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Predigt zum 1. Advent 2004 "Hoffnung muss
enttäuschbar sein..."
"Hosianna dem Sohn Davids!
Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn!
Hosianna in der Höhe!"
Liebe Gemeinde!
So haben die Menschen in
Jerusalem Jesus von Nazareth willkommen geheißen. Voll Hoffnung
dachten sie: Die Zeit ist gekommen. Der Sohn Davids ist da, der die
römischen Besatzer davonjagen und Recht und Gerechtigkeit im Lande
aufrichten wird, der Gesalbte, der Messias, der in den hebräischen
Schriften durch die Propheten angekündigt wird: der Gott unserer
Gerechtigkeit, der Spross Davids.
Eine solche prophetische
Verheißung, wie sie Menschen vielleicht im Herzen trugen, als
sie Jesus auf dem Esel in Jerusalem einreiten sahen, ist unser heutiges
Evangelium. Eine Verheißung des Propheten Jeremia. Ich lese aus
dem 23. Kapitel:
5 Siehe, es kommt die
Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken
will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und
Gerechtigkeit im Lande üben wird.
6 Zu seiner Zeit soll
Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name
sein, mit dem man ihn nennen wird: "Der HERR unsere Gerechtigkeit".
7 Darum siehe, es wird
die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: "So
wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt
hat!",
8 sondern: "So wahr
der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt
und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen,
wohin er sie verstoßen hatte." Und sie sollen in ihrem Lande
wohnen."
Amen
Liebe Adventsgemeinde!
Worauf hoffen wir jetzt im
Advent 2004? Geht es Ihnen auch so, dass die Sehnsucht, die Hoffnung
auf Recht und Gerechtigkeit im Lande, auf Frieden in der Welt besonders
stark wird, in Vorbereitung auf Weihnachten, in Erwartung, dass ER kommt....
Ist das sentimental?
Viele Hoffnungen werden in
diesen Tagen enttäuscht:
- Hoffnungen in unsere Regierung und soziale Gerechtigkeit. Statt dessen
wird denen, die schon immer wenig hatten, auch noch das Wenige genommen.
- Hoffnungen auf einen sicheren und befriedigenden Arbeitsplatz, in
den man sein Können und Engagement investiert. Plötzlich ist
die Arbeitskraft nicht mehr gefragt, der Tag leer, das Geld knapp.
- Hoffnungen auf ein erfülltes Leben zu zweit. Was voller Lust
und Liebe begann, endet in täglichen und aufreibenden Streitereien
über Banalitäten.
Hoffnung auf Recht und Gerechtigkeit - wie oft ist sie schon enttäuscht
worden, heute und damals zur Zeit Jeremias...
Lassen Sie uns kurz in diese
Zeit zurückgehen, um zu verstehen, woher Jeremia die Hoffnung nahm,
die Verheißung in unserem heutigen Evangelium zu glauben und weiter
zu geben.
Jeremia hatte eigentlich
keinen Grund mehr darauf zu hoffen, dass sich irgendetwas verändern
würde.
Immer wieder hatte er die Könige, die Reichen und Einflussreichen
aufgefordert auf Gott zu hören und von ihren bösen Wegen umzukehren.
"Schaffet Recht und Gerechtigkeit! Errettet den Bedrückten
von des Frevlers Hand und bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen
und Witwen und tut niemand Gewalt an, spricht der Herr." (Jer 22,3)
Doch die Könige scherten sich nicht um seine Worte. Sie ließen
sich große Häuser bauen und weite Gemächer, ließen
sie mit kostbarem Zedernholz täfeln und rot anstreichen. Auf unechten
Gewinn waren sie aus. Sie verlangten überhöhte Steuern vom
Volk und ließen unschuldige Menschen sterben (Jer 22,14ff).
Jeremia war verzweifelt.
Er wollte und konnte nicht mehr. Er klagt Gott sein Leid:
"Ich bin zum Spott geworden täglich und jedermann verlacht
mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien: "Frevel und Gewalt!".
Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem
Namen predigen... Warum bin ich nur aus dem Mutterleib hervorgekommen,
wenn ich nur Jammer und Herzeleid sehen muss?" (Jer 20,7-9)
Es blieb ihm schließlich nur noch, das Unheil zu benennen, das
er auf Israel zukommen sah:
"Wehe euch Hirten, die ihr die Herde meiner Weide umkommen lasst
und zerstreut... Ihr habt meine Herde zerstreut und verstoßen
und nicht nach ihr gesehen. Siehe, ich will euch heimsuchen um eures
bösen Tun willens, spricht der Herr."
So heißt es unmittelbar vor unserem Predigttext.
Es kam so, wie es Jeremia
prophezeit hatte. Die Babylonier eroberten Jerusalem und führten
den König, seine Familie, die Reichen und Gebildeten in die Verbannung
nach Babylonien.
Jeremia hat recht behalten mit seiner Unheilsprophetie. Eigentlich könnte
er beruhigt nach Hause gehen und zusehen, wie die Katastrophe ihre Lauf
nimmt.
Doch das kann er nicht. Jeremia verstummt nicht. Er schlägt neue
Töne an. Keine Weherufe, keine Unheilsweissagungen, wie bisher,
sondern Worte voller Verheißung - voller Hoffnung.
Nicht zu den Königen spricht er sie, sondern zum Volk, das unter
der Politik der Könige zu leiden hat.
"Siehe, es kommt
die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross
erwecken will. Der soll König sein..."
Der wird Recht und Gerechtigkeit üben im Land,
den wird man nennen "Gott ist unsere Gerechtigkeit".
Und er wird zurückführen, die zerstreut sind
Liebe Gemeinde!
Woher nimmt der verzweifelte Prophet Jeremia diese Hoffnung in aller
Hoffnungslosigkeit? Woher diese Kraft in aller Verzweiflung?
Der jüdische Philosoph Ernst Bloch, der bis zu seinem Tod in Tübingen
lebte und lehrte, hat einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: "Kann
Hoffnung enttäuscht werden?" Im Aufsatz gibt er folgende Antwort:
"Wie doch, gewiss. Kommt haufenweise vor. Jedes Leben ist voll
von Träumen, die nicht gar werden. So muss Hoffnung schlechterdings
enttäuschbar sein..."
Hoffnung muss enttäuschbar sein, sagt Bloch, aber die Enttäuschung
ist nicht das Ende der Hoffnung, denn sie ist, so Bloch, "nach
vor hin offen, in Künftiges hin..."
Die Katastrophe ist da - aber es gibt ein Leben nach der Katastrophe.
Das Volk Israel wird zerstreut, Jerusalem samt dem Tempel total zerstört.
Doch Jeremia sieht darüber hinaus, in Künftiges hin... ER
vertraut auf Gott, dem er alle seine Verzweiflung klagen konnte. ER
wird die Geschichte seines Volkes weiterschreiben von Generation zu
Generation...
Die Geschichte Gottes mit seinem Volk bleibt nicht stehen. Israel verändert
sich und auch Gott verändert sich. Er wird nicht auf ewig der bleiben,
der die Israeliten herausgeführt aus Ägypentland, aus der
Knechtschaft, wie es im 1. Gebot heißt.
Er ist auch als der, der die Nachkommen Israels herausführen wird
aus der Verbannung und Zerstreuung, und der sie zurückbringen wird
aus allen Ländern, dass sie in ihrem Land wohnen mit Recht und
Gerechtigkeit...
Liebe Adventsgemeinde!
Wir spüren: Unser Evangelium ist eine Verheißung, die zu
allererst Israel gilt. Gott hat sein Volk nicht verlassen durch seine
ganze Geschichte hindurch.ER ist mit ihm gegangen.
Die Verheißung des Jeremia bekam eine je und je neue Aktualität.
