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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Eckpunkt - Manuskript
Nach
dem 11. September
Stimmen der kritischen Reflexion, zumal aus Amerika
Zusammengestellt und mit Zwischenbemerkungen versehen
Autor:Claudia Wolff
Redaktion: Nadja Odeh
Regie:-
Sendung: Freitag, 28.09.2001, 10.05 Uhr, SWR2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten
Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung
bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Nach dem 11. September
Stimmen der kritischen Reflexion, zumal aus Amerika
Zusammengestellt und mit Zwischenbemerkungen versehen
von Claudia Wolff
Zitator:
Lasst uns gemeinsam trauern. Aber lasst nicht zu, dass wir uns gemeinsam
der Dummheit ergeben.
Claudia Wolff
Am 11. September 2001 hält sich die amerikanische Schriftstellerin
Susan Sontag in Berlin auf. Fernsehend, wie wir alle. Während in
Deutschland noch kaum jemand wagt, aus den Betroffenheitsritualen emporzutauchen
und et-was wie Reflexion zu riskieren, ist Susan Sontag offenbar außerstande,
den in-tellektuellen Ekel, der sie ergreift, für sich zu behalten.
Ekel angesichts der patriotischen Einstimmigkeit von Politikern und
Kommentatoren in den ersten Stunden und Tagen.
Susan Sontag redet in Berlin, die FAZ druckt den Text, zwei Tage später
steht er auch im New Yorker.
Zitator:
"Die Stimmen, die zuständig sind, wenn es gilt, ein solches
Ereignis zu kom-mentieren, schienen sich zu einer Kampagne verschworen
zu haben. Ihr Ziel: die Öffentlichkeit noch mehr zu verdummen.
Wo ist das Eingeständnis, dass es sich nicht um einen "feigen"
Angriff auf die "Zivilisation", die "Freiheit",
die "Menschlichkeit" oder die "freie Welt" gehan-delt
hat, sondern um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, die einzige
selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als Konsequenz
der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten unternommen
wurde? Wie vielen Amerikanern ist bewusst, dass die Amerikaner immer
noch Bomben auf den Irak werfen? Und wenn man das Wort "feige"
in den Mund nimmt, dann sollte es besser auf jene angewandt werden,
die Vergeltungs-schläge aus dem Himmel ausführen, und nicht
auf jene, die bereit sind, selbst zu sterben, um andere zu töten."
Claudia Wolff
Einige meiner deutschen Freund fanden es unerhört, maßlos,
den Betroffen-heits-Konsens so früh zu sprengen, mit dieser so
wütenden wie verzweifelten Rede dazwischenzufahren, noch dazu in
Berlin, der Hauptstadt der deutschen Dankbarkeit. Tatsächlich war,
was Susan Sontag tat, nichts anderes, als ohne Verzögerung den
Gebrauch der Freiheit weiterhin zu üben, um derentwillen, wie auf
allen Kanälen zu hören ist, der Feldzug gegen den Terrorismus
geführt werden muss.
Zitator:
Früher haben wir die einstimmig beklatschten und selbstgerechten
Platitüden sowjetischer Parteitage verachtet. Die Einstimmigkeit
der frömmlerischen, re-alitätsverzerrenden Rhetorik . . .
ist einer Demokratie unwürdig.
Susan Sontag, Amerikanerin
Claudia Wolff:
Heute seien wir alle Amerikaner, sagte der Fraktionsvorsitzende der
SPD, Pe-ter Struck, am 12. September im Deutschen Bundestag. Inzwischen
haben wir dankbar erfahren dürfen, dass wir, zu Amerikanern ernannt,
immer noch eine Wahl haben. In unserer Eigenschaft als Amerikaner müssen
wir nicht un-bedingt George W. Bush oder Dick Cheney oder Billy Graham
sein.
Wir können auch Susan Sontag sein. Wir können auch Richard
Rorty sein, der, wie der Soziologe Richard Sennett, die Wiederbelebung
einer Mentalität fürch-tet, die ins Desaster von Vietnam geführt
hat.
