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„Versteck
die Verjagten ... !“
Aus der Arbeit des Arbeitskreises Asyl der Hauptpfarre
in Mönchengladbach
Von 1993 bis 2000 kamen in Deutschland 239
politische Flüchtlinge „durch staatliche Maßnahmen“ ums Leben.
Das hat die „Antirassistische Initiative Berlin“ in ihrer Dokumentation
zur „Bundesdeutschen Flüchtlingspolitik und ihren tödlichen Folgen“
jetzt aufgelistet. Zu diesen Todesfällen, von denen die deutsche Öffentlichkeit
„so gut wie nichts“ erfuhr, zählen 92 Menschen, die sich aus Angst
vor der drohenden Abschiebung das Leben nahmen, 89, die beim Versuch, die
Bundesrepublik zu erreichen, schon an der Grenze den Tod fanden, sowie
fünf Personen, die während der Abschiebung starben. Gegenüber
dieser erschütternden Bilanz nimmt sich die Zahl der 64 durch rassistische
Gewalttaten getöteten Menschen, so schlimm und verabscheuenswert diese
Obergriffe auch waren, beinahe bescheiden aus.
Wie kommt es, dass über diese beschämenden
Zahlen, erst recht über die dahinter verborgenen menschlichen Schicksale
so beharrlich geschwiegen wird? Wollen wir gesellschaftlich und staatlich
verursachtes Unrecht nicht wahrnehmen, weil das unser gutes Gewissen erschüttern
würde? Doch auch wenn wir den Kopf in den Sand stecken - irgendwann
laufen uns die Körner ins Gehirn – und ins „sanfte Ruhekissen“!
„Der Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland“,
sagt Heiko Kaufmann, der Sprecher von Pro Asyl, in seiner Presseerklärung
zum Tag der Menschenrechte 2000, „ist ein Spiegelbild des gesellschaftlich
transportierten und akzeptierten Rassismus.“
Der Kampf gegen staatlichen Rassismus
ist oft wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel; er wirkt so hilflos
wie verwegen, geradezu irrational. Wobei sich die irrationalen Mechanismen
behördlichen Handelns, von der Öffentlichkeit unbemerkt, um so
hemmungsloser entfalten können. Beispiel Titus und Nirmala: Titus
S. ist deutscher Staatsbürger tamilischer Herkunft, der sich – es
ist jetzt über drei Jahre her – mit Bitte um Unterstützung seiner
Heiratspläne an den AK Asyl wandte. Dabei aber spielte das Mönchengladbacher
Ausländeramt nicht mit, verweigerte die Heiratsgenehmigung und betrieb
die Abschiebung nach Colombo. Die übliche Prozedur: Frauenknast Neuss,
Abschiebung vom Düsseldorfer Flughafen am 24.04.98. Die Haftkosten
in Höhe von 3112 DM und die Flugkosten für die unfreiwillige
Rückreise für die Betroffene selbst (DM 1750) und das „Begleitpersonal“
der zentralen Ausländerbehörde Düsseldorf (DM 1900) rechneten
sich zu einem „Gesamtbetrag der Abschiebungskosten in Höhe von 6762
DM“ (Kostenbescheid an Titus S.) hoch, der erst einmal abbezahlt werden
musste, damit das Recht auf Wiedereinreise der künftigen Ehefrau überhaupt
in erreichbare Nähe rückte. Die Gemeinde der Hauptpfarre kam,
sammelte und siegte: Etwa 5000 DM kamen zusammen. Das reichte, ergänzt
durch einen ansehnlichen Beitrag des Arbeitgebers von Titus S., um sowohl
die trickreich aufgebaute Hürde abzubauen als auch dem geduldigen
Titus (aus Sicherheitsgründen in Begleitung seines Rechtsanwalts)
den Flug nach Colombo, die dortige Eheschließung und die umgehende
„Hochzeitsreise“ nach Mönchengladbach zu ermöglichen. – So „rational“
arbeiten deutsche Behörden, und so teuer wird es, wenn man sich zugunsten
der Hilfesuchenden auf ihre „Spielchen“ einlässt.
