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Geschenkte
Zeit
Ansprache
über Gal 3,26 - 4,14
am Altjahrsabend 31.12.2004 - 17.00 Uhr St. Michael
Tübingen
Liebe Schwestern und Brüder,
es mag daran liegen, daß ich in diesem Jahr das 40. Lebensjahr
vollendet habe: Jedenfalls habe ich deutlicher als bisher erfahren,
daß die Zeit, die ich durch-schreite, geschenkte Zeit ist, also
kein Servicestandard, über den ich beliebig verfügen könnte,
keine unerschöpfliche Ressource, zumindest, was mein eigenes Leben
angeht. Diese Erkenntnis birgt Konsequenzen in sich, von denen es wohl
klug ist, sie anzunehmen, und die am Ende eines Kalenderjahres eine
Relevanz über das Private hinaus entfalten könnten. Heute
denken viele von uns über die Zeit nach, über den eigenen
Umgang damit, über das Genutzte, das Vertane. Wenn meine Lebenszeit
mir also geschenkt ist, dann habe ich einerseits Grund dankbar zu sein,
für dieses Geschenk, das sich auch im Jahre 2004 in vielen Be-gebenheiten,
Ereignissen darstellt; in solchen, die einfach schön und wohltuend
waren, aber auch in konfliktträchtigen, die mich weiter gebracht
haben, als Mensch, als Priester, als Ihr Gemeindeleiter. Sie, liebe
Schwestern und Brüder, können dazu Ihre persönliche Bilanz
aufstellen, so wie ich dies für mich tue. Auf der anderen Seite
drängt gerade die geschenkte Zeit auch zum verantwortli-chen Umgang,
soz. zur klugen und bewußten Zeiteinteilung. Was mir nicht ge-hört,
kann nicht einfach nur verplempert werden. Es will vielmehr - ohne geisti-ge
Enge und Furchtsamkeit, versteht sich - klug verwaltet werden. Und da
er-schrecke ich doch manchmal über mich selbst, wie unbewußt
und manches Mal wohl leichtfertig ich mit meiner Zeit umgehe. Carpe
diem!, Nutze den Tag!, heißt eine alte Lebensweisheit dazu. Habe
ich dies immer getan? Habe ich im Geiste Jesu demjenigen Nächsten
meine Zeit geschenkt, der sie notwendig benö-tigte? Habe ich anderen
ihre Zeit gestohlen, sie daran gehindert, die Zeit sinnvoll zu nutzen,
im Sinne Gottes? Dies sind die Fragen, liebe Schwestern und Brüder,
die sich mir am Altjahrsabend 2004 aufdrängen. Und die auf dem
Hintergrund der unsagbar schlimmen Flutkatastrophe in Südostasien
mit den so vielen Toten noch viel bedrängender werden. Haben doch
all diese jäh aus dem Leben geris-senen Menschen nun, von einer
Minute zur anderen, nicht mehr die Möglichkeit und das Privileg,
über die ihnen geschenkte Zeit zu verfügen. So plötzlich,
buchstäblich aus heiterem Himmel, kann das Leben enden; so unvorhersehbar
tritt der Tod ein. Der Plan Gottes mit seiner Schöpfung, mit jedem
Menschen, den er liebt, scheint nicht verständlich zu sein für
uns. Der Maßstab der Zeit ist offenkundig bedeutungslos für
ihn, dieses Maß, nach dem wir alles bemessen, unsere Existenz
einteilen. Das Geschenk der Zeit: für Abertausende ist es aufge-braucht,
mit einem Mal. Aber wir
Wir leben weiter; unser Geschenk besteht
fort. Mit dem Tod und der unausweichlichen Endlichkeit konfrontiert,
lohnte es sich, aus jedem Tag, aus jeder Stunde etwas zu machen im Sinne
des Schenkers! Dies sind wir Menschen einander und Gott schuldig: daß
wir nicht in den Tag hinein leben, nicht nach eigenen Gesetzen die Zeit
und unser Leben verplanen, sondern mitbauen an einer neuen Welt, in
der alle Töchter und Söhne Gottes ge-nannt werden und die
Menschheit sich als eine zusammenhängende Familie ver-steht.