In unserer Zeit hören wir die Worte des Jeremia auch voll Sorge
um den Staat Israel, in dem Menschen aus aller Herren Länder Heimat
gefunden haben, aus dem Norden und aus dem Süden, aus Europa, aus
Russland und aus Äthiopien. Sie ringen um Recht und Gerechtigkeit
und die verheißene Ruhe will nicht einkehren.
Hier gilt der andere Satz
von Ernst Bloch über die Hoffnung:
"Die geprüfte Hoffnung weiß, dass nicht nur, wo Gefahr
auch das Rettende, sondern wo das Rettende auch Gefahr wächst."
Liebe Gemeinde!
Adventszeit - Hoffnungszeit. Durch den Advent, durch die Ankunft Jesu
in der Welt, gilt die Verheißung des Jeremia heute auch uns Christen.
Worauf hoffen wir? Dürfen wir noch hoffen?
Und was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?
"Hoffnung muss schlechterdings
enttäuschbar sein", schreibt Ernst Bloch, aber das ist nicht
ihr Ende, denn: "Nichts ist menschlicher als zu überschreiten,
was ist."
Das hat der Prophet Jeremia vorgelebt. Gegen alle Hoffnungslosigkeit
lebt er auf Künftiges hin. Open end. Das Ende ist offen...
Wann kommt die Zeit, von der Jeremia spricht, die Zeit der Ankunft oder
der Wiederkunft?
Was können wir dazu tun? Vielleicht ert einmal nur die Augen öffnen.
Liebe Adventsgemeinde!
Ein Spross ist leicht zu übersehen, wenn er beginnt zu wachsen.
Man muss die Augen aufhalten, um ihn zu sehen. Aber dann sieht man ihn
auch hier auf Erden.
"Dass Blütenträume fast selten reiften, ist lange bekannt",
schreibt Bloch, "die geprüfte Hoffnung weiß das besser
als irgendwer."
Die geprüfte Hoffnung nimmt die Knospen wahr, die sich leise zu
öffnen beginnen:
- Menschen gehen in Kiew
auf die Straße und protestieren gegen einen wahrscheinlichen Wahlbetrug.
Heute wurde die Wahl annuliert, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden.
- Muslimische Gemeinden in Köln laden Juden und Christen ein, mit
ihnen gemeinsam gegen Terrorismus zu demonstrieren,
- Gestern Abend war im Fernsehen zu sehen, wie der cives- Preis verliehen
wird an Menschen von Film und Fernsehen, die sich für das Zusammenleben
unterschiedlicher Kulturen einsetzen.
Vielleicht sind solche Knospen
von Recht und Gerechtigkeit nur dort wahrzunehmen, wo zum einen die
Hoffnung durch Enttäuschungen geprüft ist, und zum anderen
eine Verheißung, wie die von der Jeremia spricht, die Sicht frei
hält.
"Weil sie nach vorn hin offen ist, in Künftiges hin. Und nicht
bereits Vorhandenes meint..."
Lassen Sie mich schließen mit einem Gedicht von Hans Dieter Hüsch:
"Utopie"
Ich seh ein Land mit neuen Bäumen.
Ich seh ein Haus mit grünem Strauch.
Und einen Fluss mit flinken Fischen.
Und einen Himmel aus Hortensien seh ich auch.
Ich seh ein Licht von Unschuld weiß.
Und einen Berg, der unberührt.
Im Tal des Friedens geht ein junger Schäfer,
der alle Tiere in die Freiheit führt.
Ich hör ein Herz, das tapfer schlägt,
in einem Menschen, den es noch nicht gibt,
doch dessen Ankunft mich schon jetzt bewegt.
Weil er erscheint und seine Feinde liebt.
Das ist die Zeit, die ich nicht mehr erleb.
Das ist die Welt, die nicht von unsrer Welt.
Sie ist von fein gesponnenen Gewebe,
und Freunde, glaubt und seht: sie hält.
Das ist das Land, nach dem ich mich so sehne,
das mir durch Kopf und Körper schwimmt,
mein Sterbenswort und meine Lebenskantilene,
dass jeder jeden in die Arme nimmt.
Amen
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