Der AK Asyl kann ein Lied davon singen.
Zwei Jahre Kampf um das Bleiberecht für eine kurdische Familie im
Wanderkirchenasyl kostete die Gemeinde der Hauptpfarre viel Geld (für
Unterbringung, Unterhalt und Rechtsvertretung), Arbeitskraft und Standvermögen.
Jetzt wurde – in den letzten Tagen des alten Jahres – erreicht, was bereits
nach dem ersten Asylantrag 1992 so hätte entschieden werden können:
die Anerkennung von Tacim D. als Asylberechtigter nach Art. 16 GG. Acht
Jahre brauchten deutsche Behörden und Gerichte, um sich vom hohen
Gefährdungsgrad der Familie bei einer Rückkehr in die Türkei
überzeugen zu lassen. Acht Jahre Unsicherheit und Illegalität
nach drei Jahren im türkischen Untergrund, hier wie dort ein Leben
aus dem Koffer, voller Angst vor polizeilichem Zugriff, ohne die soziale
Sicherheit geregelter Arbeit, Wohnung, medizinischer Versorgung und ohne
Chance, den Kindern eine menschenwürdige Entwicklung in der Geborgenheit
eines „normalen“ Familienlebens zu ermöglichen. Der Arbeitskreis Asyl
hofft, dass der Kampf jetzt ausgestanden ist. Aber noch ist unklar, ob
die Staatsseite nicht doch noch ihre letzte Karte, das Veto des „Bundesbeauftragten
für Asylangelegenheiten“, ausspielen wird, womit wir wieder auf den
Ausgangspunkt unserer Auseinandersetzung zurückgeworfen wären.
Dieser Bundesbeauftragten ist noch vor wenigen Wochen vom Bundesverfassungsgericht
gerügt worden, weil er „grundsätzlich“ und sozusagen „automatisch“
seinen Einspruch gegen die Betroffenen, nie aber zu ihren Gunsten geltend
mache. Hoffentlich bremst das Verdikt vorerst seinen einseitigen Aktionismus!
Nicht zuletzt ermutigen uns auch die Worte des Bundespräsidenten in
seinem Brief an den AK Asyl vom 22.12.2000. Dort stellt er die Frage, „ob
nicht die Behörden einen größeren Entscheidungsspielraum
brauchten, damit sie der jeweils besonderen Situation besser gerecht werden
können“, und spricht allen, die im Parlament für entsprechende
Änderungen eintreten“, seine „Sympathie“ zu.
Nicht immer kann der AK Asyl Erfolge verbuchen.
Und oft sind die Erfolge nur kleine, vorläufige Schritte zu einer
menschenwürdigen Lösung. Mit großzügiger Unterstützung
der Gemeinde und „Duldung“ des Mönchengladbacher Ausländeramtes
gelang es, einem irakischen Flüchtling eine Augenoperation im Aachener
Klinikum zu finanzieren und seine Sehfähigkeit zu retten. Für
einen kurdischen Flüchtling konnte die Freilassung aus der Abschiebehaft
in Moers erwirkt werden. Bei einem anderen gelang es, ihn durch „Fluchthilfe“
(ins benachbarte Ausland) vor Polizeihaft und Abschiebung zu schützen.
Wer die Folterspuren bei dem jungen kurdischen Deserteur gesehen hat, dem
bleibt auf dem schmalen Grat zwischen Anpassung und Widerstand gegen staatliches
Unrechtshandeln keine Wahl. Es sei denn, er gibt seine christlichen oder
auch „nur“ menschlichen Oberzeugungen an der Garderobe gutbürgerlicher
Wohlanständigkeit ab – und lässt sich Sand ins Gehirn rieseln.