Wenn Sie, liebe Schwestern und Brüder, den Tenor der Lesung noch
im Kopf haben, dann erinnern Sie sich gewiß, daß dies auch
das Bild ist, das Paulus in seinem Brief an die Galater bemüht:
Alle, die ihr Leben und seine Zeit Gott ver-danken, sind einer in Christus
Jesus,
, Erben kraft der Verheißung. Als Chris-ten sind
wir eben nicht mehr Sklaven der Elementarkräfte dieser Welt. Sondern
wir sind geradezu verpflichtet, nach geistlichen Kriterien unsere Existenz
zu bestreiten. Unser Dasein besteht eben nicht mehr im nackten Existenzkampf.
Wir brauchen uns das Ziel des Lebens nicht selbst erschaffen. Und wir
sind dazu bestimmt, aufrechten Ganges durch die Welt zu laufen, und
jedem diesen auf-rechten Gang zu ermöglichen. Darin besteht das
Erbe, das Gott uns gegeben hat: daß wir als Christen durch den
menschgewordenen Christus die Voraussetzung dazu haben, nicht am Materiellen
haften zu bleiben, sondern frei sind, aus der uns gegebenen Lebenszeit
etwas zu machen, das der Welt zunutze kommt.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
drei Bereiche möchte ich programmatisch im Blick auf das neue Jahr
herausgreifen, in denen sich zeigen könnte, daß wir als christliche
Gemeinde verantwortlich mit unserer Zeit umgehen, daß wir den
Tag nützen und die Chancen ergreifen, die sich uns bieten, um unserer
geistlichen Berufung entsprechend zu leben.
1. Ökumene
Unsere Gemeinden haben in den letzten Jahren große Anstrengungen
unter-nommen und viel Zeit dafür investiert, um auf sensible und
verträgliche Weise in der praktizierten Ökumene zwischen den
Schwestergemeinden vor Ort Fort-schritte zu machen. Ich meine damit
keineswegs nur die öffentlichkeitswirksa-men Auftritte bei gemeinsamen
Gottesdiensten, sondern genauso das Zusam-menarbeiten auf vielen Sektoren,
wo kein konfessionelles, sondern ein christli-ches Zeugnis gefragt ist.
Und dennoch muß die Frage erlaubt sein, ob dies aus-reicht. Ist
es doch eine unmittelbar aus dem Evangelium Christi abzuleitende Forderung,
daß die Christen allesamt eins seien, einer in Christus, sagt
Gal. Sind wir also auf dem Stand, auf der gemeinsamen Höhe, die
unser Zeitalter nahe legt, oder gehen wir zaudernd mit unserer Zeit
um, indem wir uns mit der Wie-derholung des Gleichen vertrösten.
Keine Abendmahlsgemeinschaft, keine An-erkennung der kirchlichen Ämter,
keine richtungweisende Annäherung in der Kirchenfrage. Unser Bischof
Gebhard Fürst, keiner der Bedenkenträger, der Rückschrittlichen
im deutschen Episkopat hat gleichwohl bei der letzten Deka-nekonferenz
im November 2004 unmißverständlich darauf hingewiesen, daß
in schwerwiegenden Fällen, wo ein Pfarrer, eine Gemeinde gegen
das geltende ka-tholische Recht verstoße, er keinen Spielraum
habe. Diese Äußerung bewegt sich auf einer Linie mit der
Zurückhaltung in ökumenischen Fragen, wie sie seit dem Ök.
Kirchentag 2003 in Berlin entstanden ist. An uns als Gemeinde richtet
sich die Frage, wie wir auf diesem Hintergrund mit der Zeit umgehen
wollen, die uns geschenkt uns, um dem Gebot Jesu Christi zu dienen.
Müßten wir sie nicht für mutigere Schritte nützen;
mutig in dem Sinne, daß von unserem ge-meinsamen evangelisch-katholischen
Engagement noch viel mehr profitieren, über die Grenzen der Gemeindemauern
hinaus? Predigtreihen, Gottesdienste, Ausschüsse werden in Zukunft
nicht ausreichen!
2. Jugend
Daß die jungen Menschen in unseren Reihen die Hoffnungsträger
des Christen-tums hier am Ort sind, ist eine pure Selbstverständlichkeit.
