Predigten

 

»Willst du gesund werden?«

19. Sonntag nach Trinitatis, 21.10.2001, Eberhardskirche
Predigt zu Joh 5, 1-16

Liebe Gemeinde!

Was für eine Frage? Welcher Kranke will nicht gesund werden - von denen, die hier liegen - am Teich Bethesda, in fünf Hallen: Blinde, Lahme, Ausgezehrte, Verkrüppelte.
»Willst du gesund werden?« fragt Jesus einen Kranken, der seit 38 Jahren krank ist. 38 Jahre - d.h. als er krank wurde, war Jesus noch nicht einmal geboren. Wie kommt der Jüngere dazu, den soviel Älteren zu fragen »Willst du gesund werden?«

Und der Angesprochene? Er antwortet, aber er antwortet eigentlich nicht auf die Frage, die ihm gestellt wurde: Er sagt nicht ja und nicht nein.
»Der Kranke aber antwortete: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.«

In alten Texten wird erklärt, warum Menschen am Teich Betesda Heilung erhoffen. Dort heißt es: »Ein Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt.« Ein Volksglaube, der scheinbar viele Menschen anzog.
Wir wissen nicht, an welcher Krankheit der Mann in unserer Geschichte litt, was ihn daran hinderte, selber an das Wasser zu gehen. Ob er lahm war oder schwach? Vielleicht konnte er noch ein wenig gehen oder jedenfalls kriechen?

Oder wie ist es zu erklären, dass er sagt, er habe keinen Menschen, der ihn zum Wasser bringe. Gleichzeitig scheint er doch irgendwie hinzukommen. Denn wenn er hinkommt, steige immer ein anderer zuerst hinein und die heilende Wirkung des Wassers ist sozusagen dahin.
»Ich habe keinen Menschen.« Das scheint das Grundgefühl des Kranken zu sein. »Ich bin ganz allein, niemand hilft mir, die anderen kommen mir nur zuvor und nehmen keine Rücksicht.« Eine Klage, aber keine Antwort auf Jesu Frage »Willst du gesund werden?« Die Frage, zu seiner Antwort würde eher lauten: »Warum bist du nicht gesund? Wer ist daran schuld, dass du krank bist?« Jesus hat diese Frage nicht gestellt. Aber sicher viele andere, und vielleicht vor allem der Kranke selber - in 38 Jahren...

Liebe Gemeinde!
Ich denke uns ist das nicht fremd. Auch wir denken nach, warum jene oder jener ein schweres Schicksal oder eine Krankheit erleiden muss. »Der hat einfach zuviel gearbeitet« sagen die einen . Oder: »Warum hat sie nicht besser aufgepasst?« die anderen. Und wenn wir selber krank sind: Warum gerade ich? Womit habe ich das verdient? Diese verteufelte Frage nach dem Warum, nach der Schuld, nach der letztendlichen Verantwortung einer Krankheit. Eine Frage, die nicht aus dem Kopf verschwindet, gerade wenn man daliegen muss, sich nicht bewegen kann und die Gedanken sich verselbstständigen. Eine Frage, die ins Leere geht, die zu nichts führt, weil niemand sie beantworten kann.

Der Kranke in unserer Geschichte ist so von dieser Frage besetzt, dass er sie beantwortet obwohl sie ihm gar nicht gestellt wurde. Sie ist so zu einem Teil seiner selbst geworden. Die Frage, die Jesus ihm stellt, scheint er gar nicht gehört zu haben.
Es ist eine ungewöhnliche Frage, eine Frage, die Veränderung, Neuanfang nach sich zieht. »Willst du gesund werden?« Oder hast du dich schon so in deinem Unglück eingerichtet, dass du es gar nicht mehr verlassen willst? Willst du weiter klagen? Das gibt es ja: Das Bedürfnis, sich in der Klage einzurichten, nicht mehr auf sie verzichten zu wollen - oder nicht mehr zu können, sich gar nicht vorstellen zu können, dass es einmal anders sein könnte, dass es keinen Grund mehr zur Klage gibt und man wieder selber Verantwortung für sich übernehmen könnte.