Das Grundgesetz duldet keine Ausreden:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar' (Art. 1). Jeder hat das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2,2). Jeder Mensch,
wohlgemerkt, nicht nur jeder Deutsche. Und was diese Grundrechte konkret
bedeuten, hat uns unmissverständlich der Prophet Jesaja ins Taufbuch
geschrieben: „Versteck die Verjagten, verrate die Flüchtlinge nicht!
Lass die Flüchtigen Moabs bei dir verweilen! Versteck sie bei dir
vor ihrem Verfolger!“ Ersetzen wir Moab durch Afghanistan, Algerien, den
Kongo und die Türkei! Die Verfolgten stehen vor unseren Türen.
Die Verfolger kennen wir alle.
Alex Micha
Erfahrungen
der Hauptpfarre mit dem Diakonie-Modell:
Das Wanderkirchenasyl (WKA)
Ernstfall der Erprobung des skizzierten Diakoniemodells
(siehe „Handlungsoptionen für die christliche Gemeinde“) war für
die Gemeinde der Hauptpfarre Mönchengladbach das „Wanderkirchenasyl“;
denn es schloss alle Elemente ein, die der Arbeitskreis Asyl der Pfarre
schon seit längerem für unabdingbar hielt, um eine gelingende
Begegnung der Gemeinde mit der Flüchtlingsproblematik zu ermöglichen.
1. Neu war vor allem, dass es sich bei
den Teilnehmer/innen des WKA nicht um „Einzelfälle“ (Personen oder
Familien), sondern um eine ganze Flüchtlingsgruppe von 27 Personen
handelte, die nach Beginn des WKA (am 21. Januar 1998 in Köln) in
einer Wanderbewegung über verschiedene Stationen in Düren, Aachen
und Viersen als sogenannte „Aachener Gruppe“ ein spezifisches Gruppenbewusstsein
entwickelt hatte. Die Flüchtlinge waren in einem bewussten Schritt
aus der Passivität eines Lebens in der „Illegalität“ herausgetreten
und verstanden sich als Subjekte ihres Handelns, die zu entschiedenem Eintreten
für ihre Ziele herausforderten. Das zeigte sich gleich nach Ankunft
der „Gäste“ (eine Bezeichnung, die sich von Beginn an in der Gemeinde
durchsetzte) darin, dass sie das ihnen bereitgestellte Haus nach ihren
Vorstellungen einrichteten und mit eindeutig formulierten Spruchbändern
an Haus- und Kirchenfassade ihre politischen Forderungen in die Öffentlichkeit
trugen. Noch während der Begrüßungsfeier in der Kirche
erklärten sie ihre Absicht, wegen des feigen Mordanschlags auf den
kurdischen Menschenrechtier Akin Birdal in einen befristeten Hungerstreik
zu treten. Nicht zuletzt dieser selbstbewusste Schritt zwang die Unterstützer,
sich mit der Menschenrechtssituation in der Türkei und den deutschen
Anteilen an der türkischen Kurdenpolitik (Waffenlieferungen) intensiv
auseinander zusetzen und mit den Flüchtlingen in einen offenen Dialog
über wirksame Formen der Öffentlichkeitsarbeit einzutreten.