Zitator:
Der John-Wayne-Machismo, der uns dazu brachte, weiterhin Menschen in
Vietnam zu töten, obwohl wir längst wussten, dass wir diesen
Krieg nicht ge-winnen können, beherrscht nach wie vor die Politik
in Washington. Dort nennt man es feste Entschlossenheit.
Claudia Wolff
Richard Rorty, Literaturwissenschaftler in Stanford. Es gibt also verschiedene
Möglichkeiten, Amerikaner zu sein, auch wenn jetzt, heißt
es, 90% aller Ame-rikaner nichts mehr auszusetzen haben an ihrem Präsidenten.
Vorläufig nichts mehr.
"Das" amerikanische Volk ist gleichwohl eine Fiktion. Wie
"das" deutsche Volk. Wie "die" islamische Welt.
Wie "die" zivilisierte Welt.
Zitator:
Allzu schnell ist die Idee bei der Hand, nicht nur die Terroristen seien
Barba-ren, sondern alle, die etwas gegen Amerika haben. Wer diesem Impuls
wider-stehen will, muss zugleich zur Verdammung von Terror fähig
sein wie dazu, den Unterschied zwischen Terroristen und den Menschen
zu erkennen, die deren Gewalttaten hier und da gefeiert haben. Diesen
Unterschied zu begrei-fen, bedeutet nicht, den Terror weniger zu verabscheuen.
Es bedeutet, Ab-scheu überhaupt erst wirksam zu machen - nicht
nur zur Vergeltung, sondern auch zur Vorbeugung.
Claudia Wolff
Jedediah Purdy, Fellow der New America Foundation in Washington DC.
Ein Amerikaner auch er; wie zehntausende "No War"-Demonstranten
auf den Straßen und im Internet.
Die zivilisierte
Welt.
Aus den ersten Tagen, es war vom Krieg gegen "die" zivilisierte
Welt die Rede, ist deutschen Fernsehzuschauern das Wort "fassungslos"
in Erinnerung geblieben. Kommentatoren und Politiker beschrieben mit
diesem Wort ihren Zustand, das von den Medien befragte Publikum schloss
sich an. Die Fas-sungslosigkeit galt, außer dem unglaublichen
Umstand, dass die Attentate hatten gelingen können, vor allem der
Skrupellosigkeit der Täter. Unmöglich sei es zu verstehen,
wie Menschen so etwas tun könnten, nämlich unschuldige Menschen
massenhaft zu töten. Vollkommen unbegreiflich sei, was in den Köpfen
solcher Täter wohl vorgehe. Nicht die geringste Vorstellung, -
nein, nicht die geringste könne man vom inneren Wesen solcher zum
Massenmord bereiter Menschen sich machen.
So sprachen Leute in Deutschland.
Sie sprachen als Angehörige einer Zivilisation, von der sie zu
glauben schie-nen, dass in ihr dergleichen nicht vorstellbar sei. Sie
sprachen als Angehörige unserer Zivilisation, welche die Atomraketen,
Massenvernichtungswaffen, die sie erfunden hat und immer noch in Bereitschaft
hält, bis jetzt überlebte. Massenvernichtungswaffen, die unsere
Zivilisation nur im äußersten Notfall natürlich gezündet
hätte.
Dunkel erinnern wir uns an Wörter, mit denen unsere Zivilisation
ganz selbst-verständlich umging, jahrzehntelang: "Erstschlagskapazität".
"Zweitschlags-kapazität". "Overkill-Kapazität".
Vermutlich standen diese Kapazitäten in einem exakt berechneten
Verhältnis zur Schuld und Unschuld der Zivilisten, die sie im Ernst-
oder Zufall getroffen hätten. Ganz gewiss standen diese Kapazitäten
auch in einem exakt berech-neten Verhältnis zu unserem Wertesystem,
dessen Verteidigung sie aus-schließlich dienten, so dass unser
Wertesystem auch dann hätte standhalten können, wenn es nach
Hiroshima zu einem zweiten Not- oder Zufall gekom-men wäre, gegen
den das Desaster von Manhattan -- diesen Satz will ich aus Pietätsgründen
nicht zu Ende bringen.
