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Des Menschen
Haus in seiner Welt
Predigtspuren
über Mt 5,1-12
4. Sonntag im Jahreskreis A - 30./31.1.2005 in Tübingen und Bühl
"Ach", sagte
die Maus, "die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so
breit, daß ich Angst hatte; ich lief weiter und war glücklich,
daß ich endlich rechts und links Mauern in der Ferne sah. Aber
diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon
im letzten Zimmer bin; und dort im Winkel steht die Falle, in die ich
laufe."
"Du mußt nur die Laufrichtung ändern", sagte die
Katze und fraß sie.
Von Franz Kafka stammt die
Erzählung vom Schicksal der kleinen Maus, die lernen will, ihre
Welt zu betrachten und doch vielmehr selbst betrachtet wird, die sich
anschickt, ihren kleinen Platz darin zu finden, und doch unbemerkt für
das kleine Ding, sich längst bereits ihres Lebens bemächtigt
hat. Wie viele Menschen, wie viele von uns wohl in gleicher Weise ihr
Leben erfahren? Unsere Welt ist in den letzten Jahren in einem nie gekannten
Maße zusammen gerückt und doch zugleich für den einzelnen
undurchdringlich geblieben: zu groß die Landschaft aus Schreien,
die seit Auschwitz noch immer und notwendigerweise weiterhin an unser
Ohr dringt; zu undurchschaubar die Logik der politischen Aktionen, die
sich für die Daseinswege des Individuums nicht interessieren kann;
zu kompliziert die Verstrickung in die Strukturen der Sünde, denen
wir nicht entkommen können; zu unbarmherzig der Zugriff auf die
Grenzen des Lebens, seinen Anfang, sein Ende, als daß wir uns
ernsthaft auflehnen könnten. So wird unsere Welt enger, Tag für
Tag. Und die Autofahrer im Stau, die an den fernen Stränden Südasiens
zusammengepferchten sonnenhungrigen Urlauber des reichen Westens, der
Lebensabend der alten Frau im kleinen Altenheimzimmer sind nur der äußere
Schattenwurf einer zunehmenden Unbehaustheit des Menschen in seiner
eigenen Welt. Wir laufen und laufen und laufen. Aber bedenken wir auch
die Richtung? Und wenn wir es täten, hätten wir die Chance
sie zu ändern - was etwas von unseren Möglichkeiten ablenken
würde? Und wie steht es um unseren Mut, neue Wege zu beschreiten
- womit wir dann doch zuletzt wieder ganz bei und selbst und der letzten
Wahrheit menschlicher Freiheit wären?
Mit den sozialen Veränderungen,
denen sich unser Land derzeit unterwirft, mit Hartz IV und Studiengebühren,
mit der Streichung von Sicherungssystemen für Arbeitslose, kinderreiche
Familien und auf Beratung Angewiesenen wird die Welt auch im kleinen
für viele Menschen enger. Bis hin zur völligen Ausweglosigkeit
kann dies bei manchem führen, der für sich keine gangbare
Alternative mehr erkennt: Vor sich die Sinnlosigkeit, hinter sich die
Droge; vor sich die Einsamkeit, hinter sich den Alkohol; vor sich die
Armut, hinter sich die Verzweiflung; vor sich den nahen Tod, hinter
sich keinen Glauben. Wohin soll ein Mensch fliehen, der sich derart
exkommuniziert fühlt, der von nirgendwoher das Gefühl erhält,
gewollt zu sein, für den niemand ein Opfer auf sich zu nehmen bereit
ist? Für etliche stellt sich tief im Innersten zuweilen wohl nur
noch die Frage, was schlimmer ist: in die Falle zu geraten oder von
der Katze gefressen zu werden.
Es kostet mich Überwindung
und eine fast fremde Vorstellungskraft, mir solch ein Szenario auszumalen.