2. Mit dem ersten Punkt zusammenhängend,
aber von eigener Qualität, war die politische Dimension des WKA. Schon
im Vorfeld der Aktion die Debatten in der Gemeinde um das Für und
Wider der Beteiligung bestimmend, kam sie erst infolge der Begegnung mit
den konkreten Flüchtlingsschicksalen zur vollen Wirkung. Der persönliche
Kontakt mit konkreten Menschen vertiefte die Bereitschaft, sich mit deren
Anliegen zu identifizieren und über die Forderung nach einem Bleiberecht
hinausreichende politische Ziele mitzutragen (Beendigung des „schmutzigen
Krieges“ gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei; Respektierung
ihrer kulturellen Identität und der Menschenrechte; Einstellung der
deutschen Waffenhilfe). Die Mobilisierung der Gladbacher Öffentlichkeit
für diese Ziele, wie sie in Informationsveranstaltungen und im Begegnungsrahmen
(kurdisches Kulturfest) versucht wurde, versagte zwar bei den politischen
Parteien (außer den Grünen und einzelnen Mandatsträgern
der SPD), führte aber zu einer breiten Solidarisierung politischer
Gruppierungen, die ansonsten mit kirchlichen Aktivitäten wenig oder
gar keine Berührung hatten. An der Vorbereitung und Durchführung
eines Demonstrationszuges für das kurdische Selbstbestimmungsrecht
und die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei beteiligten sich
unter Leitung der Hauptpfarre 14 politische und gesellschaftliche Gruppen
aus dem kirchlichen und außerkirchlichen Raum (von amnesty international
über das Eine-Welt-Forum und die „Jugend gegen Rassismus“ bis zur
VVN - BdA, die ihre Parteinahme für die Sache der Flüchtlinge
auch durch Besuche im „Gästehaus“ und andere Zeichen der Solidarität
unter Beweis stellten.
3. Eher verstärkend auf die genannte
Solidarisierung wirkte sich – entgegen seiner ursprünglichen Absicht
– der Versuch von politisch einflussreichen (nicht nur konservativen) Kreisen
aus, das WKA gerade wegen seiner politischen Orientierung und wegen der
Kooperation der Gemeinde mit politischen Gruppierungen wie der Kampagne
„kein mensch ist illegal“ zu diffamieren. Der Vorwurf, sich im Interesse
politischer Zielsetzungen „instrumentalisieren“ zu lassen, wurde zwar auch
(selten) in der Gemeinde selbst, öfter aber und nachhaltiger im politischen
Umfeld erhoben. Er gipfelte in der abstrusen Einordnung der Kampagne „kein
mensch ist illegal“ und der Unterstützer des WKA ins Spektrum des
sogenannten „militanten Linksextremismus“, wie sie der Verfassungsschutzbericht
des Landes NRW für 1999 (S. 154ff.) vornahm. Vor dem Hintergrund solch
massiver Diffamierungsversuche ist es fast ein Wunder, dass während
des Aufenthalts der „Aachener Gruppe“ in Mönchengladbach keine schlimmeren
Übergriffe erfolgten als die gelegentlichen Pöbeleien faschistischer
Jugendlicher aus der Türkei und ein dilettantischer, gottlob fehlgeschlagener
Brandanschlag auf das „Gästehaus“, der nicht aufgeklärt werden
konnte. Letztlich liefen die Unterstellungen bei den Gemeindemitgliedern,
die sie beeindrucken sollten, ins Leere; denn sie wurden als das durchschaut,
was sie waren: ein untauglicher Versuch der politischen Klasse, von der
eigenen Unfähigkeit abzulenken, den Skandal der in Deutschland ohne
alle Rechte lebenden Menschen konsequent und angemessen in Angriff zu nehmen.
4. Die spontan entstandene und kraftvoll
gewachsene Solidarität der Gemeinde beschränkte sich nicht auf
die Dauer des Aufenthalts der „Aachener Gruppe“. Auch nach dem Abschied
der „Gäste“ wurden sowohl die persönlichen Kontakte zur Gruppe
an ihren neuen Aufenthaltsorten als auch die Einbindung der Gemeinde in
die Organisationsstruktur des WKA aufrechterhalten. Das Unterstützerteam
gab ein Informationsblatt heraus, das in etwa 2-monatlichem Turnus die
Gemeinde über den weiteren Verlauf des WKA und das Schicksal der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer auf dem Laufenden hielt. Als sich das nordrhein-westfälische
Innenministerium nach zähen Verhandlungen im Frühjahr 1999 bereit
fand, in eine erneute „Einzelfallprüfung“ bei den inzwischen über
400 Flüchtlingen des WKA einzutreten und für die Dauer dieses
Prüfungsverfahrens feste Unterbringungsmöglichkeiten für
die WKA-Teilnehmer gesucht wurden, stellte die Gemeinde für eine 5-köpfige
Familie eine Wohnung zur Verfügung und kam für ihren Lebensunterhalt,
für medizinische Versorgung und die schulische Betreuung der Kinder
auf. Während der fast zweijährigen Aufenthaltsdauer gelang es
in den letzten Tagen des vergangenen Jahres, der Familie durch Rechtshilfe
und juristische Vertretung ein dauerhaftes Bleiberecht nach Art. 16 a GG
zu erwirken.
