Predigten

 
 

Der Mensch als Weg der Kirche

Ansprache im Feierlichen Requiem für +Papst Johannes Paul II. - 8. April 2005 - 18.30 Uhr St. Michael Tübingen
(Thomas Steiger)

Eine Welt, die zusammen gerückt ist, trauert um Papst Johannes Paul II., wie noch nie zuvor um einen Menschen getrauert worden ist. Die Katholiken besinnen sich auf das, was sie zusammen hält und ihre Identität ausmacht. Die Protestanten bemühen sich um Anteilnahme, ohne sich allzu sehr vereinnahmen zu lassen. Die Politiker anerkennen die in seiner Glaubwürdigkeit liegende Größe dieses Mannes und erschaudern ein bißchen über die Kraft von so viel Ohnmacht. Überhaupt ist dies für mich das Überraschende und zugleich Faszinierende an der Wirklichkeit, die das Leben und Sterben dieses Papstes und nun sogar noch der Umgang mit seinem Tod hervor bringt: Einer, der über keine physischen Machtmittel verfügt, zuletzt gar im Gegenteil unfähig noch zur kleinsten Regung oder Sprachgewalt war, schlägt viele, viele Menschen in seinen Bann, bewegt die Herzen, regt zum tiefen Nachdenken an - über das eigene Leben und Sterben, über die Prioritäten, von denen mein Leben erzählt, über die Sehnsucht ganz Mensch sein zu dürfen. Auf diesem Weg ist Karol Woitila auch Zeuge einer Katholischen Kirche gewesen, deren Selbstverständnis sich gewandelt hat, die - zumindest nach außen - keine weltliche Macht mehr beansprucht, die öffentlich gesteht als Teil der Weltgeschichte auch Schuld auf sich geladen zu haben. So hat Jesus seinen Gottesglauben verstanden: Das Leben des Menschen als Person steht über der Macht der Politik, auch über der Religion. Diese Gründungswahrheit haben wir Christen mit dogmatischer Klarheit zu vertreten, und wir ahnen zugleich, daß wir zu oft mit blutiger Konsequenz mißachtet haben.

Liebe Brüder, liebe Schwestern, es sind schon erstaunliche Analogien, die sich im Leben von Papst Johannes Paul zeigen mit dem Weg Jesu selbst: zu Beginn des öffentlichen Auftretens kraftvoll im Wort und den Aktivitäten, ein großer Radius des Unterwegsseins, viele Begegnungen mit Menschen, bewegende Gesten; zuletzt einer, der nicht mehr sprechen kann, der verharrt, der alles gesagt und getan hat, was zu tun war; und ganz am Ende gar einer, der in seinem Sterben so stark, so aussagekräftig und überzeugend von Gott spricht, daß dessen Existenz nahezu mit Händen zu greifen zu sein scheint.
Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier. Beinahe wie ein Schlüssel zu seinem Verständnis des Petrusdienstes überhaupt, zu seinem apostolischen Zeugnis erscheint mir die dieses Prinzip aus der Leidensgeschichte Jesu, wie sie Joh festgehalten hat, das Karol Woitila in sein Leben als Papst hinein genommen hat. Sich nicht gleichzuschalten mit den Gesetzen, die unsere Erde oft so unbarmherzig Menschen aufdiktiert, keine gemeinsame Sache zu machen mit jedem scheinbaren Fortschritt, nicht nach außen nur zeitgemäß zu sein - das war Johannes Paul II. wichtig. Im Gegenteil: In mancher Frage stand er geradezu wie ein Fels in einer Brandung, die immer heftiger die Grundprinzipien seiner Kirche erschütterten. Geleitet war er dabei von der Überzeugung, daß die Kirche ihren Wert, ihre wahre Bedeutung nur würde erhalten können, wenn sie konsequent für die Botschaft des Evangeliums einstehen würde und für die Folgen, die sich notwendigerweise daraus ergeben - vielen Widerständen zum Trotz.
Es ist nicht schwer, die wesentlichen Leitlinien von Papst Johannes Paul II. zusammenzustellen:

  • · Der Mensch ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt. So eindrucksvoll stellte der Verstorbene bereits in seiner ersten Enzyklika Redemptor hominis 1979, von Anfang seines Pontifikats an also den Menschen in den Mittelpunkt. In Jesus Christus wird der Mensch sich selbst, der wahren Sehnsucht seiner Bestimmung begegnen.
  • · Absolut konsequent hat er deshalb den Schutz des Lebens in all seinenFacetten, von der Zeugung im Mutterleib bis zum Tod, der den Menschen in so vielen Varianten ereilen kann, in den Mittelpunkt seiner moralischen Bemühungen gestellt. Seine unnachgiebige Strenge in Einzelfragen haben viele von uns nicht immer verstanden und akzeptiert. Dennoch war sie Ausdruck seiner Überzeugung, daß der Mensch sich selbst das höchste Gut ist und die Verfügungsgewalt darüber allein Gott zusteht.
  • · Völlig logisch ergab sich für Johannes Paulus daraus sein Einsatz für Soziale Gerechtigkeit, der sich unübersehbar in seinen vielen Reisen nieder geschlagen hat. Er wollte möglichst vielen Menschen begegnen, nicht nur den privilegierten Europäern, sondern den Ärmsten und den ihrer Freiheit Beraubten. Die Liebe zum Menschen und vor allem zum Armen, in dem die Kirche Christus sieht, nimmt in der Förderung der Gerechtigkeit ihre konkrete Gestalt an. Sie wird sich nie voll verwirklichen lassen, wenn die Menschen im Bedürftigen, der um eine Hilfe für sein Leben bittet, nicht einen ungelegenen Aufdringling oder eine Last sehen, sondern die Gelegenheit zum Guten an sich, die Möglichkeit zu einem größeren Reichtum. Erst dieses Bewußtsein wird ihnen den Mut geben, sich dem Risiko und dem Wandel zu stellen, die in jedem glaubwürdigen Versuch, dem anderen Menschen zu helfen, inbegriffen sind. Es geht ja nicht bloß darum, vom Überfluß abzugeben, sondern ganzen Völkern den Zugang in den Kreis der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung zu eröffnen, von dem sie ausgeschlossen oder ausgegrenzt sind. Dafür genügt es nicht, aus dem Überfluß zu geben, den unsere Welt reichlich produziert. Dazu müssen sich vor allem die Lebensweisen, die Modelle von Produktion und Konsum und die verfestigten Machtstrukturen ändern, die heute die Gesellschaften beherrschen. Es geht auch nicht darum, Instrumente der gesellschaftlichen Ordnung, die sich bewährt haben, zu zerstören, sondern sie auf ein richtig verstandenes Gemeinwohl für die ganze Menschheitsfamilie auszurichten.
  • · Die politischen Implikationen dieser Botschaft liegen auf der Hand. Sie haben sich im Pontifikat von Papst Johannes Paul überdeutlich in seiner Ablehnung des Irak-Krieges und seinem Bemühen um Freiheit in seinem Heimatland Polen nieder geschlagen.
  • · Schließlich wird ein Akzent seiner Überzeugung sich erst noch durchsetzen müssen, auch wenn er heute auf dem Petersplatz unübersehbar war: sein Bemühen um eine Verständigung der Religionen untereinander. Daß er hier Wege beschritten hat, Türen aufgestoßen hat, deren Existenz die Katholische Kirche bis vor 40 Jahren noch geleugnet hätte, können auch andere, die auf diesem Feld sich engagieren, nicht ernsthaft bestreiten. Wie Pilatus wird sich Karol Woitila im Angesicht seines Herrn und in der Zwiesprache des Gebets mit ihm wieder und wieder gefragt haben. Was ist Wahrheit? Hinter diese Ökumene des Suchens nach Wahrheit in allen Religionen führt kein Weg mehr zurück.

 

Zu verstehen, was sich aus alledem für ihn als Hirten der Katholischen Kirche ergab, also nach innen in die eigenen Reihen gerichtet, ist weit schwieriger, und hat im Laufe von fast 27 Jahren auch zu Verwerfungen, zu Meinungsverschiedenheiten geführt, und damit zu einer differenzierten Bewertung seiner Amtsführung. Ich will ausdrücklich sagen, daß dies sein darf; daß es mir dabei nicht anders ergeht. Wenn ich meine Taufe und Firmung ernst nehme, dann muß ich davon ausgehen, daß Gottes Geist auch in mir, in meinem Gewissen sich regt, daß ich auch zu wahren und guten Überzeugungen gelangen kann, daß diese womöglich mit dem Lehramt der Kirche in Konflikt geraten. Ich muß aber zugleich wissen, daß der Papst nicht irgendeiner ist, sondern derjenige, dessen Dienstamt, dessen Last und Bürde es ist, für die Einheit unserer Kirche zu sprechen. Wer von uns möchte hier mit ihm tauschen? Wer möchte dieses Joch tragen?

Im Tagblatt vom vergangenen Montag werde ich mit dem Satz zitiert: "Der Papst hatte eben keinen deutschen Standpunkt." In der Tat ist unsere Kirche eine weltumspannende, eine globale Institution - und sie ist der Ort, an dem Gottes Geist vor allem anderen zum Durchbruch gelangen soll. Ob dies in jedem Fall gelungen ist? Kaum! Die menschlichen Grenzen wohnen auch dem Papstamt inne. Für die Unfehlbarkeit des Papstes um der Wahrheit willen hat Johannes Paul II. sich eingesetzt, und doch selbst nie unfehlbar gesprochen. Deshalb werden zu Recht die Diskussionen in unserer Kirche über die Zulassungsbedingungen zum Priesteramt, die Frage der Frauenordination, der Zulassung Wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten, die Einschätzung von Homosexualität und Familie, die ökumenischen Möglichkeiten der Abendmahlsgemeinschaft und des Amtsverständnisses auch künftig eine Rolle spielen. Nur nicht nach deutschen Gesetzen und Maßstäben und gewiß nicht nach dem Willen einzelner, sondern stets in der Sorge darum, wann Gott seine Kirche wohin führen will, in einer schier unausschöpflichen Vielfalt von Kulturen und Interessen und menschlichen Biographien - wie sie heute so eindrücklich sichtbar wurde bei der Beisetzung in Rom, und wie sie sich auch in unserer Gemeinde zeigt.

Liebe Schwestern und Brüder, im Zentrum des Glaubens und der Verkündigung von Johannes Paul II. stand Jesus Christus selbst, in dem der Mensch zu Gott findet. Von ihm wußte sich dieser Papst gerufen und getragen. Ihm wollte er täglich in der Eucharistie begegnen, und sein Erbe offensiv in unsere Welt bringen. Das ist sein großes Vermächtnis, das wir in Liebe bewahren mögen. Amen.