Im Feuilleton der
FAZ wird der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld gefragt,
ob der Terrorismus die Krankheit des 21. Jahrhunderts sein werde, ohne
Aussicht auf Heilung.
Zitator:
Ganz gewiss. Aber vielleicht ist das ja auch besser als die Krankheit
des 20. Jahrhunderts, mit Totalitarismus, zwei Weltkriegen und ungefähr
70 Millionen Toten. Man soll ein bisschen diese Perspektive im Auge
behalten.
Claudia Wolff
Relativierung.
Relativieren heißt: in Beziehung setzen. Eine Sache zu einer anderen
Sache.
In der ZEIT, der ersten Ausgabe nach den Attentaten, schreibt der Mitheraus-geber
Josef Joffe, Verbrechen wie die vom 11. September entheiligen jeden
Zweck. Wer wollte ihm da widersprechen.
Aber wenn das Verbrechen auch jeden Zweck entheiligt, jedes Motiv diskredi-tiert,
das ihm zugrundegelegen haben könnte -- könnte -- so stellt
sich alsbald die Frage, ob deshalb ein Umkehrschluss gerechtfertigt
sei: nämlich, dass ein Verbrechen, dass jeden seiner mutmaßlichen
Zwecke entheiligt, schon des-halb das Handeln der Weltmacht heiligt,
das frühere, gegenwärtige und zu-künftige Handeln der
Weltmacht, die das Verbrechen ins Zentrum getroffen hat. In den ersten
Stunden und Tagen schienen Politiker und Kommentatoren dem Publikum
genau dieses bedeuten zu wollen. Als sei es die furchtbarste Schändung
der Pietät, Aufkündigung des Mitgefühls mit den Opfern,
Verlet-zung der Abscheu-Pflicht, wenn man darüber nachzudenken
begänne, wie die in anderen Weltteilen grassierenden amerikafeindlichen
Stimmungen mit dem politischen Handeln der Weltmacht möglicherweise
- möglicherweise ! zu-sammenhingen.
Allerdings gelang es diesen Politiker und Kommentatoren nicht, das Denken
auszuschalten zugunsten der Abscheupflicht, auch nicht, schon gar nicht
das Denken von Amerikanern. Vier Tage nach den Anschlägen druckte
der Spiegel ein Interview mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler,
Asien-Experten Chalmers Johnson. Die Völker, die Amerika hassten,
sagt Johnson da, ohne jede Rhetorik des Abmilderns, die Völker,
die Amerika hassten, hätten leider ein Motiv.
Zitator:
Die USA dehnen ihre Macht bis in den letzten Winkel der Erde aus und
zwin-gen entlegenen Völkern ihr Wirtschaftssystem auf. Ohne Rücksicht
auf Schä-den, die sie damit anrichten ...
Ich fürchte, die amerikanische Öffentlichkeit wird aus dieser
Katastrophe die falschen Schlüsse ziehen . . .
Sie wird eine Militarisierung des öffentlichen Lebens verlangen.
Sie wird von der Politik verlangen, dass sie noch mehr Gewalt gegen
Leute anwendet, die uns hassen und die wegen unserer globalen Hegemonialpolitik
auch Grund haben, uns zu hassen.
Claudia Wolff
Terrorismus sei die Waffe der Schwachen.
Chalmers Johnson, das müssen wir an dieser Stelle ein wenig pointieren,
hat seine Erfahrungen nicht in einer deutschen sozialtherapeutischen
Anstalt oder Dritt-Welt-Gruppe gesammelt, sondern als langjähriger
Berater der CIA.
Pointieren wollen wir das deshalb, weil es auch jetzt wieder die üblichen
pub-lizistischen Präventivschläge gab und gibt: gegen die
berüchtigte deutsche Harmlosigkeit, Friedensseligkeit, Mainzelmännchen-Mentalität,
Ernstfall-scheu, gegen den seit dem Golfkrieg unter verschärftem
Verdacht stehenden deutschen "Anti-Amerikanismus". Noch eh
etwas Deutsch-Kritisches sich nennenswert hatte rühren können,
sagte Henryk Broder drohend voraus, in-dem er die alte Golfkriegsdebattenfront
routiniert wieder aufmachte, dass eu-ropäische, insonderheit deutsche
Intellektuelle den Terrorismus nun leider wieder verstehen, also verharmlosen
würden. Auch Josef Joffe, wenn er im Presseclub vom Bösen
sprach, das keine Begründung außer ihm selber kenne -- auch
Josef Joffe wollte die "sozialtherapeutische" Mentalität
der Deutschen offenbar attackieren, als er sich zu der Bemerkung hinreißen
ließ, mit dem Verstehen beginne das Exkulpieren schon.