Aufs ganze gesehen ist es aber weniger
dieser, vordergründig betrachtet, „erfolgreiche“ Abschluss eines Einsatzes
für Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, der die Erfahrungen
der Gemeinde mit dem WKA so wertvoll machte. Es ist vielmehr das aus dem
„Lernprozess“ des WKA erwachsene Bewusstsein, dass die deutsche Asylpraxis
einer grundlegenden Änderung bedarf, die sich nicht an Abwehr und
Abschreckung, sondern an den Schutzbedürfnissen der Flüchtlinge
zu orientieren hat. Und die Erkenntnis, dass Glauben, Bekennen und Handeln
zusammengehören, dass öffentliche Bekenntnisse gegen Fremdenfeindlichkeit
und rechte Gewalt so lange unglaubwürdig und hilflos bleiben, wie
sie sich nicht im konkreten Umgang mit illegalisierten Menschen bewähren,
und zwar auf allen Ebenen des öffentlichen und privaten Lebens: im
persönlichen Umgang, im Gemeinderahmen, auf der Ebene der Kirchenleitungen,
in der Behandlung der Flüchtlinge durch politische Instanzen, öffentliche
Ämter und Gerichte. Erst wenn aus Fremden „Gäste“ und aus Gastgebern
„Beschenkte“ werden, besteht Hoffnung, dass wir der christlichen Vision
eines „Lebens in Fülle“ näher kommen. Diesen Gedanken drückte
der Pfarrer der Gemeinde, Edmund Erlemann, auf dem Hearing vom 10.07.98
so aus: „Wir danken unseren kurdischen Gästen. Sie schenken uns viel
mehr, als wir ihnen schenken könnten: ihre Menschlichkeit ist begeisternd;
ihre Gastfreundschaft bezaubernd. Sie schenken uns die Erfahrung von Hoffnung
und Gottvertrauen auf dem Boden der Hoffnungslosigkeit. Sie machen uns
Mut, angesichts der unmenschlichen Asylpraxis in Deutschland und der unbeweglichen
Politik immer wieder mit neuen Ideen und mitunter verzweifelten Aktionen
dagegen anzugehen. Wir haben sie liebgewonnen und ins Herz geschlossen.
Sie sind unsere Freundinnen und Freunde!“
Drei
Jahre Wanderkirchenasyl – eine Zwischenbilanz
Wie alles begann?
Am 21. Januar 1998 begann das Wanderkirchenasyl,
als 21 kurdische Flüchtlinge in der Kölner Antoniterkirche Zuflucht
suchten. Schnell wuchs die Zahl der schutzsuchenden Flüchtlinge auf
mittlerweile 485 kurdische Flüchtlinge an. Es war klar, dass keine
einzelne Gemeinde in der Lage war, all die schutzsuchenden Flüchtlinge
aufzunehmen. Nach niederländischem Vorbild, die 1997 erfolgreich ein
sog. „Staffettenasyl“ für iranische Flüchtlinge durchgeführt
hatten, wurden die Flüchtlinge in mehrere Gruppen aufgeteilt, die
nicht mehr dauerhaft in einer Gemeinde untergebracht wurden, sondern im
Abstand von mehreren Wochen von Gemeinde zu Gemeinde wanderten. Das Wanderkirchenasyl
war geboren, mit ihm erhielt das Kirchenasyl eine völlig neue Dimension.