Wer, wenn nicht die Jugendlichen, die zur Gemeinde gehören, sollen
später einmal die Gemeinde bilden und den Glauben weiter tragen,
anderen davon erzählen. Angesichts die-ser offenkundigen Lebenswahrheit
stellt sich die dringende Frage, ob wir für unsere Jugend ausreichend
Zeit investieren: für Gespräche über ihre Themen, fürs
Zuhören auf ihre Probleme. Seit ich Pfarrer bin in Tübingen,
nun im 6. Jahr, beschleicht mich wiederholt das Gefühl, daß
hier meine Gewichte im Arbeitsall-tag falsch verteilt sind - trotz meiner
Bemühungen, um die ich durchaus weiß. Junge Leute haben einen
Platz in unserer Gemeinde, auch in unseren Gemeinde-räumen. Aber
kriegen sie wirklich das, was sie brauchen, oder auch das, was ich anzubieten
hätte, was viele hier unter uns ihnen geben könnten. Ein offenes
Café für junge Leute schwebt mir vor, oder ein regelmäßiger
Gesprächskreis mit Inte-ressierten zu Fragen über Gott und
die Welt; gemeinsame Ausflüge und Exkur-sionen, Reisen, eine jugendgemäße
Liturgie mehr und öfters.
Dazu müßte ich meine Arbeitszeit in der Tat anders verteilen;
das wäre möglich. Daß es bisher nicht richtig geklappt
hat, kann nur daran liegen, daß der Wille nicht stark genug war.
Vielleicht im neuen Jahr. Und vielleicht entdeckt ja auch von Ihnen
jemand seine Berufung gerade hier das wäre prima; gerade der WJT
2005 böte dazu hinreichend Gelegenheit.
3. Soziales
Schließlich will ich noch auf diesen Bereich zu sprechen kommen,
der eine der drei Grund-Säulen kirchlichen Lebens überhaupt
ist, der aber oft und wohl mit geheimer Logik zugleich unter den Tisch
zu fallen droht: die Diakonie, die Cari-tas. Im Zusammenhang mit den
endlosen Debatten um ein tragfähiges Steuer-system in unserem Land,
ein Ende der Massenarbeitslosigkeit sowie im Streben nach wirtschaftlichem
Aufschwung wurden die sozialen Sicherungssysteme in unserem Land so
deutlich angetastet wie noch nie zuvor seit dem Ende des II. Weltkriegs.
Überall werden Sozialleistungen gestrichen; die Umverteilung des
knapper werdenden Geldes geschieht vielfach zu Lasten der Schwächeren.
Ja, es fehlt Geld, keine Frage. Und dies zu beheben ist nicht die vorrangige
Chance einer Christengemeinde. Aber fehlt auch die Zeit? Jeden Morgen,
wenn wir auf-stehen, jeden Silvester liegt die gleiche Menge an Zeit
vor uns. Und es liegt an mir und an uns allen, was wir damit anfangen.
Ich bin felsenfest davon über-zeugt, daß in einer Gesellschaft,
die sich so entwickelt, wie die unsere seit eini-gen Jahren andeutet,
gerade dieses soziale Zeugnis des Christentums mehr denn je gefordert
sein wird, ja, daß sich gewissermaßen ihr die Existenzberechtigung
des Evangeliums bewahrheiten wird. Die Sorge für die Armen, Schwachen,
Kranken, Sünder, Ausgestoßenen, für alle Menschen, denen
eine existentielle Wunde ihr Leben gefährdet, ist der Botschaft
Jesu zutiefst eingeprägt. Jesus hat sehr, sehr viel Zeit eben dafür
erübrigt; ja, er hat ganz bewußt, davor viel Zeit investiert!
Es ist mir heute ein Anliegen, uns allen, als Kirche, als Gemeinde dies
ins Stammbuch zu schreiben.
Mehr noch: Ich möchte Sie, jede/n persönlich auffordern, ermutigen,
im morgen beginnenden Jahr Zeit für einen der drei Bereiche aufzubringen,
für die Jugend, in der praktischen Ökumene, bei der konkreten
Nächstenliebe - und so das Erbe Jesu Christi anzutreten.
Amen.
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