Wer 38 Jahre geklagt hat (»ich habe keinen Menschen«), wer 38 Jahre lang Opfer war (»keiner trägt mich an den Teich«), wer 38 Jahre abhängig war von der Hilfsbereitschaft anderer Menschen, für den ist es schwer, plötzlich wieder auf eigenen Beinen zu stehen.
Aber: Der Mann in unserer Geschichte schafft es. Die Frage »Willst du gesund werden?« kann er zwar nicht beantworten. Das Unvorstellbare kommt zu schnell. Er kann nicht gleich reagieren. Aber als Jesus zu ihm sagt: »Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!«, da wird er sogleich gesund, nimmt sein Bett und geht.

Liebe Gemeinde, vielleicht ist das das eigentliche Wunder in dieser Geschichte! Jesus erweckt in einem Menschen, der nichts mehr wollte und konnte, neue Lebensgeister, neuen Lebensmut. Er fragt nicht: »Kann ich dir helfen? Soll ich dich zum Teich tragen?«, sondern »Willst du gesund werden? Dann steh selber auf, nimm selber dein Bett, geh selber hin...Nimm dein Leben selber in die Hand. Warte nicht bis jemand kommt und dir hilft«
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich behaupte nicht: Man muss nur wollen, dann wird man schon gesund. Darum geht es in dieser Geschichte nicht. Was mich fasziniert, ist, wie Jesus diesen Mann durch eine einzige kurze Frage aus seiner Lethargie und Müdigkeit herauslockt und zum Leben ermutigt.

Und er ist ja nicht der einzige, von dem die Bibel das erzählt. In anderen Geschichte sind es psychisch Kranke oder Traurige, Besessene oder Verstoßene. Und es sind nicht nur Menschen, zu denen Jesus ein besonders inniges Verhältnis hat. Im Gegenteil: Der Mann in unserer Geschichte kannte Jesus scheinbar gar nicht. Das wird deutlich in dem Gespräch, das er im Tempel mit den Juden führt. Auf ihre Frage, weiß er nicht zusagen, wer ihn gesund gemacht hat.

Dieses Gespräch mit Juden, die die Aufgabe hatten, auf die Einhaltung des Sabbaths zu achten, hätte ihn fast wieder krank gemacht. In diesem Gespräch fällt er beinahe in sein altes Verhaltensmuster zurück »Die anderen sind schuld«. »Es ist heute Sabbath. du darfst dein Bett nicht tragen«, sagen sie. Dieses Bett ist kein schweres Eichenbett vorstellen, sondern ein Bett der Armen, eine dünne Matte oder eine Decke.

Im jüdischen Glauben hat die Heiligung des Sabbaths eine zentrale Bedeutung, damals und heute. Der niederländische Rabbiner de Vries, der 1944 im KZ Bergen Belsen ermordet wurde, beschreibt den Hintergrund des Sabbathgebotes folgendermaßen:

»Wir können uns die Materie unterwerfen und sie entsprechend unserer körperlichen und geistigen Fähigkeiten zur Produktion nutzen, das Gegeben neu erschaffen. Wir können uns sogar angesichts unserer Allmacht für den Schöpfer halten. aber nie dürfen wir uns von diesem Wahn beherrschen lassen. Deshalb steigen wir alle sieben Tage einmal vom Thron unserer vermeintlichen Herrlichkeit hinab, legen den Stab des Herrschers beiseite. Eine zeitlang schaffen wir Abstand zwischen unserer Herrschaft über die Materie und uns, diese Herrschaft, die in schaffender arbeit, im Herstellungsprozess zum Ausdruck kommt.

Das ist der Grundsatz, der hinter dem Gebot der Arbeitsenthaltung am Sabbath steht. Und zu Grundsätzen gehören Konsequenzen, äußerte Konsequenzen.
Andererseits ist nichts untersagt, ... was nicht dem Geist des Sabbats widerspricht.« (S. 64)

Soweit das Zitat. Wie aktuell diese Worte klingen, die de Vries 1932 aufschrieb. Heute, 70 Jahre später, scheinen die Menschen in der Tat von dem Wahn besessen zu sein, Herrscher zu sein - selbst über Leben und Tod...

Konsequenz ist notwendig. Das haben auch wir erfahren. »Ohne Sonntag ist jeder Tag ein Werktag«. So hieß damals der Slogan, mit dem Kirchen und Christen für den Erhalt der Sonntagsruhe kämpften. Denn schnell wird aus einem verkaufsoffenen Sonntag einmal im Monat eine Revision des Ladenschlussgesetztes. Und dann ist es nicht mehr weit bis zur vollständigen Flexibilisierung der Arbeitszeit, die keine Wochenenden mehr kennt, an denen alle Frei haben: 6 Tage sollst du arbeiten und einen Tag ruhen.