Diese Gleichsetzung von Verstehen und Exkulpieren, törichte Gleichsetzung,
weil sie das Ende von Politik bedeutet--
diese Gleichsetzung wälzte und wälzt sich zäh durch einige
Talkshows. Alfred Biolek zum Exempel scheint intellektuell außerstande
zu sein, die Differenz zwischen politischer Analyse und Verharmlosung
des Verbrechens zu verste-hen, die vergebliche Mühe des Kollegen
Roger Willemsen, ihm diese Differenz zu erklären, lässt für
den jetzt viel beschworenen Dialog der Kulturen das Al-lerschlimmste
befürchten -- wenn schon der Dialog zwischen der Biolek-Kultur
und der Willemsen-Kultur so dramatisch danebengeht.
Im ZDF spricht Otto Graf Lambsdorff hoch verächtlich über
führende deut-sche Feuilletons, weil da jetzt tatsächlich
amerika-kritische Töne laut würden -- dies zu einem Zeitpunkt,
da die Feuilletons das deutsche Publikum mit ame-rikanischen, französischen,
britischen, italienischen, portugiesischen, latein-amerikanischen Stimmen
bekannt machen.
Die Fixierung auf deutsche Naivität, deutschen Anti-Amerikanismus
geht diesmal grotesk daneben.
Gewiss gibt es die tatsächlich "antiamerikanischen" Affekte
alter und neuer Nazis, die den Amerikanern die Installierung der deutschen
Demokratie nicht verzeihen, gibt es den notorischen Amerika-Hass antisemitisch-völkischer
Ge-fühlsgemeinschaften: aber die peinliche Existenz dieser Milieus
sollte nicht als Vorwand dienen, blinde Akklamation amerikanischer Politik
zu einer deut-schen Pflicht zu erklären.
Zitator:
Jacques Derrida, französischer Philosoph, am 23. September in Frankfurt,
den Theodor W. Adorno Preis entgegennehmend:
Mein unbedingtes
Mitgefühl, das den Opfern des 11. September gilt, hindert mich
nicht, es auszusprechen: Ich glaube angesichts dieses Verbrechens an
die politische Unschuld von niemandem. Und wenn mein Mitgefühl,
das allen unschuldigen Opfern gilt, grenzenlos ist, dann deshalb, weil
es auch bei de-nen nicht endet, die am 11. September in den Vereinigten
Staaten den Tod gefunden haben. Das ist meine Interpretation dessen,
was jene Gerechtigkeit sein müsste, die der vom Weißen Haus
ausgegebenen Parole zufolge, seit ei-nigen Tagen "grenzenlose Gerechtigkeit"
heißt: von den eigenen Fehlern, dem eigenen Unrecht, den Irrtümern
der eigenen Politik sich nicht freisprechen, und sei es auch in dem
Augenblick, da man den furchtbarsten Preis für sie zahlt.
Claudia Wolff:
Der amerikanische Präsident, dem Weltbild des Feindes sich gewachsen
zei-gend, hatte in seiner ersten Rede vom Monumentalen Kampf zwischen
Gut und Böse gesprochen, der nun bevorstehe.
Da musste man sich daran erinnern, dass es sich mit dem Bösen nicht
un-kompliziert verhält.
Denn das Böse, darin liegt seine besondere Heimtücke, befindet
sich auf einer schwer vorherzuberechnenden Wanderschaft.
