Predigten

 
 

Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung
"Ich - Schatten" Bilder und Skulpturen von Renate Neuffer in St. Michael 13.2.2005


Als Du, liebe Renate, mir vor 2 Jahren von Deiner Idee erzählt hast, über die Schattenseiten menschlicher Existenz zu arbeiten, hast Du sofort mein Interesse geweckt; und als Du mir dann noch gesagt hast, dass Dir dabei ein Zyklus von Bildern und Holzskulpturen zu den klassischen 7 Todsünden vorschwebt, habe ich als Ausstellungsort sofort an unsere Kirche St. Michael gedacht. Zum ersten ist es hier schon gute Tradition, zeitgenössische Kunstwerke mit religiösem Bezug auszustellen; und zum zweiten: Wo wäre für dieses Thema ein geeigneterer Ort als eine Kirche? 2 Jahre intensiver Arbeit sind inzwischen vergangen, und ich freue mich sehr, dass wir das Ergebnis nun hier in unserer Gemeinde zeigen können - gerade auch jetzt in der Fastenzeit, in der Zeit der Vorbereitung auf das Osterfest, einer Zeit des Nachdenkens über sich selbst und den eigenen Lebensweg. Deshalb auch von mir an dieser Stelle nochmals Dir uns Deinem Mann Thomas ein herzliches Willkommen! Und ich freue mich besonders, auch einige Gesichter aus unserer gemeinsamen Schulzeit heute hier wieder zu sehen - schön, dass Ihr da seid!

7 Bilder und Holzskulpturen zu den Schattenseiten menschlicher Existenz; kunstfertig gestaltete Verkörperungen der 7 Todsünden: Stolz, Geiz, Neid, Zorn, Wollust, Völlerei und Trägheit - kein leichtes Thema. Aber leicht hast Du es Dir noch nie gemacht, wie ich Dich seit den 13 Jahren unserer gemeinsamen Schulzeit kenne. Ich habe Dich immer als einen Menschen erlebt, der sich mit Oberflächlichkeiten nicht zufrieden gibt; ich kenne Dich als jemand, der genau hinschaut, den Dingen auf den Grund gehen will und sich vor vorschnellem Urteil hütet. Nicht allein der äussere Schein - das Wesen der Dinge und des Lebendigen interessiert Dich, das, was durch das Äussere hindurchscheint. Mit Kopf und Herz, mit Leib und Seele stellst Du Dich Deiner Zeit, Deinen Mitmenschen und Dir selbst - Eigenschaften, die gute Künstler mit guten Theologen verbinden. Wenn es stimmt, dass Religion mit der Tiefendimension alles Lebendigen zu tun hat; wenn es stimmt, dass Religion all das umfasst, was den Menschen unbedingt angeht, dann masse ich mir an, Dich als tief religiösen Menschen in diesem ursprünglichen Sinn zu bezeichnen; ein Mensch, der sich seiner Sehnsucht über das Daseiende hinaus bewusst ist, der mit all seinen Antennen auf der Suche ist nach Ganzheit, nach Erfüllung, nach Heil - Begriffe für eine Wirklichkeit, die niemals selbst gemacht, sondern immer nur geschenkt werden kann. Was Du gestaltest, ist nicht einfach "gemacht"; es ist durchlebt und oft auch durchlitten. Wer sich Deinen Bildern und Skulpturen nähert, die Titel tragen wie: Wunde, Quo vadis, Roter Schrei, Himmelsleiter, Anwesenheit, Paar, Aufbruch, Aufrichte, Befreiung, Zwiespalt... um nur einige aus Deinem bisherigen Schaffen zu nennen - wer sich ihnen nähert, wird darin mehr als nur ansprechende Ästhetik und kunstvoll gestaltete Objekte erkennen; wer es zulässt, wird durch sie in die Tiefen der eigenen Existenz geführt; er erkennt zutiefst menschliche Erfahrungen wieder - ein Stück des eigenen Selbst.