Konsequenz ist notwendig, doch: Nichts ist untersagt, was dem Geist des Sabbats nicht widerspricht. Nach 38 Jahren Krankheit das erste Mal aufstehen, sein Bett unter den Arm nehmen, und voll Freude herumgehen, das entspricht dem Geist des Sabbaths, meint Jesus. Die Freude darüber könnte ansteckend sein...

Voll Freude könnte er seinen Gesprächspartners sagen: »Stellt euch vor! 38 Jahre habe ich auf diesem Bett gelegen. Jetzt kann ich es wieder tragen und herumgehen. Das ist ein Grund zu feiern und Gott zu loben, gerade an einem Sabbath, am Tag des Herrn!«
Doch was tut der Mann? Er fängt an zu wanken. Kaum steht er noch auf seinen eignen Füßen. Wieder schiebt er die Verantwortung ab: Nicht ich bin dafür verantwortlich, dass ich hier herumlaufe und mein Bett am Sabbath trage. Nein, »der, der mich gesund gemacht hat, hat es mir befohlen.«

Die Antwort erinnert an die Paradies-Geschichte. Von Gott gefragt, warum er von dem verbotenen Baum äße, sagt Adam: »Das Weib gab mir von dem Baum und ich aß.«
Liebe Gemeinde! Es scheint zu den Spielen der Erwachsenen zu gehören, die Verantwortung für sein Tun von sich weg zu schieben: Der oder der hat es mir befohlen. Ich habe den Befehl nur ausgeführt. So entstehen Katastrophen, für die später niemand verantwortlich sein will.
Der Mann in unserer Geschichte lässt es nicht einmal bei der einen Antwort bewenden, sondern geht später nochmal hin, um den zu nennen, der den Befehl gegeben hat. Seine Loyalität gegenüber denen, die das Sagen haben, führt Jesus in die Katastrophe.
Jesus durchschaut den Mann, vom ersten Moment an. Er sieht, wie es ihm schwer fällt hinzustehen auf eigenen Beinen. er sieht, wohin sein mangelndes Vertrauen zu sich selber führt. Deswegen sagt er zu dem Mann, als er ihn im Tempel trifft : »Siehe, du bist gesund geworden. Sündige hinfort nicht mehr!« Siehe, du hast es doch schon einmal geschafft. Jetzt falle nicht in deine alten Muster zurück. Stehe zu Dir und deinen Taten. Du selber bist aufgestanden und hast dein Bett genommen. Du selber bist dafür verantwortlich. Nicht ich habe es für dich getan. Stehe dazu! Freue dich daran! Hab keine Angst vor Kritik und erstaunten Rückfragen«

Viele Menschen sind im Tempel. Jesus war ja nach Jerusalem gekommen, weil ein »Fest der Juden war«, so heißt es am Anfang unserer Geschichte. Was für ein Fest wird nicht gesagt. Aus dem Kontext des Johannesevangeliums legt es sich nahe, dass es das Neujahrsfest oder das Versöhnungsfest ist. Zwischen diesen beiden Festtagen liegen 10 Tage der Einkehr und Buße. Der Sabbath innerhalb dieser 10 Tage hat eine besondere Bedeutung. Er heißt Sabbath »Kehre um« oder »Bekehre dich«..

An diesem Sabbath wird der Kranke in unserer Geschichte geheilt.
An diesem Sabbat beginnt für ihn nach 38 Jahren ein neues Leben. »Sündige hinfort nicht mehr« heißt auch: Folge mir nach! Halte meine Gebote! Lass dich herausrufen aus dieser Welt der Angst, des Neides und der Rücksichtslosigkeit!

Liebe Gemeinde!
Dieser Ruf gilt auch uns: Steh auf! Umkehr, Neuanfang ist möglich. Gott, der Vater Jesu Christi, ist ein gnädiger Gott. Er vergibt dem, der seine Fehler bekennt, der sie eingesteht und nicht davor wegläuft. Steh auf, du brauchst nicht andere für dein Verhalten verantwortlich zu machen! Steh auf, du brauchst keine Angst zu haben vor den Blicken und Urteilen anderer Menschen! Steh auf, du brauchst Gewalt anderer Menschen nicht mit Gegengewalt zu beantworten.

Wenn dies doch auch unsere Politiker und Politikerinnen begreifen könnten Dann könnten alle Menschen leben im Frieden Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft. Dieser Friede bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen

 

 

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