In den Hochzeiten unserer zivilisierten Erst- und Zweitschlagskapazität
befand sich die Zentrale des Bösen bekanntlich in Moskau. Bin Laden,
ein Jüngling noch, war gegen dieses Böse in Afghanistan tätig,
als Feind der Feinde des Guten also. Weshalb der im Dienste des Guten
stehende Geheimdienst diesen Bin Laden und dessen Kämpfer naturgemäß
aus- und aufgerüstet hat, ohne zu untersuchen, ob deren tief inneres
Begehren mit "unserer Zivilisation" kompatibel sei. Dass dann
das Böse, Ende der Achtzigerjahre vorübergehend heimatlos
geworden, die neuen Wirte ausgerechnet da suchte und fand - - Bin Laden,
Saddam Hussein-, wo das Gute noch gestern den Feind des Feindes selbstlos
ausgerüstet hatte -- das ist eine Machenschaft des Bösen,
die be-weist, dass das Böse das Böse ist.
Auch im Kaukasus hat das Böse eine dieser unvorhersehbaren Volten
ge-schlagen. Gestern noch eher in der russischen Armee inkarniert, die
das nach Unabhängigkeit dürstende tschetschenische Volk malträtierte,
ist das Böse heute offenbar ausschließlich in der tschetschenischen
Rebellion anzutreffen, die dem auszurottenden internationalen Terrorismus
zugehört --
seit der bewährte Geheimdienstmann Putin die enge Verbundenheit
auch der russischen Armee mit "unserer Zivilisation" so ergreifend
bekundet hat.
Irgendwann, das ist angesichts der bewährten Heimtücke des
Bösen zu be-fürchten -- irgendwann wird das Böse wiederum
eine Volte schlagen und Segmente der Weltkoalition infiltrieren, die
das Imperium jetzt zum Endkampf gegen das Böse zusammenschweißt.
Indessen erinnert sich der chilenische Schriftsteller Ariel Dorfmann
einer lang vergangenen Zeit, da das Böse in Santiago ausgerottet
werden musste, unter tätiger Beihilfe eines Geheimdienstes, der
auch damals die Macht des Guten repräsentierte.
Zitator:
Seit 28 Jahren ist der 11. September für mich und Millionen anderer
Men-schen ein Trauertag. An diesem Tag, auch einem Dienstag, im Jahr
1973 verlor Chile durch einen Militärputsch seine Demokratie, an
diesem Tag trat der Tod unwiderruflich in unser Leben und lenkte es
aus seiner Bahn. Jetzt, fast drei Jahrzehnte später, haben die
bösen Götter des historischen Zufalls diesen traurigen Tag
einem anderen Land zugeteilt, wieder war es Dienstag, wieder brachte
der 11. September den Tod . . .
Eine Möglichkeit für die Nordamerikaner, das Trauma zu überwinden
und trotz der Angst und plötzlichen Unsicherheit weiterzuleben,
liegt darin, zu be-greifen, dass ihr Leiden nicht einzigartig und nicht
exklusiv ist. Wenn sie be-reit sind, sich in dem immens großen
Spiegel der Menschheit zu sehen, dann sind sie mit denen verbunden,
die in anderen Breitengraden ähnliche Situati-onen unerwarteter
Gewalt erlitten haben.
Claudia Wolff:
Das Datum des 11. September schreibt Dorfmann, könnte für
die Nordameri-kaner eine symbolische Qualität annehmen --
Zitator:
Jetzt wo sie am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, Opfer zu sein,
jetzt, wo sie sich klar werden, was es heißt, Tausende Vermisste
zu haben, jetzt werden sie die vielen über den Globus verstreuten
Varianten des 11. Septem-ber, das ähnliche Leiden, das so viele
Völker und Länder teilen, besser verste-hen können.
Claudia Wolff:
Erlösungsphantasie.
Dagegen zitiert der in Pakistan geborenen, in London lebende Schriftsteller
und Journalist Tariq Ali den persönlichen Berater von Tony Blair,
den Diplo-maten Robert Cooper, der empfohlen hat, sich daran zu gewöhnen,
dass, je nach Interessenslage, unterschiedliche Maßstäbe
gelten. Tariq Ali kommen-tiert:
Zitator:
Die Maxime, der dieser Zynismus huldigt, lautet:
Wir werden die Verbrechen unserer Feinde bestrafen und die Verbrechen
un-serer Freunde belohnen. Ist das denn nicht besser als eine allgemeine
Straflo-sigkeit?