"Ich - Schatten"; 7 Bilder und Skulpturen der 7 Hauptsünden - liebe Renate, Du hast es Dir auch diesmal nicht leicht gemacht; obwohl in unserer Zeit durchaus auch eine leichtlebige Art der Begegnung mit dieser Thematik möglich wäre: Seit Geiz von einem großen Elektronik-Anbieter als geil proklamiert ist und eine bekannte Eismarke ihre Naschereien in sommerlichen Todsünden-Varianten anbietet, ist buchstäblich nichts mehr unmöglich. Aber dieser Versuchung des Zeitgeistes wollen wir hier nicht erliegen - mit ihm hast Du ohnehin nie viel am Hut gehabt. Auch wollen wir uns mit diesem Thema weder esoterischen Selbsterlösungsstrategien zuwenden, noch moralisierende Sündenbegriffe älterer Beichtspiegel entstauben.

Uns geht es vielmehr um unsere menschliche Existenz; um menschliche Grundhaltungen, die jede und jeder von uns kennt, die aber - je nach Intensität ihrer Ausprägung - für das Zusammenleben wie für menschliches Leben überhaupt zerstörerisch wirken. In diesem Sinne wurden die sogenannten Haupt- oder Todsünden ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. von den Kirchenvätern zusammengestellt und - der Sache nach - im vergangenen Jahrhundert v.a. in der Psychologie wiederentdeckt. Wer heute aktuelle Literatur dazu sucht, wird weniger in der Theologie, sondern verstärkt im Bereich der modernen Psychologie fündig. Ein Schlüsselbegriff ist hier der "Schatten", wie ihn Carl Gustav Jung in die Psychoanalyse eingeführt hat. Über die Entdeckung des menschlichen Schattens beschreibt er in einem Selbstzeugnis einen Traum:

Es war Nacht an einem unbekannten Ort, und ich kam nur mühsam voran gegen einen mächtigen Sturmwind. Zudem herrschte dichter Nebel. Ich hielt und schützte mit beiden Händen ein kleines Licht, das jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Es hing aber alles davon ab, daß ich dieses Lichtlein am Leben erhielt. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß etwas mir nachfolgte. Ich schaute zurück und sah eine riesengroße schwarze Gestalt, die hinter mir herkam. Ich war mir aber im selben Moment bewußt - trotz meines Schreckens -, daß ich, unbekümmert um alle Gefahren, mein kleines Licht durch Nacht und Sturm hindurch retten mußte. Als ich erwachte, war es mir sofort klar: Es ist. . . mein eigener Schatten auf den wirbelnden Nebelschwaden, verursacht durch das kleine Licht, das ich vor mir trug. Ich wußte auch, daß das Lichtlein mein Bewußtsein war; es ist das einzige Licht, das ich habe. . . unendlich klein und zerbrechlich im Vergleich zu den Mächten der Dunkelheit, aber doch ein Licht, mein einziges Licht.


Das kleine Licht unseres bewussten Ich wirft einen Schatten - ob wir es wollen oder nicht. Unter dem Begriff "Schatten" versteht Jung alle Gefühle und Fähigkeiten, die von unserem Ich bewusst oder unbewusst verdrängt und abgelehnt werden; dabei spielen natürlich von frühester Kindheit an Erziehung sowie das gesamte familiäre, gesellschaftliche und kulturelle Umfeld eine entscheidende Rolle. Was in unseren Anlagen und Fähigkeiten von unserem Bewusstsein als gut und hilfreich, als anerkannt und förderlich bewertet wird, steht im Licht, d.h. es wird angenommen, gefördert und weiterentwickelt; was jedoch als störend, unangemessen, peinlich oder böse bewertet ist, wird in den eigenen Schatten verdrängt. Der Schatten ist sozusagen die dunkle Schwester, der dunkle Bruder des Ich; er enthält alles, was im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung als nicht mit dem eigenen Ich-Ideal vereinbar bewusst oder unbewusst abgelehnt wurde. Beim Foto spräche man von einem Negativ, das der schönen, vorzeigbaren Seite des Fotos entspricht, aber eben nicht als vorzeigbar angesehen wird und deshalb meist im Unbewussten verdrängt bleibt. Jeder Mensch hat einen solchen Schatten - aber auch jede Familie, jede Gesellschaft, jede Kultur. Bemerkbar macht er sich häufig in Träumen, oder in Projektionen, wenn uns etwas an Anderen ganz besonders stört und wir - oft zum eigenen Erschrecken - plötzlich heftig reagieren; dann können wir sicher sein, dass sich unser Schatten meldet; unerwartete Gehässigkeiten, irrationale Wutausbrüche, Sündenbocksuche bis hin zu Rassismus und Unterdrückung von Minderheiten sind die Folge persönlicher wie kollektiver Schatten. Ein Schüler Jungs formuliert: Wir haben den Feind erkannt - er ist wir.