Was ist neu am Wanderkirchenasyl?
Kirchenasyl ist immer ein Politikum, da
es die Finger in die Wunden eines unzureichenden Asylverfahrens legt, das
schutzbedürftigen Flüchtlingen den notwendigen Schutz verweigert.
Doch während es beim „traditionellen“ Kirchenasyl in erster Linie
darum geht, im Einzelfall zu helfen, Fehler im bisherigen Asylverfahren
aufzudecken und eine Perspektive für. ein Leben in Sicherheit zu entwickeln,
war das Wanderkirchenasyl von Anfang an als politische Aktion angelegt
mit dem Ziel, eine politische Lösung für die Situation von kurdischen
Flüchtlingen in Deutschland herbei zuführen. Ursprünglich
war das Wanderkirchenasyl auf drei Monate angelegt. Anfangs bestand noch
die Hoffnung, dass sich nach der geplanten Delegationsreise von Innenminister
Dr. Fritz Behrens in die Türkei die Situation kurdischer Flüchtlinge
in Deutschland ändern würde. Die Delegationsreise wurde abgesagt.
Ein Abschiebstop für kurdische Flüchtlinge liegt nach wie vor
in weiter Ferne.
Seit der Änderung des Asylrechts 1993
ist die Zahl der Einzelkirchenasyle sprunghaft angestiegen. Die größte
Gruppe von Menschen, die im Kirchenasyl Zuflucht gesucht haben, waren kurdische
Flüchtlinge. Als sich Ende Januar 1998 eine immer größer
werdende Gruppe von kurdischen Flüchtlingen schutzsuchend an die Kirche
wandte, war klar, „es ist höchste Zeit für eine politische Lösung!“
Hauptziele des Wanderkirchenasyls waren ein Abschiebestop für kurdische
Flüchtlinge in die Türkei, sowie ein Stop der Waffenlieferung
in die Türkei.
Neu am Wanderkirchenasyl ist auch das „Wandern“
von einer Gemeinde in die nächste, was dem Wanderkirchenasyl seinen
Namen gab. Das Wandern hatte einerseits ganz pragmatische Gründe,
andererseits hatte es mit dem politischen Selbstverständnis des Wanderkirchenasyls
zu tun. Erklärtes Ziel war es, eine breite Öffentlichkeit über
die Verhältnisse in der Türkei und über die unerträgliche
Situation von kurdischen Flüchtlingen hier aufzuklären. Im Laufe
der Zeit wurde allerdings deutlich, dass gerade die Kinder dem ständigen
Wechsel von neuer Umgebung und anderen Betreuern nicht gewachsen waren.
Wir sind froh, dass es uns in Aachen gelungen ist, zunächst die Familien
dauerhaft in einzelnen Gemeinden unterzubringen. Mittlerweile sind alle
Flüchtlinge der Aachener Gruppe des Wanderkirchenasyls langfristig
untergebracht.
Neu am Wanderkirchenasyl ist auch die enge
politische Zusammenarbeit zwischen kurdischen Flüchtlingen, evangelischen,
katholischen und außerkirchlichen Gruppierungen. Durch die unterschiedliche
Zusammensetzung der VertreterInnen des Wanderkirchenasyl kommen sehr unterschiedliche
Kompetenzen zusammen, die die Arbeit bisher sehr befruchtet haben. In der
engen Zusammenarbeit von unterschiedlichen Gruppierungen, die getragen
ist von gegenseitigem Re-spekt, liegt u.E. die Stärke des Wanderkirchenasyls.
Ohne sie wäre es uns nicht möglich gewesen, einen solch langen
Atem zu beweisen und trotz vielfältiger Rückschläge immer
wieder aufzuste-hen und weiterzukämpfen.
Was wurde bisher erreicht?