Vom Standpunkt der gesicherten Existenz aus, mit dem viele hier in der
Kirche sitzen, ist dies beileibe nicht leicht. Aber hinter den vorgezogenen
Vorhängen der bürgerlichen Existenz und auf den Stühlen
der Beratungsstellen, an der Hörmuscheln der Telefonsseelsorge
und im Beichtstuhl, da sitzen etliche und viele auch, von denen wir
es nicht erwarten würden. Und wenn wir dann unseren Horizont nochmals
über den deutschen, den europäisch-christlichen Kontext hinaus
weiten, dann stehen uns millionenfach solche Lebensverwerfungen gegenüber.
Und die Frage nach einem Fluchtweg aus solchen Teufelskreisen stellt
sich bedrängend deutlich! Wie um alles in der Welt kommen wir zu
der Freiheit, die Gott uns mitgegeben hat als sein Erbe für seine
Schöpfung?
An den kommenden Sonntagen
wird uns die Bergpredigt Jesu begleiten, wie Matthäus sie im Geist
seines Herrn und Heilandes komponiert hat und wie sie nur in seinem
Evangelium überliefert ist. In dieser großangelegten Verkündigungsrede
bündeln sich wie in einer Linse alles Provozierende, alle Herausforderungen,
die Jesus an die richtet, die sich für sein Modell zu leben entscheiden.
Jede Sentenz ist ein Stachel, der den treffen will, der sich in seinem
persönlichen Daseinsentwurf zu sehr behaust hat, und zugleich Gefahr
läuft ein Fremdkörper in der wahren Wirklichkeit der Welt
zu sein. Die Bergpredigt regt unentrinnbar dazu an, sich Gedanken zu
machen: wie ich lebe, was mir wichtig ist, wo ich liebe. Und programmatisch
richtet sich der Anfang der drei Kapitel umfassenden Rede (=die Seligpreisungen)
an die, die wie die kleine Maus bei Kafka in der Falle sitzen. Jesus
wendet sich an die Armen, die Trauernden, die Ohnmächtigen, die
Verfolgten, die Ausgenutzten, die Unverstandenen. Sein Adressatenkreis
ist alles andere als theoretisch, er ist höchst real. Er spricht
die als erste an, die begreifen mußten, daß sie selbst nichts
mehr ausrichten können mit ihrem Können. Die Kraft zu gering,
das Vermögen unzureichend, der Mut zu klein. Ihre Hände sind
leer; sie sind wie Gefangene. Aber ganz genau dort hinein, in diesen
Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt, eröffnet ihnen Jesus
eine (1) einzige Chance: Sie sollen ihre ganze Hoffnung allein auf Gott
setzen, weil er als einziger, als Gott, den Gesetzen nicht unterworfen
ist, mit denen der Mensch die Welt von Gottes Plan entfernt hat. Es
ist eine Zusage, die enthalten ist in dem Selig sind, eine Zusage, die
sich jeder materiellen Einlösung entzieht, die nicht voraus berechnet
werden kann, die aber dennoch wahr ist für den, der an sie zu glauben
sich entscheidet. Und auch nur demjenigen wird sich der Wahrheitsgehalt
der Seligpreisungen erschließen, der sich nicht in sein Schicksal
ergibt und doch im selben Moment von ihm absehen kann, um Gottes Reich
in den Blick zu nehmen. Es ist eine Einladung! Und es liegt am Trauernden,
am Armen, am Gefangenen sie anzunehmen.
Der Christ muß das
Schicksal der Maus nicht teilen, weil er nicht unter den oft grausamen
Gesetzen unserer Welt allein steht - für die es keinen Gott, aus
der es kein Entrinnen gibt. Unser Ausweg aus der Zone des Todes ist
deckungsgleich mit dem Weg Jesu. Ihn einzuschlagen führt zur inneren
Freiheit. Und wer sich dazu entschließt, der wird obendrein von
Jesus gar noch als glücklicher Mensch bezeichnet. Wie schön!
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