Je tugendhafter wir sein wollen, um so größer kann unser Schatten wachsen - wenn wir uns nicht immer wieder neu bemühen, seiner gewahr zu werden und auch diese Seite als zu uns gehörig anzunehmen. Ein interessanter, tiefenpsychologischer Aspekt im theologischen Horizont von Sünde und Schuld. C.G. Jung schreibt:

Wer also eine Antwort haben will auf das heute gestellte Problem des Bösen, der bedarf in erster Linie einer gründlichen Selbsterkenntnis, das heißt einer bestmöglichen Erkenntnis seiner Ganzheit. Er muss ohne Schonung wissen, wie viel des Guten er vermag und welcher Schandtaten er fähig ist, und er muss sich hüten, das eine für wirklich und das andere für Illusion zu halten. Es ist beides wahr als Möglichkeit, und er wird weder dem einen noch dem anderen ganz entgehen, wenn er - wie er es eigentlich von Hause aus müsste - ohne Selbstbelügung und Selbsttäuschung leben will.

Schatten-Arbeit heißt, in sich hinein zu hören; aufmerksam werden für dunkle Flecken, blinde Stellen in der eigenen Lebensgeschichte; sensibel werden für die subtilen und die massiven Botschaften des Verdrängten; sich seinem Schatten stellen, seine Existenz akzeptieren und ernst nehmen; und sich - soweit möglich - über dessen Eigenschaften und Intentionen Kenntnis verschaffen; ein lebenslanger Prozeß, in dem es immer wieder zu langwierigen Verhandlungen mit dem Ich kommen wird...

Wahrnehmen; in sich hinein hören; bewusst werden - dazu wollen wir mit dieser Ausstellung hier in unserer Kirche einen Beitrag leisten; nicht umsonst trägt sie den Titel "Ich - Schatten"; nicht umsonst sind die Skulpturen und Bilder im Laufe von 2 Jahren in der Auseinander-setzung, im Ringen mit dem eigenen Selbst entstanden. Aber wir wollen dies ganz bewusst nicht mit erhobenem Zeigefinger tun; es geht uns nicht um einzelne Verfehlungen und deren Verwerflichkeit, sondern um eine ganzheitliche Sicht menschlicher Existenz, um Impulse zu ganzheitlicherem Erkennen des eigenen Selbst.
Welche Sprache wäre da geeigneter als die Sprache der Kunst, die alle Sinne des Menschen anspricht, die sinnlich Kopf und Herz, Verstand und Gemüt, Geist und Seele berührt? 7 Bilder und Skulpturen - keine trockene Theorie, sondern erfahrbare Anschauung, die uns die eigene Existenz erschließt. Und dass es dabei nicht todernst zugehen muss, werden Sie beim Betrachten bemerken; in der eindeutigen Art der Darstellung, in der bewussten Überzeichnung dieser 7 Schatten-Eigenschaften von uns Menschen enthalten die Kunstwerke auch etwas Humoreskes, was einem so manches Schmunzeln entlockt. Wahre Selbsterkenntnis ist ohne Humor nicht möglich - er kann uns die nötige Distanz geben, uns ohne innere Abwehrhaltungen uns selbst zu stellen; und oft genug schmunzelt in uns nicht das eigene Ich, sondern sein verborgener Bruder, der Schatten.
In diesem Sinn wünsche ich uns allen heute Abend aufschlussreiche Begegnungen mit den Kunstwerken, miteinander und in alledem mit uns selbst.


Zitate aus:
Connie Zweig und Jeremiah Abrams (Hrsg.), Die Schattenseite der Seele. Wie man die dunklen Bereiche unserer Psyche ans Licht holt und in die Persönlichkeit integriert, Bern 1993, S.12 und S. 158.

   

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