Die ursprünglichen politischen Ziele,
Abschiebestop in die Türkei und ein Ende der Waffenlieferung wurden
zwar nicht aus dem Auge verloren, stehen aber nicht mehr im Vordergrund.
Nach langwierigen politischen Verhandlungen mit dem Landesinnenministerium
haben sich die VertreterInnen des Wanderkirchenasyls unter Vermittlung
von Bündnis 90/Die Grünen schließlich bereit erklärt,
sich auf eine nochmalige angeblich „wohlwollende“ Überprüfung
der Einzelfälle einzulassen. Diese nochmalige Überprüfung
der Einzelfälle hat bisher folgendes ergeben:
Landesweit haben insgesamt 485 Flüchtlinge
im Rahmen des Wanderkirchenasyls Schutz vor Abschiebung gesucht.
-
143 kurdische Flüchtlinge konnten dauerhaft
legalisiert werden, d. h. sie haben ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland
erhalten.
-
233 kurdische Flüchtlinge konnten zumindest
vorübergehend legalisiert werden. Sie haben Duldungen von unter 1
Monat bis zu einem Jahr erhalten und haben damit zumindest vorübergehend
die Möglichkeit, ein halbwegs normales Leben zu führen. Langfristig
ist ihre Zukunft nach wie vor ungewiss.
-
81 kurdische Flüchtlinge halten sich
immer noch oder wieder illegal in Deutschland auf. Ihre Zukunft ist völlig
ungewiss.
-
20 Flüchtlinge sind selbst ausgeschieden,
-
6 Flüchtlinge wurden abgeschoben, unter
ihnen der Sprecher der Aachener Gruppe Hüseyin Calhan
-
2 Personen sind freiwillig in die Türkei
zurückgekehrt.
Für die Aachener Gruppe stellt sich die
aktuelle Situation folgendermaßen dar: Die Aachener Gruppe besteht
aus 6 Familien mit insgesamt 20 Kindern und 7 Einzelpersonen, also insgesamt
38 Flüchtlingen.
-
2 Familien haben ein dauerhaftes Bleiberecht
erhalten, bei einer dritten Familie warten wir darauf dass das positive
Gerichtsurteil rechtskräftig wird. Dann erhöht sich die Zahl
auf drei Familien mit insgesamt 10 Personen.
-
2 Einzelpersonen sind vom Verwaltungsgericht
ebenfalls als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention
anerkannt worden, allerdings hat der Bundesbeauftragte dagegen Einspruch
erhoben, so dass hier erneut die Gerichte befinden müssen. Die beiden
haben bis dahin eine Duldung erhalten.
-
1 Familie mit insgesamt 4 Personen, sowie
ein Alleinstehender haben eine Duldung aus medizinischen Gründen erhalten.
Sie halten sich seither zumindest vorübergehend wieder legal in Deutschland
auf.
-
2 weitere Einzelpersonen und ein Familienvater
haben eine Duldung erhalten, einer von ihnen steht kurz davor, erneut in
die „Illegalität“ abzurutschen,
-
13 Personen halten sich immer noch illegal
hier auf, darunter eine 10 köpfige Familie, eine Mutter mit Kind -
der Vater hat eine Duldung- und eine Einzelperson
-
1, Hüseyin Calhan, wurde bereits abgeschoben.
Drei
Jahre Wanderkirchenasyl – eine Zwischenbilanz
1. Drei Jahre Wanderkirchenasyl sind
sicher auch ein Grund zum Feiern!
Durch das Wanderkirchenasyl ist es gelungen,
drei Jahre lang bedrohte kurdische Flüchtlinge vor ihrer Abschiebung
in die Türkei zu schützen. Für 143 von ihnen konnte sogar
ein dauerhaftes Bleiberecht erwirkt werden. Dies ist sicher ein Grund zum
Feiern, auch wenn die ursprünglich viel weiter gesteckten Ziele nicht
erreicht werden konnten. Durch das Wanderkirchenasyl ist viel in Bewegung
geraten, sowohl innerkirchlich als auch gesellschaftlich. Auch wenn das
Wanderkirchenasyl innerkirchlich umstritten ist, so hat es die Diskussion
um Kirchenasyl und die politische Verantwortung von Kirche innerkirchlich
neu belebt und intensiviert.