Darauf gibt es eine einfache Antwort: Straft man nach diesem Prinzip,
dann wehrt man nicht dem Verbrechen, man nährt es. Der Golfkrieg
und der Bal-kankrieg waren Schulbeispiele für die moralischen Blanko-
Schecks, die sich ein selektiv zuschlagender Weltpolizist ausstellt.
Israel kann Resolutionen der UNO ungestraft ignorieren, Indien kann
Kaschmir tyrannisieren, Russland kann Grosny verwüsten, aber der
Irak ist es, der bestraft werden muß, und die Palästinenser
sind es, die weiter leiden...
Den Opfern des Angriffs und ihren Angehörigen gehört unser
tiefes Mitgefühl, wie es jenen Menschen gehört, welche die
Regierung der Vereinigten Staaten zu Opfern hat werden lassen. Aber
zuzustimmen, dass auf irgendeine Art und Weise ein amerikanisches Leben
mehr wert sein soll als das eines Ruanders, eines Jugoslawen, eines
Vietnamesen, eines Koreaners, eines Japaners, eines Palästinensers
- das ist inakzeptabel.
Tariq Ali, geboren
in Pakistan, jetzt in Großbritannien lebend.
Claudia Wolff:
Bilder. Amerikanische Bilder.
Oft genug haben die Zuschauer, die am Fernsehen hingen, staunend erzähl,
dass sie alle Katastrophen-Bilder und Szenen schon kannten, bis ins
letzte Detail: aus dem amerikanischen Kino, aus der populären amerikanischen
Li-teratur. Und wie es ihnen anfangs unmöglich schien, zwischen
Fiktion und Realität zu unterscheiden.
Die Katastrophen-Phantasie, von der Angst und vom Begehren gleichermaßen
gezeichnet, das Szenario des Großverbrechens beherrscht die alten
und neu-en Medien der Pop-Kultur, stammt aus dem jetzt so viel zitierten
Herzen der amerikanischen Zivilisation. Nach den Kriterien des amerikanischen
Zivil-rechts, das von der Produkthaftung, des Anspruchs auf Schadensersatz
quer durch alle Lebensbereiche geradezu besessen ist, könnte man
von "Inspirati-on" zum mindesten reden. Noch hat keine Assoziation
von Staranwälten der Sache sich angenommen.
Aber Hollywood ist gelähmt, Premieren werden abgesagt. Man weiß
nicht, was für Bilder das Publikum in Zukunft noch sehen will.
Was für amerikanische Bilder.
Amerikanische Bilder,
nicht die von der Katastrophe nur, sondern Bilder von Schönheit,
Glück, Luxus und grenzenloser Freiheit: das Marketing der Globa-lisierung.
In einem Essay, den die "Zeit" gedruckt hat, reflektiert der
junge Amerikaner Jedediah Purdy die Macht dieser Bilder - ihre Wirkung
auf die, deren Begeh-ren sie wecken, zugleich aber das Gefühl des
Ausgeschlossenseins unendlich verstärkend.
Zitator:
Was Amerikaner Globalisierung nennen und sich als selbstverständlichen
Pro-zess ökonomischer und kultureller Integration vorstellen, erscheint
vielen Menschen anderswo als imperiale Herrschaft. Eine der Grundlagen
dieser Herrschaft ist die Macht, die Prinzipien zu bestimmen, nach denen
andere sich ausrichten müssen, wenn sie nicht aus der Weltwirtschaft
herausfallen wollen. Die andere Grundlage amerikanischer Herrschaft
ist die Fähigkeit, Be-gierden zu beeinflussen. Bilder amerikanischen
Wohlstands und amerikani-scher Schönheit wirken weltweit auf die
Wünsche der Menschen ein. Der Bör-senhändler aus Manhattan
und der junge Mann von der Westbank - beide tra-gen dieselbe Baseballmütze
mit dem Logo von Nike.
