Todesjahr des Königs Usia.
Wie sonst könnte er vom Ausblick auf ein Gebirge reden, das Schnee
auf dem Haupt und Glut in seinem Herzen trägt?
Er ahnte, daß hier das Herz des Universums schlägt, daß
hier der Sinn und die Vernunft der Dinge verborgen liegen.
Aber er sank nicht in die Knie, er drehte sich um und sah die Nachtseite
Gottes, das Nichts.
Vielleicht war das so. Nehmen Sie das nicht wörtlich. Nietzsches
Tragik war: Er wollte nicht einen Sinn, den er nicht zuvor geschaffen
hatte. Er wollte keine Vernunft, die er nicht denken und kein Glück,
das er nicht selber schmiden konnte.
Und daher versagte er es sich, vor dieser letzten Weisheit, letzten
Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und seine Gedanken loszulassen.
"Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr
in einem endlosen Vertrauen ausruhen...Deinem Herzen steht keine Ruhestatt
mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat."
Wer ist dieses "Du"? Wer ist hier angesprochen? Ich denke,
es ist der Mensch der Moderne, der auf seine Fahne den Fortschritt geschrieben
hat, der ruhelos von einer Sinnlosigkeit zur anderen fortschreitet,
der ewig auf der Suche nach sich selber ist, weil er nicht mehr weiß
und wissen will, daß er von Gott schon gefunden ist,
auf der Suche nach immer neuen Möglichkeiten und der dabei niemals
mehr zur Ruhe kommt in der Wirklichkeit Gottes, in der Anbetung.
Der einen Damm aufgeworfen hat gegen diese Wirklichkeit, so daß
er nun an seinen schrecklichen Möglichkeiten zugrunde zu gehen
droht.
Ein jeder prüfe sich, wie modern er ist. Denn das ist sein Anteil
an dieser Bedrohung, an diesem Dammbau.
Anbetung ist die Öffnung
der Seele für Gott, so sagte ich.
Und die Öffnung der Seele ist die Rettung des Menschen, der es
sich versagt, in Gott abzufließen.
Das Staunen ist das Tor zur
Anbetung. Der Blick auf die blühenden Wiesen, der Laut eines Vogels,
die Weite des Universums, die Kräfte des Atoms, die Geburt eines
Kindes, die Tatsache, daß wir am Leben sind, noch immer und trotz
allem am Leben sind - an all dem haftet der Name Gottes und all das
ist Grund zum Staunen.
Kommen wir da hinein, dann
fallen wir auf die Knie, dann fließt der See, der wir sind, wieder
ab in Gott, und wir werden unseren Teil zur Demontage des Dammes und
somit zur Rettung des Menschen beitragen.
Wir werden anbeten und ausruhen im endlosen Vertrauen. Wir haben einen
fortwährenden Wächter und Freund für unsere sieben Einsamkeiten.
In allem, was geschieht, sehen wir den verborgenen Sinn Gottes, und
in allem, was uns geschehen wird, glauben wir an seine Liebe.
"Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei
Ehre in Ewigkeit. Amen"
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