Gesellschaftlich hat es den Blick auf ein
inhumanes Asylrecht geschärft und eine breite Welle der Solidarität
ausgelöst. Diese wurde besonders offensichtlich im Kampf gegen die
Abschiebung von Hüseyin Calhan. Sie zeigt sich aber auch still im
Alltag von drei Jahren Wanderkirchenasyl. Ohne die ständigen privaten
Spenden, und ohne das beispiellose Engagement unzähliger ehrenamtlicher
UnterstützerInnen, wäre es nicht möglich gewesen, einen
derart langen Atem zu beweisen und seit nunmehr drei Jahren vehement für
ein Bleiberecht für die kurdischen Flüchtlinge zu kämpfen.
Allen, die das Wanderkirchenasyl im Laufe der letzten drei Jahre unterstützt
haben, gilt unser herzlicher Dank!
2. Drei Jahre Wanderkirchenasyl sind
genug! Es ist Zeit für eine humanitäre Lösung für die
Flüchtlinge im Wanderkirchenasyl!
Besonders dramatisch wirkt sich die prekäre
Lebenssituation für die Kinder im Wanderkirchenasyl aus. Von den insgesamt
233 Personen, die sich illegal oder mit ungewisser Zukunft in Deutschland
aufhalten, sind 143 Kinder, 31 von ihnen leben nach wie vor in der Illegalität.
Langzeitstudien mit traumatisierten Kindern
zeigen sehr deutlich die Bedeutung des Exils für die seelische Entwicklung
der Kinder. Die Studien belegen, dass schwere Traumatisierungen durch Verfolgung
und Gewalterlebnisse durch haltende, schützende und nährende
Umweltbedingungen zurückgehen können. Bei den 143 Kindern im
Wanderkirchenasyl kann von derartig stabilisierenden Lebensbedingungen
keine Rede sein. Ohnmächtig erleben die Kinder hautnah tagtäglich
die permanente Verunsicherung, die allgegenwärtige Angst, die tiefe
Depression und Verzweiflung bis hin zu Suizidgedanken ihrer Eltern. Sie
erleben noch einmal die Angst vor Verfolgung, die sie bereits in ihrer
Heimat erleben mussten. Damals, hatten die Verfolger Namen und Gesichter,
heute ist es die Angst vor Abschiebung in eine lebensbedrohliche Zukunft,
die ihnen ein angstfreies, normales Leben unmöglich macht. Durch die
prekären Lebensumstände im Exil werden die Kinder (und ihre Eltern)
erneut traumatisiert. Sie verlieren die Sicherheit, sie selbst sein zu
dürfen und werden zu zerstörten Erwachsenen.
Aus den Erfahrungen mit drei Jahren Wanderkirchenasyl
wissen wir, dass niemand ohne Not die Belastungen des Kirchenasyls auf
sich nimmt. Wer eine Alternative für sich und seine Familie sieht,
wählt diese. Bisher sind lediglich zwei Personen freiwillig in die
Türkei zurückgekehrt. Alle anderen, die nicht wissen, wo in dieser
Welt sie mit ihren Familien einen sicheren Platz zum Leben finden, ziehen
es vor, die unsagbaren Strapazen des Kirchenasyls auf sich zu nehmen.
Drei Jahre Wanderkirchenasyl
sind genug! Es ist höchste Zeit für eine humanitäre Lösung!
Wir appellieren an das Landesinnenministerium, dem Leiden der bedrohten
Flüchtlinge ein Ende zu bereiten und ihnen ein Bleiberecht aus humanitären
Gründen zu erteilen. |