Diese Art von Macht löst das stärkste Ressentiment überhaupt
aus. Denn Menschen, die sich von ihr angezogen fühlen, werden zugleich
auf ambivalen-te Weise in sie verwickelt. Keinem wird der freie Weltmarkt
direkt aufgezwun-gen. Er erwächst aus dem Einverständnis von
Regierungen und Individuen, die meinen, über keine Alternative
zu verfügen. Die globalisierte Sehnsucht durchwirkt die Menschen
überall, sie beeinflusst ihre Begierden und Sichtwei-sen...
Die globalisierte Sehnsucht ist ein fremdes und ein eigenes Gefühl
in einem; sie wieder loszuwerden ist unmöglich. Was auf diese Weise
die Vorlieben und Sehnsüchte penetriert, wird gleichzeitig begrüßt
und abgelehnt. Es ist diese Mischung aus Faszination und Verbitterung,
mit der große Teile der Welt heu-te auf Amerika blicken.
Noch in den ärmsten Slums von Asien, Afrika und Lateinamerika versammeln
sich Familien und Nachbarn heute vor flimmernden Fernsehgeräten,
um Bil-der von Wohlstand und Genuss zu betrachten, die selbst in den
Vereinigten Staaten für die meisten Menschen exotisch sind...
Wir leben in einer Welt, die mit einer Hand Sehnsüchte sät
und diese mit der anderen Hand wieder zerstört. Daraus erwächst
der Groll der Slums und Flüchtlinge. Er erklärt, warum viele
Menschen Amerika zugleich lieben und hassen. Das mag den Angriff auf
Amerika nicht ausgelöst haben. Aber es schafft die Bedingungen
dafür, dass er nicht der letzte gewesen sein wird.
Claudia Wolff:
Verstehen heißt nicht exkulpieren, auch wenn der französische
Philosoph A-lain Finkielkraut dies gestern in der FAZ wieder dekretiert
hat. Jedediah Purdy beschreibt die Entstehung antiamerikanischer Ressentiments,
oder einer Spielart derselben, ohne diese Ressentiments für unschuldig
zu erklären - und die amerikanische Zivilisation für ganz
allein schuldig - das wäre die Um-kehrung des manichäischen
Weltbilds, von dem die Rhetorik des amerikani-schen Präsidenten
zeugt.
Purdy also noch
einmal:
Zitator:
Amerika verkörpert die Globalisierung. Solange diese nicht nur
Gewinner her-vorbringt, sondern auch Verlierer, wird dieses Land die
Hauptlast der Reakti-on gegen diesen Prozess tragen. Daraus folgt, dass
Amerika und seine Alliier-ten den Wandel nach zivilisatorischen Regeln
organisieren müssen, die es wert sind, befolgt zu werden. Diese
Einsicht formulierte 1947 General George C. Marshall, der Vater des
Marshallplanes, als er erklärte, dass sich die ame-rikanische Politik
"nicht gegen irgendein Land oder eine Doktrin" richten dür-fe,
sondern "gegen Hunger, Armut, Hoffnungslosigkeit und Chaos".
Claudia Wolff:
Erlösungsversprechen? Es gibt keins.
Wer sich durch Berge von Deutungen, Mutmaßungen, Spekulationen
durchge-kämpft hat, die der internationale Experten- und Intellektuellen-Pool
auswirft, der wird zu der Auffassung neigen, dass die militärische
Reaktion, was immer wir darüber erfahren werden, am wenigsten Dämpfung
verspricht. Dass die kritische Reflexion der Globalisierung, wie sie
Purdy vorträgt, viel näher an der Wirklichkeit ist. Aber auch
diese Reflexion hat keine Rezepte, deren Wir-kung sie absolut sicher
vorhersagen kann. Man entscheidet sich für eine Hypothese, für
eine Aussicht, für eine Hoffnung. Mehr ist nicht möglich.
Mit
freundlicher Genehmigung des SWR2
Lesen Sie vielleicht
auch noch dazu den Artikel von Robert Kurz: Totalitäre
Ökonomie und Paranoia des Terrors. Oder eine Predigt: Dem
Bösen widerstehen?
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Leben«!
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